Was tun, wenn die Lage brenzlig wird, das Chaos täglich weiter anwächst und Recep Tayyip Erdogan täglich damit droht, seine Grenzen zu öffnen und wegzuschauen, wenn Migranten zu Tausenden nach Europa und Deutschland weiterziehen werden, ob zu Wasser oder auf dem Landweg – Griechenland droht zu ersticken und weiter zu verarmen, die Balkanroute aus den Fugen zu geraten.
Wenn es gar nicht mehr anders geht, werden auch andere Länder die durchwandernden Migranten auf dem Weg nach Deutschland einfach nur weiterwinken wie 2015.
Horst Seehofer mimt momentan Merkels Sonderbeauftragten für „Flüchtlingsfragen”, als Heimat- und Innenminister macht er gerade gute Miene zum schlechten Spiel der EU, deren noch tragenden Kräfte Frankreich und Deutschland zu sein scheinen.
Doch selbst Frankreich ist bei den zahlreichen, zum Großteil männlichen Migranten aus Syrien, Irak, aus Afghanistan und Pakistan nicht mehr beliebt. Es sollte schon Deutschland sein, dort gibt es zwei Dinge, die sich herumgesprochen haben: viel Geld nur fürs Ankommen und das Wort „Asyl“, sowie eine Polizei, die als handzahm gilt – was gar nicht ironisch gemeint ist; es zeigt, dass in Deutschland Delinquenten sich viel erlauben können – die Polizei in anderen Ländern lässt sich nicht zwei Mal als Rassisten beschimpfen oder gar bespucken. Das aber nur am Rande, es sind Aussagen der Migranten selbst, warum sie Deutschland (noch) bevorzugen.
Horst Seehofer versucht einerseits, seinem Land Bayern entgegenzukommen, anderseits Merkels als„christlich-altruistisch“ ausgegebene Zuwanderungspolitik irgendwie zu rechtfertigen.
Der einstige Verfechter einer Obergrenze weiß ganz genau, dass die Gesellschaft hierzulande nicht weiter gespalten werden darf, schon gar nicht in der Frage der Zuwanderung illegaler Asylmigranten, denn wer zu den wahren Kosten schweigt, muss sich Kritiken und eine mögliche Abwahl gefallen lassen.
Fast tief verbeugend, zollte Horst Seehofer seinem türkischen Gegenüber Süleyman Soylu Dank und Respekt: „Ohne Eure Solidarität wäre das Migrationsproblem in unserer Region so nicht bewältigt worden. Ein ganz herzliches Dankeschön. Das ist eine Leistung, die auch in die Welthistorie eingehen wird.“ Das dürfte auch Erdogan runtergegangen sein wie Öl. Nur: Welthistorie hin oder her, einmal mehr war dies eigentlich ein Hinweis, dass weitere Milliarden von der EU fällig werden, um den Massenzustrom an Migranten angeblich zu bremsen. Der Hinweis, dass es sich vorwiegend um Männer handelt, von deren Vita wir rein gar nichts wissen, kann man nicht oft genug wiederholen: Männer, die Gesellschaften destabilisieren können – in welcher Form auch immer. Seehofer scheint’s nicht zu kümmern.
Der deutsche Innenminister wurde auch aktiv, weil die Griechen nach Deutschland und in die EU hinein einen Notruf sendeten: Griechenland und den Inseln, auf denen die Hotspots eingerichtet sind, drohe der absolute Kollaps. Die Balkanrouten bereits wieder am Flimmern, etliche Migranten sind dort und in Ländern wie Kroatien, Serbien und Bulgarien schon wieder in Warteposition. Aber die Route könnte gen Winter nochmals richtig in Bewegung geraten und für unschöne Bilder sorgen.
Man merkt aber auch, analysieren nicht nur griechische und italienische Medien und Experten, in Deutschland ginge wohl bei der Kanzlerin gerade deshalb die Angst um, dass Deutschland „Nachschub“ aus Griechenland, eigentlich aus der Türkei und auch aus Italien sowie Spanien bekommen könnte. Es ist aber auch so, dass stets Deutschland Signale in die Welt sendet, Stichwort „Sichere Häfen“, statt den Leuten in ihren Herkunftsländern eine attraktivere Perspektive zu bieten. Naiver Altruismus, sowas kommt in der Welt gut an.
Seehofers Mission in der Türkei ist es also, den türkischen Präsidenten zu überzeugen, die mit der EU eingegangenen Verpflichtungen bitte auch einzuhalten. Mit dem obersten Ziel, „die Situation in Griechenland und die Zusammenarbeit bei der Steuerung der Migration mit der Türkei zu erörtern“.
