Die Wanderungsstatistik deutscher Staatsbürger im Verhältnis zu Deutschland ist seit 18 Jahren durchgehend negativ: Jedes Jahr wandern mehr Deutsche aus ihrem Land aus, als aus dem Ausland zurückkehren. Das bestätigte nun die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Frage der AfD-Fraktion. In der Summe beläuft sich der negative Saldo seit 2005 auf mehr als 500.000 Bundesbürger.
Im letzten Jahr wanderten insgesamt gut 268.000 deutsche Bürger aus, während nur knapp 185.000 Deutsche ins Land zurückkehrten oder (in wohl sehr seltenen Fällen) erstmals in es einwanderten. Das ergibt einen Saldo von minus 83.414 Personen nur im Jahr 2022. Deutsche Auswanderer sind jünger als der Bevölkerungsschnitt und haben im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse als die Gesamtbevölkerung. Die aktive, qualifizierte Mitte Deutschlands wandert so seit Jahren zumindest teilweise, dabei aber sehr beständig aus. Der höhere Bildungsstand dürfte sich wiederum auf das Einkommen der Auswanderer auswirken und es nach aller Logik erhöhen.
Weltweit bilden sich so immer größere Gemeinschaften von Exil-Deutschen. In Europa sind vor allem die Schweiz – deutlich führend mit einer deutschen Bevölkerung von über 309.000 – und Österreich mit mehr als 216.000 Deutschen beliebt. Es folgen Großbritannien und Spanien (jeweils um die 140.000 Deutsche; alle Zahlen nach Eurostat, normalerweise von 2022). Außerhalb Europas sind Angaben etwas schwieriger, hier gibt es nur Schätzungen der UNO von 2020. Demnach führen die USA das Feld mit geschätzt über 534.000 Deutschen an, gefolgt von Kanada (157.000), Russland (rund 142.000) und Australien (125.000). Kleinere Kolonien finden sich in Neuseeland (rund 25.000), Brasilien (20.600), Namibia (rund 9.500) und Argentinien (9.332 Deutsche).
2016: Die deutsche Auswanderungswelle erreichte ein neues Niveau
Die Auswanderungsbewegung der Deutschen ist dabei in Wellen gewachsen. 1980 und 1985, die in der Antwort als vereinzelte Jahrgänge angegeben sind, hatten relativ geringe Auswandererzahlen von etwas über 50.000 in einem Jahr, obwohl man schon hier eine ansteigende Tendenz ausmachen könnte (1980: 53.728; 1985: 58.607). In den 1990er-Jahren war die steigende Tendenz eindeutig mit regelmäßig mehr als 100.000 Auswanderern pro Jahr, die anfangs noch durch hohe Zuzüge von Spätaussiedlern aus dem Ostblock aufgehoben wurden. In den folgenden Jahren sank die Anzahl der deutschen Zuwanderer, während die Auswanderer sich bei um die 150.000 stabilisierten.
Der eigentliche Sprung geschah 2016, in dem es zum erste Mal mehr als 200.000 – und zwar deutlich mehr – deutsche Auswanderer gab. Im zweiten Jahr der „Migrationskrise“ wanderten 281.411 Deutsche aus. Das war eine glatte Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr (mit 138.273 deutschen Auswanderern) und gibt eine andere Ansicht der Krise, die durch das massenhafte Zulassen illegaler Migration durch Kanzlerin Merkel entstand. Der Unterschied ist so deutlich, dass er sich nicht allein mit „Melderegisterbereinigungen“ wegen der Einführung der persönlichen Steuer-Identifikationsnummer (wie es bei Destatis heißt) erklären lässt. Solche statistisch relevanten Ereignisse gibt es ab und zu, die Tendenz der folgenden Jahre befestigte jedoch die Entwicklung von 2016: Die deutsche Auswanderungswelle hatte ein neues Niveau erreicht.
