Seit anderthalb Jahren ist ihr Fall ein Thema in den politischen Talkshows Frankreichs. Die inzwischen volljährige Mila aus Grenoble, die aus gegebenem Grund ohne Nachnamen bleibt, gehört zu jener Generation, für die der Instagram-Auftritt wie die Luft zum Atmen ist. Online-Plattformen sind zur zentralen Schnittstelle für die Kommunikation mit der Welt geworden, und wohl auch deshalb herrscht der Glaube, dass dort auch alles gesagt werden kann.
Im Januar 2020 veröffentlichte die damals sechzehnjährige Französin ein Video auf Instagram, das ihr Leben auf den Kopf stellen sollte. Zuvor hatte ihr ein Jugendlicher, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnert, zunächst Komplimente gemacht, wie Mila im Interview mit dem Fernsehsender TF1 erzählt. Er wurde rasch ärgerlich, als sie ihm einen Korb gab. Irgendwo hier intervenierte eine Followerin mit der Frage, ob Mila, die offen lesbisch lebt, auf europäische, arabische oder schwarze Frauen steht. Mila antwortete, dass sie Frauen mit weißer Hautfarbe bevorzuge. Hier begann der Stalker von zuvor, sie als Rassistin und wegen ihrer Sexualität zu beschimpfen, jeweils unter Anrufung und »im Namen Allahs«. Bald kamen weitere Nutzer im selben Stil hinzu. Auch an ihrer Schule wurde sie so beschimpft, worauf Mila am Ende mit ihrem Video reagierte.
»Vielleicht bin ich in fünf Jahren tot«
Das Video ihrer Empörung wurde rasch bekannt – natürlich auch bei Muslimen, die begannen, sie in Online-Foren zu belästigen, und sie mit Gewalt und Mord bedrohten. Das geschah wohlgemerkt in der Gestalt eines Shitstorms, doch zugleich auf einer ganz anderen Ebene: Nachrichten mit Morddrohungen sekundenweise. Seitdem hat Mila mehr als 100.000 Hassnachrichten erhalten. Es sind Aussagen des Typs: »Du bist tot, wir werden dich finden, du wirst sterben … dreckige Französin … Scheiß-Französin«. Am Ende fand man ihren Wohnort heraus. Mila musste ihre Schule verlassen und wechselte auf ein Militärinternat, bis man auch dort nicht mehr für ihre Sicherheit sorgen konnte. Mila und ihre Eltern finden es schwer zu verstehen, warum auch eine Militärschule dem Druck nicht standhalten konnte.
Aus Anlass des Falls Mila hatte Staatspräsident Emmanuel Macron erstmals vom »Recht auf Blasphemie« gesprochen, das es in Frankreich seit der Revolution von 1789 gebe. Im Herbst wiederholte er diese Feststellung im Zusammenhang mit dem Charlie-Hebdo-Prozess. Erst durch dieses Recht ist für Macron die volle Freiheit der Religionskritik gegeben. Allerdings stehen auch die Journalisten und Karikaturisten von Charlie Hebdo unter ständigem Polizeischutz, seit 2015 ein islamistisches Attentat auf das Blatt verübt worden war. Ebenso kann der Philosophielehrer Didier Lemaire aus einem Ort in der Pariser Banlieue seinem Beruf heute nur unter Polizeischutz nachgehen. Die Verunsicherung und Selbstzensur der Lehrer nimmt täglich zu. Die stolz formulierten Rechte und Freiheiten der Franzosen sind brüchig geworden.
Mila nennt das Frankreich von heute »schwach und feige«. Niemand tue etwas, »weil die Leute Angst haben«. Es sei offenbar eine »schweigende Mehrheit«, die sie unterstützt, sagt sie mit bitterem Spott. Heute steht sie unter Polizeischutz und muss regelmäßig umziehen. Es ist eine Flucht im eigenen Land. »Sogar wenn ich ausgehe, bin ich im Gefängnis«, erzählt sie bei TF1. Sie verlässt das Haus nur verkleidet wie Inspektor Gadget. Das normale Leben einer jungen Frau wird sie in Frankreich wohl nie mehr haben. Ihre Zukunft sieht sie düster: »Ich sehe mich selbst vielleicht verbrannt, vielleicht mit einem abgetrennten Bein oder tot. Vielleicht bin ich in fünf Jahren tot. Ich werde auf keinen Fall überleben, und ich sage das mit der größten Gelassenheit.«
Nur dreizehn von 100.000 standen vor Gericht
Nun wurden elf der Cyber-Mobber von einem Pariser Gericht zu Bewährungsstrafen von vier bis sechs Monaten verurteilt. Einer der Angeklagten kam aus Mangel an Beweisen, ein anderer wegen Verfahrensfehlern frei. Außerdem müssen die elf Verurteilten Mila ein Schadensgeld von einigen tausend Euro zahlen. Marine Le Pen kritisierte das Gerichtsurteil als nicht umfassend genug. Weitere Online-Nachsteller, die Mila beleidigt und ihr gedroht hatten, hätten zur Verantwortung gezogen werden müssen. Zu lasch fand das Urteil auch Jean Messiha, der Ex-Berater Le Pens mit christlich-ägyptischen Wurzeln, die Täter würden »singend davonziehen«. Dennoch erscheint es als ein wichtiges Signal, dass dieser Prozess stattgefunden hat und zumindest einige der Übeltäter zumindest symbolisch zur Rechenschaft gezogen wurden.
