In Sāri am Kaspischen Meer tanzt eine junge Frau und wirft in einer feierlichen Geste ihr Kopftuch in ein Lagerfeuer, unterstützt von den Pfiffen und Jubelrufen der Umstehenden. Andere Frauen werfen ebenfalls ihre Kopftücher ins Feuer. Dieses Video ist eine Erinnerung daran, dass der Widerstand gegen staatliche Unterdrückung zuerst immer ein Wagnis des Einzelnen ist. Niemand kann ihm diesen Mut abnehmen, den er braucht, um sich zu seinen Werten und Idealen zu bekennen und für sie einzutreten.
Iran: Anti-Kopftuch-Proteste weiten sich auf zahleiche Städte aus
Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini weiten sich die Anti-Kopftuch-Proteste im Iran aus. In Teheran und anderen Städten reifen Menschenansammlungen zur Revolution auf. Annalena Baerbock sieht sich derweil in ihrer Vision einer feministischen Außenpolitik bestätigt – nur folgt daraus nichts.
Aber die feierliche Übergabe mehrerer Hidschabs an die Flammen war natürlich erst der Anfang. Auch im nordiranischen Sāri weiteten sich die Unruhen am Dienstagabend aus. Später sah man Bilder, auf denen die Portraits des Staatsgründers Chomeini und des aktuellen Revolutionsführers Ali Chamenei von einem Behördengebäude abgerissen wurden. Am selben Abend zogen Demonstrationszüge durch Teheran, die skandierten: „Das ist das Jahr, in dem Ali Chamenei gestürzt werden wird.“ Wirklich?
Offenkundig istder Iran heute äußerst anfällig für Unruhen geworden. Leere Supermarktregale und hohe Benzinpreise haben in diesem Jahr kleinere Proteste hervorgerufen. Inzwischen ist der sechste Tag der landesweiten Unruhen gegen das islamistische Mullah-Regime angebrochen. Die Mullahs beherrschen den Iran seit mehr als vierzig Jahren – seitdem Ruhollah Musawi Chomeini im Februar 1979 aus Paris nach Teheran zurückkehrte, nachdem er eine Koalition gegen den Schah mit linken und bürgerlichen Kräften geschmiedet hatte. Nach mehreren Säuberungswellen war Anfang der Achtzigerjahre ein theokratischer Staat im Iran entstanden. Millionen freiheitlich gesinnter Iraner verließen das Land.
Heute werden viele Videos auf Twitter mit den Worten kommentiert: „Die Islamische Republik Iran vs. den Iran.“ Die Demonstranten setzen sich gegen die Religions- und Sittenwächter zur Wehr, die auf den nächtlichen Straßen oft in die Minderheit geraten. Polizeifahrzeuge werden angegriffen und in Brand gesteckt, teils auch Rettungswagen, die die Sittenpolizei laut Auskunft von Twitter-Nutzern ebenso als Tarnung und Alibi verwendet. Die jungen Menschen sind in der Überzahl und besiegen den bewaffneten Gegner so mit bloßen Händen.
Laut Berichten aus den sozialen Medien ist das Regime nicht mehr in der Lage, die Wut der Menschen zu stoppen. Das Geschehen scheint sich in alle größeren Städte des Landes auszubreiten.
In Kerman applaudiert eine Menschenmenge aus Männern und Frauen, manche verhüllt, andere unverhüllt, einer jungen Frau, die sich, auf einem Stromkasten sitzend, die unverhüllten Haare abschneidet. Es ist ein Akt doppelten Mutes. Denn die Frau könnte auch noch wegen unfraulicher Haartracht in das Visier der Religionspolizei geraten. Auch prominente Iranerinnen taten es ihr gleich und posteten Bilder von sich mit abgeschnittenen Haaren oder ohne Kopftuch.
