Tichys Einblick
Boris Johnson

Hindernislauf Brexit: Neues Chaos am Horizont

Seinen Brüsseler Triumph im Ringen um ein neues Austrittsabkommen konnte Johnson im britischen Unterhaus zumindest in einen Teilerfolg verwandeln. Der Streiter für den Brexit wurde darüber zeitweilig zum Friedensengel.

Dan Kitwood/Getty Images

Nach Johnsons Erfolg ließen neue Hindernisse nicht lange auf sich warten. So hat das Parlament den gestrafften Zeitplan der Regierung abgelehnt, eine Verschiebung des Austritts ist damit wohl unvermeidlich geworden.

Es war ein äußerst vergängliches lebendes und bewegtes Bild der Zeit: Die ausdauernd gestikulierende, anscheinend ständig etwas zu erläutern habende Herrscherin Europas führte den siegreichen Helden in die Runde der Kollegen. Wie in einem antiken Triumphzug zog Boris Johnson auf dem EU-Gipfel in Brüssel ein, salutierte ironisch vor Macron und wurde überschwänglich vom Luxemburger Xavier Bettel gedrückt. Dann drehte er noch eine Runde, um alle übrigen Staats- und Regierungschefs zu begrüßen. Eine Extra-Runde in der Tat – denn es war wohl der erste und letzte EU-Gipfel für den Premierminister Johnson.

Die EU – nicht Europa – verliert einen dynamischen Mitspieler, der sich selbst als überzeugten Europäer sieht und die EU in ihrer heutigen Gestalt dennoch (deshalb?) entschieden ablehnt. Bezeichnend dafür war ein Wortwechsel Johnsons mit dem einstigen britischen Schatzkanzler Kenneth Clarke, dem »Father of the House« und Tory-Rebellen, am vergangenen Sonnabend im britischen Unterhaus. In der außerordentlichen Parlamentssitzung sollte eigentlich das neu verhandelte Austrittsabkommen eine Testabstimmung bestehen. Es kam bekanntlich anders.

Kreative Zusammenarbeit statt »ever closer union«

In seiner ersten Rede vor dem Unterhaus nach dem Brüsseler Erfolg sagte Johnson, dass die Briten seit jeher wenig vom europäischen Föderalismus, der berühmten »ever closer union«, gehalten haben. Sie seien schon immer »Europäer mit halbem Herzen« gewesen. Doch bestünden andererseits auch weiterhin viele Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit den »europäischen Freunden« – ein Wort, das häufig fiel –, und zwar »in kreativer, künstlerischer, intellektueller Hinsicht«, mit Sinn für das »gemeinsame Schicksal« der europäischen Nationen. Ein Bekenntnis zur Schicksalsgemeinschaft Europa also, nur eben nicht zur immer enger werdenden Union der europäischen Staaten.

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Der Altvordere Kenneth Clarke erwiderte, dass die Lust am Föderalismus in den anderen europäischen Ländern genauso gering ausgeprägt sei. Dem konnte wiederum Johnson nur teilweise folgen: Zwar gebe es eine weitverbreitete Skepsis in Europa über die Errichtung eines föderalistischen Superstaats, nur sei diese Skepsis eben noch nicht bis zu den Eliten, die die EU anführen und die Brüsseler Agenda vorgeben, durchgesickert. Einig waren sich immerhin beide Politiker, dass Großbritannien freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben soll.

Zuvor hatte Johnson emphatisch von Europa als »unserem Kontinent« gesprochen. Er will beides zugleich sein: skeptisch über die derzeit beschrittenen Wege der EU-Integration, aber auch leidenschaftlich, was den Kontinent als geographischen und kulturellen Raum angeht. Durchaus originell war an diesem Tag, dass der Streiter für den Brexit davon sprach, dass sein Deal die Kluft in der britischen Politik heilen und – so der Premier in einem lyrischen Anflug – die »einander bekriegenden Instinkte in unserer Seele« wieder vereinen soll. Das scheint tatsächlich nötig zu sein in Großbritannien; genauso notwendig bleibt aber wohl der politische Streit um die Realisierung des Referendums.

Der erste Deal, der eine Mehrheit fand

Vom römischen Triumphzug weiß Wikipedia:

[…] im Kern war der Triumph ein überwiegend sakraler Akt: Der Feldherr löste die Gelübde ein, die er den Göttern […] vor Beginn des Feldzuges gegeben hatte, reinigte durch den Kultdienst sich und das Heer vom Unsegen des Krieges und opferte auf dem Kapitol dem Jupiter.

