Es gibt Bauwerke, in denen sich Glanz und Untergang, Größe und Tragik einer ganzen Zivilisation spiegeln. Mehr als die Erzählungen der Dichter und die Forschungen der Historiker geben solche Monumente in ihrer stillen Erhabenheit Zeugnis von Hoffnungen und Ängsten, Bittgebeten und Verzweiflung vieler Generationen. Doch nur der Geschichtskundige ist mit Recht erschüttert, nur der Wissende hat mit gutem Grund feuchte Augen, wenn er in den Ruinen des römischen Forums, in der Omayyaden-Moschee von Damaskus oder eben in der Hagia Sophia in Istanbul steht.
Seit Jahren tobt ein Deutungskampf um die Hagia Sophia (Ayasofya), der nur punktuell die westliche Wahrnehmungsschwelle überschreitet: ein Ringen um die Identität, nicht nur dieses steinernen Zeugnisses von eineinhalb Jahrtausenden bewegter Geschichte, sondern um die Deutung der Geschichte selbst. Diese Frage nach Herkunft, nach Eroberung oder Befreiung, nach Zerstörung oder Entfaltung hat das Verwaltungsgericht der Türkei nun – in osmanischer Manier – vertrauensvoll in die Hände des Präsidenten gelegt.
Staatsrat: Umwandlung zum Museum 1934 war rechtmäßig
In der Vorwoche beschäftigte sich der als Verwaltungsgerichtshof oder Staatsrat bezeichnete „Danitay“ etwa eine halbe Stunde mit einer Klage, die die Rechtsgültigkeit jener Regierungsentscheidung in Zweifel zog, mit der im Jahr 1934 die Hagia Sophia – auf Geheiß und mit Unterschrift von Staatsgründer Mustafa Kemal „Atatürk“ (Vater der Türken) – von einer Moschee zu einem Museum gewandelt worden war. Zwar gönnt sich das Gericht für die Publikation seiner Entscheidung zwei Wochen, doch berichtete als erste die Agentur der Päpstlichen Missionswerke, agenzia fides, über das Ergebnis der Beratungen: Die Umwandlung von 1934 sei rechtmäßig gewesen und entspreche dem heutigen Rechtsrahmen, jedoch könne der aktuelle Status durch ein Präsidialdekret wieder verändert werden. Präsident Recep Tayyip Erdogan bekommt so das Recht zugesprochen, die Hagia Sophia als Museum zu erhalten oder zur Moschee zu erklären.
Alle Vollmacht liegt nun dort, wo sie nach Erdogans Ansicht zu liegen hat: bei Erdogan. Er kann befinden, urteilen, entscheiden – oder zögern, andeuten, Hoffnungen und Ängste steuern, Erwartungen wecken oder dämpfen. Wie ein Sultan eben: souverän. Je nach innenpolitischer Notwendigkeit und außenpolitischer Gefechtslage könnte er künftig Andeutungen in dieser oder in gegenteiliger Richtung machen. Sein bisheriges Agieren spricht dafür, denn Erdogan hat sich nicht wirklich festgelegt. Präziser formuliert: Er hat sich eindeutig widersprüchlich geäußert.
Erdogan äußert sich eindeutig widersprüchlich
Im März 2019 sagte er in einem TV-Interview: „Die Ayasofya wird nicht länger als Museum bezeichnet werden. Ihr Status wird sich ändern. Wir werden sie als Moschee bezeichnen.“ Doch Jugendlichen, die wütend die Öffnung der Hagia Sophia für das islamische Gebet forderten, rief er zu: „Ihr seid nicht einmal in der Lage, die Sultan-Ahmet-Moschee halbwegs zu füllen, aber ihr wollt die Hagia Sophia füllen!“ Und in Anspielung auf die neu eröffnete amlica-Moschee, die im Mai 2019 auf der asiatischen Seite Istanbuls eröffnet wurde: „Sie ist vier- oder fünfmal größer als die Hagia Sophia. 60.000 Menschen können hier gleichzeitig beten.“
Tatsächlich hat Erdogan mit der 2013 begonnenen, im Vorjahr im osmanischen Stil vollendeten amlica-Moschee den Muslimen Istanbuls ein neues Wahrzeichen gegeben – und ein Ventil. Die nunmehr größte Moschee der Türkei ist ein selbstbewusstes Zeichen der AKP-Herrschaft – ein Symbol dafür, dass der neue Sultan die Erwartungen seiner Anhänger nicht zu erfüllen, sondern zu überbieten gedenkt. Weder von eifernden Muslimen, die die einstige Reichsmoschee wieder mit ihren Gesängen füllen wollen, noch von ausländischen Kräften, die auf den Erhalt als Museum pochen, will sich Erdogan dirigieren lassen. Vehement wies er darum alle kirchlichen und politischen Interventionen aus Athen und Washington zurück, die Ankara in unterschiedlicher Tonalität beschworen, die Hagia Sophia als Museum zu erhalten.