Der Auslöser dieser Zuspitzung war der Tod einer jungen Frau, die in der letzten Woche von der iranischen Sitten- und Religionspolizei wegen „unangemessener Kleidung“ festgenommen wurde, aus ungeklärter Ursache ins Koma fiel und drei Tage später in einem Teheraner Krankenhaus starb. Die Behörden behaupten, sie habe einen Herzanfall erlitten. Der Sender 1500tavsir berichtet dagegen, dass sie einen Schlag auf den Kopf erhalten habe, was angesichts zahlreicher ähnlicher Bilder nicht unwahrscheinlich sein muss. Demonstranten in ihrer Heimatstadt Saghes im nordwestlichen Kurdengebiet des Landes forderten nach dem Begräbnis der nur 22 Jahre alt gewordenen Mahsa Amini eine gründliche Untersuchung der Todesursache. Die Behörden setzten Tränengas gegen die Demonstranten ein. Hier mögen sich kurdisch-separatistische Bestrebungen mit der Forderung nach Freiheit von religiöser Unterdrückung vereinen.
Aus ihrem amerikanischen Exil verfolgt auch die Journalistin und Anti-Kopftuch-Aktivistin Masih Alinejad das Geschehen. Letztes Jahr soll das FBI die Entführung der Regimekritikerin durch iranische Geheimdienstler vereitelt haben.
Baerbock: Aminis Tod illustriert, was feministische Außenpolitik bedeutet
In die Kritik geriet – zumindest zwischen den Zeilen – auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), weil sie das Geschehen zwar wortreich beklagte, aber keine konkreten Schritte einleitete. „Der Tod von Mahsa Amini“ illustriere „auf furchtbar tragische Weise“, was feministische Außenpolitik bedeute und wie wichtig sie sei: „Wenn Frauen nicht sicher sind, ist keiner sicher in einer Gesellschaft.“ Darf man also schlussfolgern, dass feministische Außenpolitik genau dies bedeutet: zuschauen, als „furchtbar tragisch“ beklagen, aber nichts tun? Wir dürfen das Paradox live auf der Regierungsbank miterleben. Baerbock sieht sich zwar in ihrer „feministischen Außenpolitik“ bestätigt, aber es folgt nichts daraus – außer warmen Worten in eigener Sache.
Diesen Eindruck hatte auch die Fernsehkorrespondentin Golineh Atai, selbst iranischstämmig, die auf Twitter schrieb: „Das Vorgehen der Sicherheitskräfte. ‚Furchtbar tragisch‘, um im Sprachbild der deutschen Außenministerin zu bleiben.“
ZDF hofft auf Reform der Islamischen Republik
Und das ZDF? Kritisiert eine Nutzanwendung auf unsere Gesellschaft, wo das Tragen des Kopftuchs auch immer mehr zum Abzeichen einer islamischen Parallelgesellschaft wird.
Daneben spricht man im Morgenmagazin vom „absichtlichen Verstoß“ der iranischen Frauen gegen die „strengen Religionsvorschriften“ – in diesem Fall funktioniert die Neutralität der Öffentlich-Rechtlichen ganz gut – oder auch von „nicht ordnungsgemäß“ getragenen Hidschabs. Fazit des Teheraner Korrespondenten: Die iranische Sittenpolizei könnte reformiert werden. Daneben gebe es auch im Parlament Diskussionen um die Abschaffung des Kopftuchzwangs. Hört, hört, die Mullahs lassen mit sich reden. Korrespondent Jörg Brase sieht diese Situation offen, während er dem Protest mangels Organisation keine Chancen auf Erfolg prophezeit. Tote gebe es nur in Kurdistan (bisher drei). Na dann.
Der Gouverneur der Hauptstadt, Mohsen Mansouri, widerspricht dem ZDF-Korrespondenten übrigens. Die Proteste in Teheran sind nach ihm „komplett organisiert, trainiert und geplant, um Störungen in Teheran zu schaffen“. Beachtlich bleiben diese „Störungen“ in jedem Fall, denn die Insubordination der Jugend lässt sich nicht ohne weiteres zurücknehmen. Sie bleibt als Sand im Getriebe erhalten.
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