Im Grunde hat sich kaum etwas geändert, nur dass der ethische Standard unserer Zeit nicht mehr sakraler, sondern demokratischer Natur ist. Auch Johnsons Triumph beruht auf der Einlösung seines Versprechens, einen neuen Austrittsvertrag mit der EU zu verhandeln und Großbritannien aus der Union zu führen. Vom »Unsegen des Krieges« muss auch er sich nun reinigen, indem er die Kampfmontur der letzten Wochen schrittweise ablegt. Und dem Idol unserer Zeit wird er opfern, wenn er sich freudig den nun schon überfälligen Wahlen stellen wird. Eine Art Triumphgeheul – nicht ganz das rituelle »io Triumphe!« des römischen Brauchs – hatte im übrigen schon Jean-Claude Juncker in Brüssel beigesteuert (bei Minute 4:30 des Videos).

Schon eher glich dem antiken Brauch das breit aufbrandende»Yea« (Minute 8:04:16 des Videos) der konservativen Fraktion im Unterhaus, als am Dienstag dieser Woche ein halb siegreicher, halb geschlagener Boris Johnson nach zwei Abstimmungen ans Rednerpult trat. In der ersten Abstimmung hatte Johnson sein Austrittsabkommen mit 329 zu 299 Stimmen siegreich durchgebracht, in der zweiten war die Zeitplanung, durch die er den Deal bis zum Monatsende verabschieden wollte, mit etwas knapperer Mehrheit abgelehnt worden. Doch Johnson und die Seinen wussten ihren Teilerfolg zu feiern: Kaum einer habe noch vor wenigen Wochen daran geglaubt, dass die britische Regierung das Austrittsabkommen wieder aufschnüren und den alten, für ganz Großbritannien geltenden Backstop daraus entfernen könnte. Die Zustimmung des Parlaments zu Johnsons Austrittsvertrag war die logische Folge dieser Verbesserungen gegenüber dem May-Deal und das erste positive Votum überhaupt zu einem Austrittsvertrag im britischen Unterhaus.

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Johnsons Rede am Dienstag war wieder voll der Take-back-controls und Get-Brexit-dones. Trotzdem verlief die Sitzung deutlich friedlicher als die jüngst erlebten. Respektvoll nahm Jeremy Corbyn die abweichenden Meinungen der Rebellen aus seiner Fraktion zur Kenntnis. Dem neuen, erfolgreich ausgehandelten Deal sollte offenbar nicht die Mehrheit versagt werden. Wohl aber sollen einige Änderungen an ihm durchgesetzt werden, die freilich nicht alle die gleichen Erfolgsaussichten haben.

Vor allem ging es um die Befürchtung eines No-Deal-Brexits, der nun für das Ende der Übergangsphase im Dezember 2020 an die Wand gemalt wird und durch Parlamentsbefugnisse abgewendet werden sollte. Trotzdem kam die Hoffnung auf, dass das Land zu seinem alten Rhythmus von Common Sense und Kompromiss zurückfinden könnte.

Der Brexit hängt erneut in der Luft

Doch mit der Ablehnung des Zeitplans der Regierung hängt nun erneut die gesamte Gesetzgebung zum Brexit »in limbo«, wie der juristische Fachausdruck lautet. Parlamentssprecher John Bercow machte auch den protestierenden Abgeordneten der Opposition klar, dass daran nichts mehr zu ändern sei. Unter den herrschenden Umständen müsse sich die Regierung zurückziehen und ihre Möglichkeiten neu erwägen. Das Parlament hatte sich selbst ausgebremst, auch wenn das Bedürfnis nach einer Überprüfung der Gesetzentwürfe angesichts der Bedeutung des EU-Austritts natürlich verständlich ist.

Die Frage ist, wie lange die neue Verlängerung dauern soll. Von ›Experten‹ wird eine »flextension« (kurz für »flexible extension«) empfohlen, die der britischen Regierung zwar einen Zeitraum von etwa drei Monaten zugesteht, sie aber auch früher austreten lässt, sobald ein Abkommen vom Parlament verabschiedet ist. Das Flexible an dieser Lösung käme auch den EU-Vertretern zu gute, denn deren Vorstellungen schwanken zwischen einigen Tagen, die für die technische Verabschiedung des Abkommens nötig wären, und mehr als einem halben Jahr Verlängerung für ausufernde Parlamentsdebatten. Zu letzteren gehört der CDU-Fachmann für Äußeres Norbert Röttgen, der einen monatelangen Aufschub ins Gespräch brachte, damit sich die Briten erst mal sortieren und wirklich alle Möglichkeiten bedenken können. Man kann sich denken, worauf solche Vorschläge abzielen.