Und eben diese historische Entwicklung hat wohl kaum jemand landläufig auf dem Schirm. Man könnte jetzt keck titeln: Illegale Migranten haben diese Deutschen aus dem Land gedrängt. Großer Austausch, Ersetzungsmigration – und man könnte nicht einmal sagen, was daran falsch sein soll. Was wäre sonst so Beachtliches im Jahr 2015 geschehen, dass die deutschen Auswandererzahlen ab dem Folgejahr so in die Höhe schnellten wie seit vielen Jahren nicht mehr? In den Jahren seit 2017 stabilisierte sich der Trend von über 200.000, eigentlich sogar von über 250.000 deutschen Auswanderern pro Jahr.
Warum wird ausgewandert? Die Erklärung liefern auch die Zielländer
Die Auswanderung aus Deutschland dürfte sich vor allem Problemen im Inneren verdanken. Die Erklärung für den anhaltenden Trend zum Auswandern, der sich ja auch in einigen TV-Formaten spiegelt, liefern aber wohl auch die Zielländer. Denn sie müssen das haben, was Deutschland immer weniger bereit hält. Entweder attraktive Arbeitsplätze oder ein besseres Steuersystem oder ein angenehmeres Leben und Lebensumfeld. Eins von den dreien.
Im Jahr 2022 war die Schweiz eindeutig das beliebteste Wanderungsziel (mit einem Saldo von 11.526 Auswanderungen), gefolgt von Österreich (6.168), Spanien (4.215), Dänemark und den Vereinigten Staaten, Polen, Schweden, Frankreich, Portugal und schließlich Italien auf dem zehnten Platz, wie Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zeigen. Nicht viel weiter hinten lagen Australien (1.233) und Paraguay (1.150) als zweit- und drittplazierte außereuropäische Ziele nach den USA.
Paraguay ist ein Sonderfall: Noch 2020 sollen nur 1.800 Deutsche in dem südamerikanischen Binnenstaat gelebt haben. Mindestens genau so viele scheinen seither dazugekommen zu sein. In der Corona-Zeit galt das südamerikanische Land vielen als Hort von Freiheit und Selbstbestimmung, zudem mit einer aktiven deutschen Gemeinde. Wer weiß, wie viel an der Sache dran ist. Von 2017 bis 2019 war Kanada am beliebtesten bei denen, die es in die weite Welt zog (jährliche Saldi von um die 600). Auch hier waren die Versprechung offenbar vor allem eine höhere Lebensqualität und ein besser organisiertes Gemeinwesen. 160.000 Deutsche lebten vor drei Jahren in Kanada. Davor waren die USA lange führend, so wie erneut im Jahr 2022.
„Gewährleistung einer bewohnbaren Umgebung“ in Ungarn
Die Schweiz ist seit vielen Jahren das mit Abstand beliebteste Land für Auswanderer aus Deutschland. Es gibt aber auch Aufsteiger. Ungarn scheint einer davon zu sein. Derzeit spielt es noch in der Liga von Portugal, Norwegen und Irland, verzeichnete aber in den letzten vier Jahren einen deutlichen Anstieg der deutschen Bevölkerung um 35 Prozent. Von diesem Drittel mehr entfiel wiederum ein Drittel auf das vergangene Jahr. Die Tendenz verstärkt sich, man darf von einem dynamischen Anstieg sprechen. Damit leben zum aktuellen Zeitpunkt mehr als 22.000 Deutsche in Ungarn, also bereits mehr als vermutlich in Portugal oder Irland (beide geschätzt um die 20.000). Die überwältigende Mehrheit der 22.000 Deutschen in Ungarn ist „wirtschaftlich inaktiv“ – also im Rentenalter. Daneben gibt es 3.415 Studenten.
