Am 18. August ist ein Aufsehen erregender Artikel in der ungarischen Tageszeitung Magyar Nemzet mit dem Titel „Es ist Zeit, über den Huxit zu sprechen“ erschienen. Nicht nur wird Magyar Nemzet nachgesagt, der Regierung besonders nahe zu stehen, auch ist der Autor jemand, dem man zuhören sollte: Tamás Fricz ist ein konservativer Denker, einer der führenden Politikwissenschaftler des Landes und Sprecher einer konservativen Bürgerbewegung, die die Politik der Regierungspartei Fidesz unterstützt.
Die Frage der EU-Mitgliedschaft hängt in Ungarn zwar seit geraumer Zeit in der Luft, doch offen gesprochen wird darüber nur selten – in Anbetracht der enormen Sprengkraft des Themas und der unlösbaren Probleme, die der Akt mit sich bringen würde, durchaus verständlich. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet im bereits tobenden Wahlkampf (die Wahl ist im Frühjahr 2022) ein der Regierung nahestehender angesehener Wissenschaftler die Frage des Austritts geradezu plakativ anspricht.
Unmittelbarer Anlass für den Artikel ist die in letzter Zeit nicht nur feindselige, sondern auch bewusst erniedrigende Behandlung Ungarns durch so gut wie alle Gremien und durch mehrere führende Politiker der EU. Seit der Verabschiedung des ungarischen Kinderschutzgesetzes hat die antiungarische Hetze geradezu hysterische Ausmaße angenommen.
Fricz nennt eingangs den Anlass für seinen Artikel: Man sei jetzt an einem Scheideweg angelangt. Denn die EU zeige „immer mehr imperiale Züge, und benimmt sich gegenüber den ost- und mitteleuropäischen Staaten zunehmend herablassender und arroganter… die EU-Kommission, das Europäische Parlament, der Europäische Gerichtshof und in Teilen der Europarat sind fest entschlossen, uns eine Lektion zu erteilen. Ja mehr noch: Sie wollen uns bestrafen.“ Das wichtigste Mittel sei dabei der Entzug zustehender EU-Gelder, in diesem Zusammenhang zitiert er die Europa Abgeordnete der SPD, Katarina Barley, die seinerzeit erklärt hatte, Ungarn und Polen finanziell aushungern lassen zu wollen.
Ungarn sei 2004 einer Gemeinschaft freier und souveräner Staaten beigetreten, schreibt Fricz weiter, jetzt jedoch sei ein imperiales Europa im Entstehen begriffen, das die nationalen Mitgliedstaaten seinem Regime unterwerfe. Angestrebt werde die Vereinigten Staaten von Europa, klar artikuliert von der nach einem italienischen Kommunisten benannten „Spinelli-Gruppe“, die auch die Federführung bei der gerade begonnenen Konferenz- und Diskussionsreihe über die Zukunft der EU habe. „Es ist ein erschreckend klares Signal, dass das koordinierende Gremium der Diskussionsreihe von jenem Guy Verhofstadt geleitet werde, der ein überzeugter, verblendeter Globalist und Orbán-Hasser ist.“ Natürlich müsse man sich nach besten Kräften an der Diskussion beteiligen. „Wenn jedoch das Endergebnis für uns unannehmbar ist, dann ist es fraglich, ob es das Interesse Ungarns ist, sich den imperialen und globalistischen Bestrebungen weiter zu beugen.“
Sein wichtigstes Argument ist denn auch nationaler, kultureller Natur: „Unsere Wege haben sich getrennt, da der Westen – nunmehr bewusst – mit der christlichen Moral und dem Wertesystem gebrochen hat und stattdessen dabei ist, eine auf Selbstgenuss und Selbstvernichtung beruhende kosmopolitische, gesichtslose Weltgesellschaft zu errichten (siehe Great Reset). Wir Ungarn, Polen, die Ost- und Mitteleuropäer dagegen bestehen darauf, unsere ein Jahrtausend alten kulturellen und religiösen Grundlagen zu erhalten. Das ist unser Leben. Und das ist wichtiger als alle anderen Gesichtspunkte.“
