Die Stimmung war verhalten auf der Wahlparty der ungarischen Regierungspartei Fidesz. Applaus brandete immer wieder an unerwarteter Stelle auf: Immer dann, wenn der Budapester Bürgermeisterkandidat der „grünen” LMP-Partei, Dávid Vitézy, in Führung lag. Am Ende siegte dennoch der ebenfalls „grüne” Bürgermeister Gergely Karácsony, allerdings denkbar knapp: Nur wenige Hundert Stimmen trennten ihn von Vitézy. Der lässt nun eine Neuauszählung beantragen – drei Prozent der abgegebenen Stimmzettel waren ungültig, ungewöhnlich viel.
Warum aber freute man sich bei Fidesz, wenn ein grüner Kandidat in Führung lag? Es war ein abgekartetes Spiel. Vitézy war früher Staatssekretär unter Orbán, LMP-Chef Péter Ungar ist der Sohn der einflussreichen Fidesz-Verbündeten Mária Schmidt, und Fidesz’ eigene Kandidatin Alexandra Szentkirály hatte sich am Freitag vor der Wahl aus dem Rennen zurückgezogen, und dazu aufgerufen, für Vitézy zu stimmen. Alle hatten genau das erwartet, aber es geschah so spät, dass am Ende doch viele überrascht waren. Fast hätte der Schachzug den gewünschten Erfolg gebracht, aber eben nur fast.
So sahen auch die übrigen Wahlergebnisse aus. Orbán verkündete zwar einen doppelten Sieg: „Es gab eine Europawahl, und Kommunalwahlen, und wir haben beide gewonnen.” Tatsächlich war Fidesz, wie immer seit 2010 die deutlich stärkste Partei, mit 44,6 % der Stimmen. Sie verlor zwar drei Großstädte, gewann aber vier dazu. Allerdings war dieses blendende Wahlergebniss das schlechteste für Fidesz bei einer landesweiten Wahl seit 2006. Bei den letzten EU-Wahlen 2019 hatte die Partei 53 Prozent der Stimmen errungen, und 13 Abgeordnete ins EU-Parlament entsandt. Jetzt werden es nur noch elf sein. Nicht nur das: Meinungsumfragen hatten Fidesz zwischen 45 und 50 Prozent gesehen. Das Ergebnis blieb am unteren Ende dieser Prognosen.
Allerdings berechnete das (regierungsnahe) Nézőpont Institut, dass dieses Ergebnis bei Parlamentswahlen immer noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit für Fidesz bedeuten würde.
Orbán hatte zwar gewonnen, aber kaum jemand redete an diesem Abend über ihn. Das große Thema war das erstaunliche Ergebnis von Péter Magyar und seiner noch vor wenigen Monaten ganz unbekannten Tisza-Partei. Knapp 30 Prozent der Stimmen! Das war ein politisches Erdbeben. Nur nicht das von vielen westlichen Medien erhoffte: „Orbán in Gefahr”, schrieb die Deutsche Welle”, und auch die „Welt” und die Neue Zürcher Zeitung wähnten in Magyar einen „gefährlichen Gegner für Orbán” zu entdecken. Gefährlich aber war Magyar vor allem für jene Parteien, die in den vergangenen 14 Jahren Ungarns Opposition darstellten.
Die liberale „Momentum”, die sich im Wahlkampf eindringlich selbst lobte, weil sie es mit ihren zwei EU-Abgeordneten geschafft habe, im Alleingang die Sperrung der Ungarn zustehenden EU-Gelder zu erreichen, flog hochkant aus dem Parlament der EU. Ebenso die einst antisemitische Jobbik, die von sich selber stets behauptete, sie sei nun ganz anders geworden. Lediglich eine Links-Partei überlebte, wenn auch knapp: Die „Demokratische Koalition” des früheren sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány kam zusammen mit zwei Mini-Parteien als Parteienbündnis gerade einmal auf auf acht Prozent und zwei EU-Abgeordnete. 2019 waren es noch sechs gewesen.
Magyars Sieg – nicht gegen Orbán, sondern gegen die bisherige Opposition – schafft ein ganz neues innenpolitisches Umfeld. Zum einen eine bipolare Parteienlandschaft. Statt Fidesz und vielen schwachen Oppositionsparteien gibt es nun Fidesz und eine starke Oppositionspartei: Tisza. Ungarns unzufriedene Wähler haben eine solche Konsolidierung immer schon gewollt, aus Umfragen war es seit Jahren klar abzulesen. Es scheiterte immer an den Eigeninteressen der diversen Kleinpartei-Politiker. Jetzt haben die Wähler selbst für „Ordnung” gesorgt.
Zweitens: Orbáns Zauberformel von Fidesz als „zentrales Kraftfeld” der Parteienlandschaft dürfte so nicht mehr funktionieren. Die Formel ging so: Fidesz in der Mitte, links und rechts Parteien, die als „extrem” dargestellt werden können, das war das Rezept für Orbáns Dauererfolg. Jetzt gibt es de facto nur noch Fidesz und Tisza.
Péter Magyar bemüht sich um ein politisches Profil, das den Positionen europäischer Mainstream-Christdemokraten gleicht. Einführung des Euro, Beitritt zur EU-Staatsanwaltschaft, Rechtstaatlichkeit. In Ungarn kann er damit zwar als „Handlanger Brüssels” dargestellt werden, aber nicht als extrem links oder rechts.
Und noch etwas: Fidesz war es jahrelang gelungen, jeden Tag die mediale Agenda zu setzen, den öffentlichen Diskurs zu dominieren. Seit vier Monaten aber beherrscht Péter Magyar jeden Tag die Schlagzeilen.
All das kann sich bis zu den nächsten Wahlen 2026 tatsächlich zum Problem für Orbán auswachsen. Der in Ungarn oft zitierte Politologe Gábor Török formulierte es so: In Ungarns Politik habe nun „eine neue Zeitrechnung begonnen”.