Tatsächlich aber droht Erdogan weiterhin, die Maschen der Grenzen wieder zu weiten, um eine abermalige Finanzspritze aus Brüssel zu erhalten oder zumindest alle zugesagten auf einmal zu kassieren (bisher wurden wohl nur knapp 2,5 Mrd. gezahlt).
Die zugesagten sechs Milliarden Euro bis 2022 könnten sich daher erhöhen und eben darum wird es dem EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos und Seehofer gehen, die Verhandlungen irgendwie angemessen zu steuern – ganz nach dem Motto, wie verhandele ich mit einem Erpresser, der mich komplett in der Hand hat?
Wird keine Einigung erzielt, droht Griechenland zu „explodieren“. Es wird geschätzt, dass das Land von 2015 an bis heute 80.000, nur auf dem Seeweg angekommene Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge beherbergt. Die Ankünfte haben in den vergangenen drei Monaten wieder stark zugenommen.
Aufstände von Migranten sind an der Tagesordnung und die Regierung in Athen kämpft darum, die Zügel des Systems etwas zu straffen, das bereits am Limit ist – die eigene Bürgerschaft wie in Italien murrt – und das nicht zu knapp.
Um die 70.000 Asylanträge wurden gestellt, aber es können nur ca. 2.400 pro Monat bearbeitet werden. Um das etwas zu veranschaulichen: ein Migrant, der heute ankommt, wird voraussichtlich erst im Februar 2021 zum ersten Vorstellungsgespräch eingeladen. So lange sitzt dieser in Griechenland fest. Unzufriedenheit pur, obwohl in Griechenland kein Krieg und kein Terror herrscht.
Athen versucht demnach, ein paar Korrekturmaßnahmen. Der Plan von Premierminister Kyriakos Mitsotakis sieht eine verstärkte Patrouille entlang der türkischen Grenze vor, und auch am Meer steht die Schaffung neuer „eingezäunter“ Einrichtungen für Personen ohne Flüchtlingsstatus und die Umsiedlung von 40.000 Asylbewerbern auf das griechische Festland oder in „andere Ziele“ vor (sicher auch innerhalb der EU).
Ganz zu schweigen von der Erstellung einer Liste sicherer Länder, um bis 2020 zehntausend Rückführungen zu erreichen. Die Frage ist: Unterstützt Deutschland auch diese Ideen und Konzepte? Außerdem besteht wohl die Vorlage eines Plans, so ein Report im Il Giornale, zur Verringerung der Anzahl derjenigen, die an EU-Ufern ankommen, bei der EU. Die EU-Kommission „unterstützt“ diese Bemühungen ebenso wie Deutschland. Aber diesmal wohl nicht nur aus reiner Solidarität und Menschlichkeit, denn eines ist klar: neun von zehn benennen Deutschland als Ziel.
Deshalb ist die Zunahme der Anlandungen in Griechenland auch eine Art von „Alarmglocke“ für Angela Merkel, denn wer eines Tages auf Samos und Lesbos ankommt, wird weiter auf der Balkanroute in Richtung Berlin reisen (wollen). Und dann könnte es auch für die Kanzlerin politisch zunehmend unbequemer werden.
Von daher ist es irgendwie auch kein „Zufall“, dass Deutschland plötzlich doch wieder über eine Verstärkung der Grenzkontrollen nachdenkt, und die auch schon wieder aktiver sind, um „eine bessere Bekämpfung der sekundären Einwanderung“ zu gewährleisten.
Seehofer hat die Bundespolizei tatsächlich angewiesen, „die Kontrollen ohne besonderen Grund und jeden Verdacht zu verstärken an den Binnengrenzen“. Und plötzlich scheint es im scheinheiligen Spiel auch keine Rolle mehr zu spielen, dass die gesamte EU das Italien um Salvini über ein Jahr lang wegen seiner „geschlossenen Häfen“ mobbte und drangsalierte, als wären die Italiener wahre Unmenschen. Nun, aber, auf Merkels Anraten wohl, bekommt alles einen ganz anderen und differenzierteren Geschmack?
Eines ist klar, die Mission von Seehofer und Avramopoulos wird nicht unbedingt zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führen. Eher werden schnell noch ein paar Milliarden von Konto zu Konto wandern. Denn, so unkt man nun in Rom und anderswo, wenn es in Berlin darum geht, „die Einwanderung zu bekämpfen“, muss es schließlich sofort passieren, und Deutschland unterstützt werden. Schließlich gehe es jetzt ja nicht um Italien.