Wie nicht anders zu erwarten war, hat der Artikel heftige öffentliche Reaktionen hervorgerufen. Die zum Wahlbündnis zusammengeschlossene Opposition unter der Führung der Ehefrau des einstigen sozialistischen Ministerpräsidenten Gyurcsány (eine glühende Anhängerin der Vereinigten Staaten von Europa) behauptete, alles weise darauf hin, dass Fricz im Auftrag von Orbán gehandelt habe. Warum sie das glaubt, teilte sie uns nicht mit. Tatsache ist, dass die EU-Mitgliedschaft für die konservative Fidesz-Regierung ein ernsthaftes, kaum auflösbares Problem ist, und sicherlich trifft auch zu, dass das Ergebnis der Wahlen, ob Fidesz sie gewinnt und wenn ja, mit welcher Mehrheit, ein Zeichen für die Zukunft sein wird. Denn die Mehrheit der Ungarn befürwortet die EU-Mitgliedschaft, auch wenn vielen die zunehmende Aggressivität der EU und die ständigen Erniedrigungen nicht nur der Regierung, sondern des ganzen Landes, zumindest unangenehm sind. Aber es ist schon recht zweifelhaft, was ein Kritiker Friczs über die einfachen Ungarn herablassend behauptet, nämlich dass sie der Kulturkampf, den Fricz und „ein paar hundert Budapester Intellektuelle führen wollen“, bestenfalls marginal interessiere, denn hauptberuflich seien sie nur damit beschäftigt, ihre Familien zu ernähren.
Sicherlich spielt die Angst vor Wohlstandsverlust bei der Beurteilung der EU durch die Bevölkerungsmehrheit eine Rolle. Aber eine noch wichtigere Rolle spielt ein anderer – ideeller – insbesondere für Osteuropäer enorm wichtiger Aspekt, den Fricz selbst benennt. „Aus politischer Sicht dürfte für das Drinbleiben sprechen, dass die Mitgliedschaft jedem ungarischen Staatsbürger das wohlige Gefühl verleiht, zu einem demokratischen, auf dem Bündnis von freien Nationen beruhenden Westen zu gehören. Das ist es, wonach wir uns immer gesehnt hatten, und nach vierzig Jahren Kommunismus haben wir dieses ersehnte Ziel endlich erreicht. Einem der fortschrittlichsten Gemeinschaften der Welt anzugehören ist ein besonderes Erlebnis, und dieses nach fünfzehn Jahren aufzugeben wäre nur wegen sehr triftiger, schwerwiegender Gründe akzeptabel.“
Das ist der wichtigste Grund, warum viele Ungarn, auch jene, die der EU sehr kritisch gegenüberstehen, zum Austritt nicht bereit wären, selbst wenn sie sehen, dass dies nicht das Europa ist, von dem sie träumten. Darauf weist auch ein Kritiker von Friczs Aufsatz im konservativ-liberalen Magazin Mandiner hin: „Der Austritt würde die politischen Aktivisten der NGO nicht aus Ungarn vertreiben. Er würde nichts an dem extrem verzerrten Ungarn-Bild der europäischen Medien ändern, er würde die Deutschen, die Benelux-Länder oder die Skandinavier uns gegenüber nicht verständnisvoller machen. Ganz im Gegenteil: Wir würden auf die gleiche Plattform mit Weißrussland gestellt, als eine um jeden Preis zu vernichtende wildöstliche Diktatur“. Das ist das wahre Horrorbild der Ungarn.
Was also tun? „In Europa bleiben und weiterkämpfen: Das ist unsere Mission“, schreibt der Kritiker in Mandiner. „Die politische Rechte darf nicht vor der nervtötenden Aufgabe des Ringens mit den Brüsseler Bürokraten und Ideologen fliehen … Wir müssen auf den Tisch hauen, kämpfen bis zum letzten Atemzug, um vom europäischen Europa so viel für unsere Nachkommen zu retten, wie nur möglich.“ Ja, das hört sich gut an, doch realistisch ist der Plan eher nicht.