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Johnson beharrte am Dienstag darauf, dass es sich um die Verlängerung des Parlaments, nicht die seiner Regierung handele. Ebendeshalb war es – aus Sicht seiner Unterstützer – auch so wichtig, dass er das Verlängerungsgesuch nicht persönlich an die EU-Kommission richtete: Johnson schickte nur eine Kopie der Vorlage aus dem Benn Act, ohne sie zu unterschreiben, und ließ einen zweiten Brief folgen, in dem er sich als Premierminister von dieser ihm auferlegten Zwangsmaßnahme distanzierte. Sein doppelgleisiges Verfahren dient dazu, die Verlängerung deutlich als das Werk des Parlaments herauszustellen. Das Unterhaus habe so der EU die Möglichkeit gegeben, über die neue Austrittsfrist und damit über das Schicksal Großbritanniens zu entscheiden – auch dies ein schneidendes Argument im Sinne des »take back control«, das man sich gut im Rahmen einer Wahlkampagne der Konservativen vorstellen kann.
Der Aufschub des Parlaments und ein neuer Cummings-Plan

Als wahren Grund für den erneuten Aufschub sieht Johnson die Absicht, den Brexit aufzuweichen oder gar zu verhindern. Doch gibt er sich nach dem gewonnenen Unterhausvotum siegessicher: »Auf dem einen oder dem anderen Wege werden wir die EU verlassen, und zwar mit diesem Abkommen, dem dieses Haus gerade zugestimmt hat.« Schon in seiner Rede zuvor hatte er angekündigt, keine Verschiebung des Austritts um weitere Monate zu akzeptieren. In diesem Fall wolle er den Gesetzentwurf zu seinem Deal zurückziehen und baldige Neuwahlen anstreben.

Wie unter anderem die BBC verbreitete, entspräche das relativ genau den neuesten Vorgaben von Johnson-Berater Dominic Cummings, der nun – in einem neuen Briefing –Neuwahlen noch vor Weihnachten forderte. Die von dem Journalisten Robert Peston auf Twitter kolportierte Version kreist um die Worte »delay«, »broken parliament« und »get Brexit done«, sämtlich Schlüsselworte der derzeit entstehenden Johnson-Kampagne:

Wiederholt haben das Parlament und Corbyn für den Aufschub [delay] gestimmt. Am Sonnabend hat das Parlament um einen Aufschub bis Januar gebeten, um heute [am Dienstag] seine letzte Chance zu vertun. Wenn Brüssel dem Aufschub zustimmt, dann gibt es nur einen Weg voran für das Land, eine Wahl. Dieses Parlament ist vollkommen am Ende [totally broken]. Die Öffentlichkeit muss entscheiden, ob sie den Brexit mit Boris hinkriegen will [get Brexit done] oder mit Corbyn 2020 zwei Referenda abhalten will – eins über den Brexit, eins über Schottland.

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Wie diese Wahlen erreicht werden sollen, bleibt weiter unklar. Ein von den Konservativen selbst angestoßenes und in der Folge verlorenes Misstrauensvotum gegen Johnson gilt als unwahrscheinlich. Eher wird die Regierung versuchen, Corbyn an dieser Stelle weichzuklopfen. Der Oppositionsführer hat Neuwahlen bekanntlich an eine beträchtliche Verlängerung der Austrittsfrist geknüpft. Labour-Vertreter geben sich daher im Moment gesprächsbereit. In den Umfragen hat sich Labour zumindest stabilisieren können, während die Werte von Lib Dems und Brexit-Partei zurückgehen. Vielleicht reicht Corbyn also seine Rolle als Oppositionsführer, die ihm nach Neuwahlen wohl für einige Zeit sicher wäre.

Dagegen liegen die Vorteile für Johnson auf der Hand: Mit dem erfolgreich neu verhandelten und vom Parlament angenommenen Austrittsabkommen im Rücken, könnte die Regierung ihren derzeitigen Vorsprung vermutlich bis zur Wahl aufrechterhalten oder sogar noch ausbauen. Solange der Brexit-Prozess nicht ein vorläufiges Ende gefunden hat – denn nur das wäre der offizielle Austritt –, bleibt die Popularität dieses Brexit-Heroen sicher bestehen, gleichsam in der Zeit eingefroren. Die Cummings-Strategie erscheint dabei keineswegs wie ein in Stein gemeißeltes Orakel. Vielmehr dürfte ein gewisses Maß an Flexibilität nötig sein, um auf die verschiedenen, aus einem wahrhaften Chaos hervortretenden Herausforderungen zu reagieren. Es kann also noch einiges passieren, es wird wohl nur noch etwas Zeit brauchen.

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