In einem Artikel für die Online-Zeitschrift Corvinák des staatlich finanzierten Mathias-Corvinus-Collegiums vermutet Bence Bauer weniger finanzielle Motive als vielmehr solche der Lebensqualität. So sei die „Gewährleistung einer bewohnbaren Umgebung“ von Bedeutung für die Auswanderer: Viele von ihnen führen demnach „ein lebenswerteres Umfeld und eine bessere öffentliche Sicherheit an“. In Deutschland ist die Kriminalität zuletzt (auch im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019) klar gestiegen, vor allem die öffentliche Sicherheit steht mittlerweile unter deutlichem Druck. Damit ist in Deutschland ein jahrzehntelanger Trend gebrochen, in dem auch hier die Kriminalität allmählich absank.
Aus Ungarn kann Bence eine deutliche Senkung der Kriminalität im letzten Jahrzehnt vermelden: Um 64,5 Prozent sei die Zahl der Straftaten in dem Land in diesen zehn Jahren zurückgegangen. Auch bei der Pro-Kopf-Angabe schlägt Ungarn Deutschland daher um Längen. Hierzulande gibt es demnach etwa vier Mal so viele Verbrechen pro Einwohner. In Deutschland waren dass im vergangenen Jahr 6.762 Straftaten pro 100.000 Einwohner, wo es in Ungarn nur 1.732 waren.
Auswanderungswelle wie im 19. Jahrhundert? Ja und nein
Ist den AfD-Abgeordneten zuzustimmen, wenn sie von einer „Auswanderungswelle historischer Dimensionen“ sprechen? Es sieht so aus. „Derzeit verlassen mehr unserer Landsleute Deutschland als in einem Jahr des Auswandererjahrzehnts der 1870er-Jahre“, heißt es mit Verweis auf den „Allgemeinen Handatlas“ von Richard Andree. Die Auswanderung in die Vereinigten Staaten ist tatsächlich etwas höher überliefert und betrug im späten 19. Jahrhundert wohl rund eine Million pro Jahrzehnt. Allerdings wird kaum gegengerechnet, wie viele auch damals nach Deutschland zurückkehrten.
Eine Million Auswanderer pro Jahrzehnt erreicht auch Deutschland heute leicht – es kommen aber viele auch wieder zurück. Die Bundesregierung weist die Einordnung der AfD und des Magazins Cicero in ihrer Antwort gleich zu Beginn zurück: Weder das historische Ausmaß der Auswanderungswelle will sie zugestehen, noch den Vergleich mit den 1870er-Jahren akzeptieren, weil die „Entwicklung des Gesamtbevölkerung“ Deutschlands sich seither „dynamisch darstellt“ und es auch Unterschiede in den vorliegenden Statistiken gebe. Aber die Unterschiede sind nicht gar so groß und sicher zu interpretieren.
Im Vergleich ist der Saldo der Auswanderungen heute etwas niedriger, die Emigrationen insgesamt aber liegen auf einem vergleichbaren Niveau wie vor 150 Jahren. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs wuchs von 1871 bis 1910 von rund 41 Millionen Menschen auf knapp 65 Millionen an, war also kurz vor dem Ersten Weltkrieg schon auf halbem Weg zu den heutigen 84 Millionen Einwohnern. Der jüngste Zuwachs verdankt sich, wie jeder weiß, nicht mehr der Fortpflanzung der Herkunftsdeutschen (die vielleicht noch etwas anderes sind als Christian Lindners „ursprüngliche Deutsche“), sondern der massiven Zuwanderung seit 2015.
Im Jahre 1816 gab es laut Andrees „Handatlas“ übrigens nur knapp 25 Millionen Einwohner auf dem späteren Gebiet des Deutschen Reichs. Es muss ein recht gemütliches Leben mit viel Platz für die Natur und den Menschen gewesen sein, in jenen Jahren. In der Dichtung und Musik der deutschen Romantiker ist etwas davon aufbewahrt. War es wirklich so schlimm? Und ist die steigende Auswanderung der Deutschen vielleicht auch eine Folge der Überbevölkerung, die unser kleines Land heute vielerorten plagt? Vielleicht. Auch das ist ein Punkt, der die Auswanderung in negativer Weise mit der Asyl- und Migrationspolitik der meisten deutschen Parteien verbindet.