Die vor Gericht verhandelten Hassnachrichten stammten nicht von bekannten islamistischen Gefährdern, sondern von äußerlich unauffälligen Menschen. Die 13 Angeklagten sind relativ normale Jugendliche zwischen 18 und 30 Jahren. Acht von ihnen haben Mila mit Mord gedroht. Laut dem involvierten Staatsanwalt reichen die Tätigkeiten der angeklagten Cyber-Mobber vom Koch bis zur Psychologiestudentin. Diese ›Normalität‹ der Täter und die Zahl 100.000 verdeutlicht die Anziehungskraft des radikalen Islam in Frankreich. Einige trugen ihren Trotz gegen das Urteil demonstrativ zur Schau.
Der machtlose Rechtsstaat
Eine achtzehnjährige, streng gläubige Muslimin schrieb Mila laut dem Nachrichtensender BFM TV: »Ich wünsche dir, auf die grauenvollste Art zu sterben, die es gibt. Und wenn das auf sich warten lassen sollte, werde ich es selbst in die Hand nehmen.« Sogar Nicht-Muslime wünschten Mila, dass ihr jemand den Schädel einschlägt – offenbar verletzte ihre Meinungsäußerung den Rahmen, der in einigen Köpfen dafür zugelassen ist.
An ihr Land richtete Mila im Juni die Fragen: »Werden sich die Dinge wirklich verändern? Wird die Justiz wirklich streng sein? Denn das ist nötig.« Auf Malta wurde Mila von einem Franko-Algerier erkannt, der sie mit Mord und Vergewaltigung bedrohte. Der Zwanzigjährige wurde umgehend angeklagt und verurteilt, doch auch für ihn gab es nur eine Bewährungsstrafe. In einem anderen Fall soll es auch zu einer Haftstrafe gekommen sein. Aber insgesamt scheint der Rechtsstaat weitgehend machtlos gegenüber der ›Guerrilla-Technik‹ der Cyber-Mobber. Jedes der Vergehen erscheint geringfügig und wird keine hohe Strafe rechtfertigen, zusammen aber ergeben sie einen Gefährdungs-Tsunami, gegen den man kaum präventiv wird angehen können.
Bei BFM TV trägt ein Insider der salafistischen Szene im gebrochenen Französisch der Maghrebiner die islamische Perspektive bei: »Wenn Mila nicht unter Schutz gestellt worden wäre, wäre sie mit Sicherheit schon tot. Das wäre schneller gegangen als bei Samuel Paty.« Die junge Frau habe die Probleme selbst gesucht, denen sie dann begegnete. Eine ähnliche Meinung hatte der Generaldelegierte des französischen Islamrats (Conseil français du culte musulman, CFCM) schon im letzten Jahr, direkt nach Bekanntwerden der Vorgänge, geäußert: »Sie hat Wind gesät und Sturm geerntet, nun muss sie die Folgen tragen. Natürlich bin ich gegen diese Morddrohungen. Auch die Freiheit des Wortes ist wichtig, natürlich. Aber das hatte jetzt nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, das war eine Beleidigung, eine Provokation. Und sie wusste genau, was sie tat.«
»Die Zeit genießen, die mir noch bleibt«
Die Staatssekretärin für Gleichberechtigung, Marlène Schiappa, nannte solche Kritik »unwürdig« und »kriminell« und sah den Fall Mila als Probelauf für ihre Gesetzgebung gegen Online-Hass-Kriminalität, die freilich die Welle der 100.000 Hassnachrichten in keiner Weise aufhalten konnte. Marlène Schiappa schloss mit einer Wohlfühlbotschaft: Das »ganze Land« müsse gegen solche Verbrechen aufstehen. Zuvor hatte die Justizministerin Nicole Belloubet die Online-Mobber indirekt gerechtfertigt, indem sie Milas Kritik als Angriff auf deren Gewissens- oder Glaubensfreiheit hinstellte. Wie Milas Anwalt Richard Malka feststellte, hatte die Ministerin damit die Forderung der Islamischen Weltliga nach Strafen für Gotteslästerung übernommen. Charlie Hebdo titelte: »Flirt der Justizministerin mit den Bärtigen«. Später nahm Belloubet ihrer Aussage zurück.
Vor Gericht hat Mila ihr Recht verteidigt, auch weiterhin online aktiv zu sein, und zwar so, wie sie es gern möchte: »Ich will einfach nur existieren und die Zeit genießen, die mir noch bleibt.« Das ist schon ein seltsames Bekenntnis für eine Achtzehnjährige. Kurz nach dem Urteil hat Mila, auf die Einladung des Rektors hin, die Pariser Moschee besucht. Ihr Anwalt sprach von einem »Symbol der Brüderlichkeit, des Humanismus, der Großzügigkeit«. Richard Malka hofft, dass »diese Botschaft von jenen gehört werde, die hasserfüllte Nachrichten versenden«. Im übrigen verwies er auf den »falsch verstandenen Antirassismus«, den viele der Aggressoren als Rechtfertigung herangezogen hätten – ein unverhüllter Hinweis auf die Diskussion um Islamophobie und »islamogauchisme«.
Tatsächlich könnte man Milas Pressetermin mit dem Rektor der Moschee vor allem für eine Inszenierung halten, die Online- und Offline-Täter von Mila abbringen soll. Ob sie so ihr freies Leben in Frankreich oder Westeuropa wieder zurückbekommen kann, scheint fraglich. Jedenfalls nahm die junge Frau im Grunde nichts von ihrer Kritik zurück und blieb auch nach dem Moscheebesuch dabei, »gemischte Gefühle« zum Islam zu haben.