Für Politiker auf der Anklagebank gibt es selten Gnade. Dafür sorgen nicht zuletzt Medien und Partei-„Freunde“. Benyamin Netanyahu wird es nicht anders ergehen. Der Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit, einst Netanyahus enger Rechtsberater, hat es vor laufender Kamera sichtlich bewegt zum Ausdruck gebracht: „es ist ein trauriger Tag für Israel, ich sage es schweren Herzens, aber aus voller Überzeugung – der Staat Israel klagt gegen Netanyahu“. Er wird wegen dreier Fälle der Bestechung, des Betrugs und der Untreue vor einem Richter stehen. Große Staatsmänner stürzen nicht selten wegen Petitessen. Aber der Rechtsstaat kennt nur Unschuld oder Schuld. Im Fall Netanyahu gibt es zu viele Beweise und Zeugen.
Fall 1, der in der Anklageschrift „Fall 4000“ heisst, wirft dem amtierenden Ministerpräsidenten vor, einem Kommunikationsunternehmer finanzielle Vorteile in Millionenhöhe verschafft und im Gegenzug positive Berichterstattung in einem vielgelesenen hausinternen „social-media“-Dienst bekommen zu haben.
Im zweiten Fall hat Netanyahu der Anklageschrift zufolge französische Champagner-Lieferungen und wertvolle kubanische Zigarrenkisten von zwei jüdischen US-Bürgern über einen längeren Zeitraum regelmäßig angenommen. Dafür hätten die prominenten Herren Milliardäre Visa-Vorteile genutzt.
Und im dritten Fall wird dem inzwischen am längsten amtierenden Ministerpräsidenten in der Geschichte des modernen Israel zur Last gelegt, mit einem Zeitungsverleger einen Deal verabredet zu haben: Du berichtest gut über mich und ich halte Dir die Konkurrenz vom Leib. Der Deal kam nie zustande, aber allein der Versuch ist strafbar.
Netanyahu bestreitet alles und spricht von einem „Putschversuch“. Vielleicht ist sogar politisch etwas dran an dem Putschversuch, aber die Beweis- und Zeugenlage spricht gegen den Angeklagten. Die Zeugen sind keine vorbildlichen Saubermänner, aber sie bezeugen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Likud-Partei in dem sich abzeichnenden Wahlkampf einen Spitzenkandidaten plakatiert, der auf der Anklagebank sitzt.
Die schlechte Nachricht: Netanyahu wird gehen müssen. Die gute Nachricht: Israel ist ein Rechtsstaat, der einzige im Nahen Osten. Würde dieser Maßstab des Rechts in allen Nachbarländer Israels angelegt werden, wäre der Nahe Osten ohne Führung.
Staatslenker, die über eine Dekade demokratisch ins Amt gewählt werden, verlieren nicht selten die Bodenhaftung. Das Mahatma-Ghandi-Gen der Zurückhaltung und Bescheidenheit ist bei Netanyahu nicht besonders ausgeprägt. Zu den Stärken seiner Ehefrau Sara, vom Volk liebevoll-ablehnend „Sarale“ genannt, gehört es sicherlich nicht, ihrem Ehemann ab und zu eine Kopfwäsche der Ernüchterung zu verabreichen. Dem Staatslenker eines jungen Winziglandes am Westrand Asiens, der fast täglich mit den Weltführern Donald Trump und Wladimir Putin telefoniert, Indiens Ministerpräsident Hodi zu seinen Freunden zählt, von China und vielen südamerikanischen und afrikanischen Ländern durchaus respektiert wird, sind Petitessen lästig. Verstoßen diese vermeintlichen Kleinigkeiten gegen geltendes Recht, werden sie zu politisch-tödlichen Fallstricken. Nicht wenige verdiente Staatsmänner von Winston Churchill bis Helmut Kohl mussten wegen geringfügigerer Delikte ihren Hut nehmen oder wurden letztlich abgewählt.
Netanyahu wird als ein Großer seines Landes in die Geschichte eingehen. Er hat sein Land sicherer gemacht, den Terror eingedämmt und damit große Kriege verhindert. Anfang dieses Jahrhunderts beklagte Israel alljährlich bis zu 400 Terroropfer und hunderte Verletzte. 2019: 20. In seiner Amtszeit hat sich das Bruttosozialprodukt auf 370 Milliarden US-Dollar fast verdoppelt, das Land meldet Vollbeschäftigung. Die Start-up-Nation ist auch Dank Netanyahu zum begehrten Technologie-Partner von Google bis Huawei gediehen. Bibi – wie ihn Freund und Feind gerne nennen – pflegt staatsmännische Kommunikation nicht nur mit Partnern auf Augenhöhe, sondern hat Tür und Tor in den arabischen, ölreichen Staaten von Saudi-Arabien über Oman bis UAE geöffnet. Die Aufgeklärten und Gebildeten dieser Länder haben längst erkannt, dass Israel ein wichtiger, unvermeidbarer Nachbar für die Zukunft des Nahen Ostens ist. Der Handel mit ihnen in manchen Nischen blüht. Aus dieser Ecke weht ein laues Lüftchen der Hoffnung zumindest auf Verständigung und gegenseitigen Respekt.
Netanyahus erzwungene, nahende Pensionierung ist ein weiteres Zeichen für einen möglichen fundamentalen Umbruch im Nahen Osten. Sein 83jähriger Gegner auf der palästinensischen Seite bewegt sich in großen Schritten ebenfalls auf einen Ruhestand mit politischem Druck zu. Der auf vier Jahre gewählte Mahmoud Abbas befindet sich unrechtmäßig und selbstherrlich in seinem 15. Dienstjahr. Aktuellen Umfragen aus Ramallah zufolge wird er von 95 Prozent der Palästinenser nicht nur wegen seines korrupten Führungsstils abgelehnt. Im Iran halten die Unruhen gegen das Mullah-Regime mit inzwischen über 100 Toten in den Strassen von Teheran an. Im Gazastreifen kämpfen Hamas und Islam-Jihad um die Vorherrschaft. In Syrien und im Libanon ist die politische Lage ohnehin instabil. Sollte der israelische Ministerpräsident in dem in Kürze beginnenden neuen Jahrzehnt die benachbarten Despoten in den Ruhestand mitnehmen, könnte der Generalstaatsanwalt in Jerusalem eine neue Ära im Nahen Osten eingeläutet haben. In Israel steht mit Benny Gantz ein würdiger, wenn auch politisch unerfahrener Kandidat bereit und in der Likud-Partei scharren einige ehrgeizige Jung-Politiker seit langem mit den Hufen.