Tichys Einblick
Geschichte zweier Betroffener

Acht Monate nach dem Hamas-Massaker: Das Trauma wirkt nach

Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich fast nur noch auf die Lage im Gazastreifen. Dagegen malt sich kaum jemand die Traumata aus, die bei direkt vom Hamas-Massaker am 7. Oktober Betroffenen bis heute nachwirken – aber auch in der Gesellschaft als Ganzes.

© Sandro Serafin

Dani Gerkowitsch steht im Kibbutz Kissufim auf der Veranda eines ausgebrannten Hauses: „Diese Art von Feuer sind normalerweise einfach zu löschen“, sagt der Mann, der Mitglied der Feuerwehr im Gaza-Grenzgebiet ist und seit mehreren Jahrzehnten in Kissufim lebt: „Es ist ja ein einfaches Wohnhaus und kein mehrstöckiges Haus.“

Doch am Morgen des 7. Oktober 2023 ist nichts normal: Gerkowitsch erhält zahlreiche Hilferufe von Menschen aus der Region: „Unser Haus steht in Flammen!“ Aber Gerkowitsch kann nicht helfen – er sitzt mit seiner Frau selbst in einem Schutzraum in seinem Haus in Kissufim fest. Dutzende Terroristen sind in den Kibbutz eingedrungen, der 1951 gegründet wurde und rund 300 Einwohner hat. Er liegt in Süd-Israel nur 2 Kilometer Luftlinie von der Gaza-Grenze entfernt.

Über sein Smartphone versucht Gerkowitsch den Hilferufenden Ratschläge zu geben: „Legt ein nasses Handtuch unter die Tür, öffnet das Fenster ein Stück weit, damit ihr atmen könnt. Familien mit kleinen Kindern sagte ich, sie sollten sie ans Fenster halten.“ Gerkowitsch schaut Richtung Boden: „Von 20 Familien, mit denen ich an jenem Morgen in Kontakt war, konnte ich mit 15 auch danach noch reden. Fünf Familien sind nicht mehr unter uns.“

Auch Gerkowitschs Tochter schrie um Hilfe. Nur 100 Meter von seinem Haus entfernt hielt sie mit ihrem Mann verzweifelt die Tür zum Sicherheitsraum zu, als die Terroristen ins Haus kamen. „Sie schossen durch die Tür; die Kugeln durchdrangen meine Tochter und meinen Schwiegersohn und schlugen in die Wand ein.“ Gerkowitsch zeigt auf eine ausgehängte Tür mit unzähligen Durchschüssen.

Anschließend steckten die Terroristen das Haus in Brand. „Helfer der Feuerwehr fanden ihre Asche unter der Zimmerdecke, die heruntergekommen war“, erzählt Gerkowitsch. Die Helfer hätten nicht gewusst, was sie damit anfangen sollen, da keine Leichen da waren: „Sie mussten Archäologen von der Altertumsbehörde holen“, erzählt Gerkowitsch: „Sie nahmen die Asche, packten sie in eine Tüte und schickten sie zur DNA-Identifizierung ein.“

Auch Gerkowitschs Nachbar Roni Spadge steht vor einem völlig zerstörten Haus in Kissufim. Spadge ist „Ravschatz“, also Sicherheitskoordinator, im Kibbutz. Am 7. Oktober ist er mit seiner Frau und vier Kindern zu Hause, als der Überfall losgeht: „Ich war ein Ziel von ihnen, sie wussten, wo mein Haus steht“, sagt Spadge. Schnell tauchen acht Terroristen in der Straße vor seinem Haus auf.

Spadge schnappt sich seine Waffe und eröffnet das Feuer. Er hat Probleme mit seinem Gewehr, muss teilweise auf seine Pistole zurückgreifen. Ihm gelingt es, einige Terroristen außer Gefecht zu setzen. Irgendwann aber rennt er in seinen Schutzraum und verbarrikadiert sich darin mit seiner Familie: „Ich sagte den Kindern, sie sollten ruhig sein; und sie waren es den ganzen Tag über.“

Die Terroristen versuchen, mithilfe ihrer Waffen in den Schutzraum einzudringen, aber nur eine Kugel durchschlägt die Tür. „Dann versuchten sie es per Hand. Einer von ihnen setzte sich neben die Tür und alle zehn bis fünfzehn Minuten versuchte er, sie zu öffnen.“ Währenddessen machen es sich die Terroristen in Spadges Haus gemütlich: „Sie aßen von unserem Essen, tranken von unseren Getränken. So als wäre das ihr Zuhause.“

Familie Spadge sitzt mehrere Stunden im Schutzraum fest. Eine erste Gruppe von israelischen Soldaten kommt um die Mittagszeit zum Haus, muss dann aber an einen anderen Einsatzort weiterziehen. Als sich der damalige Sicherheitskoordinator des Kibbutz, Saar Margolis, dem Haus nähert, um die Familie zu retten, werden er und ein Soldat auf der Treppe erschossen.

„Letzlich wurden wir um 20 Uhr befreit“, erzählt Spdage. Damit die Kinder die Zerstörung nicht sehen müssen, verbinden sie ihnen die Augen. Dann setzen sie die Kinder in einen Bus, der sie aus dem Kibbutz rausbringt. „Anschließend gingen wir zurück, um den Rest des Kibbutz zu evakuieren“, erzählt Spadge: „Der gesamte Kibbutz war erst am Sonntagmittag evakuiert.“ Die Kämpfe im Ort halten sogar noch weitere Tage an.

Was Gerkowitsch und Spadge erzählen, sind nur zwei Geschichten von vielen jenes Schwarzen Schabbats, eines Tages, der acht Monate danach in Europa in Vergessenheit zu geraten droht. Dort richtet sich die mediale Aufmerksamkeit inzwischen fast nur noch auf die schreckliche Lage im Gazastreifen. Dagegen malt sich kaum jemand mehr die Traumata aus, die in den Tausenden Israelis, die direkt vom Massaker betroffen waren, bis heute nachwirken – aber auch in der Gesellschaft als Ganzes.

Vermutlich ist dieses Trauma für Außenstehende gar nicht zu verstehen. Aber wer Menschen wie Gerkowitsch oder Spadge bei ihren Berichten in die Augen schaut, kann zumindest einen Hauch von ihm erspüren. Gerkowitsch will sich das Leben davon nicht kaputt machen lassen: „Es ist unmöglich, die Welt anzuhalten und abzusteigen. Ich habe nur einen Weg: Vorwärts und immer weiter zu gehen. Weil ich das Leben heilige und am Tod nichts ändern kann.“ Die Ereignisse würden immer in seinem Herz bleiben: „Aber jetzt ist die Zeit, alle Orte der Gegend wieder aufzubauen.“


Alle Bilder: © Sandro Serafin

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