„Keine einzige Moschee steht heute in Athen“, wetterte Erdoan vor wenigen Tagen gegen Griechenland. „Unsere Moscheen und symbolträchtigen Orte, die wir vor einem Jahrhundert verlassen mussten, wurden binnen kürzester Zeit zerstört.“ Weil sich ranghohe amerikanische Politiker und Diplomaten in den Streit um die Hagia Sophia eingemischt hatten, polterte der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Hami Aksoy: „Unsere Regierung unternahm im Stillen revolutionäre Schritte, um die Glaubens- und Religionsfreiheit zu schützen Die Türkei hat den historischen, kulturellen und spirituellen Wert der Hagia Sophia seit der Eroberung feinfühlig wertgeschätzt.“ Aber die Hagia Sophia sei „Eigentum der Türkei, wie alle unsere kulturellen Schätze, die sich in unserem Land befinden“.
Bartholomaios wendet sich gegen Erdogan
Solches Insistieren auf der nationalen Souveränität, ja auf sultanischer Willkür, mit der Hagia Sophia so oder ganz anders zu verfahren, wendet sich auch gegen den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, der angedeutet hatte, dass sich „die ganze christliche Welt gegen solche Absichten wenden“ werde, die Hagia Sophia zur Moschee zu erklären. Bartholomaios Argument lautet: Die Hagia Sophia sei „eines der bedeutendsten klassischen Monumente der universalen Zivilisation“, überschreite die Grenzen der Völker und der Zeit ihrer Errichtung, und sie gehöre „nicht allein ihrem Besitzer, sondern der gesamten Menschheit“.
Dieses Argument lässt die türkische Politik nicht gelten. Denn auch wenn der Ökumenische Patriarch – diplomatisch gestählt aus vielen Konflikten der vergangenen Jahrzehnte – seine Argumentation in Komplimente packt, an die Verantwortung der Türkei und an ihre Ehre appelliert, an die Rolle der Hagia Sophia als „Ort und Symbol der Begegnung, des Dialogs und der friedlichen Koexistenz von Völkern und Kulturen“ erinnert: Seine universale Weite findet sich in seinem Blick auf die Hagia Sophia ebenso wieder wie der etatistische, nationalistische Ansatz der türkischen Staatsführung in ihrem. So bietet die Kontroverse um die Hagia Sophia reichlich Stoff für ein Psychogramm des türkischen Staatschefs, des Patriarchen – und anderer Akteure in diesem Drama.
Der Sultan sieht sich als Erbe der Kaiser
Viele Schichten der Geschichte müssen wir abtragen, um zum Grund der Wirklichkeit vorzudringen: Ein Mosaik über dem Südportal, auf dem der Tourist die Hagia Sophia oft achtlos verlässt, offenbart das einstige Selbstverständnis. Da ist die Gottesmutter mit dem Heiland auf ihrem Schoß; von der einen Seite reicht ihr Kaiser Konstantin ein Modell seiner Stadt, von der anderen Kaiser Justinian ein Modell seiner Basilika. Ein Jahrtausend christlicher Identität, komprimiert in einem Mosaik. Sicher, als Konstantin das alte Byzantion zur Residenzstadt erwählte und gewaltig ausbaute, hatte das strategische Gründe: Wie Rom in der Mitte des Mittelmeeres liegt, etwa gleich weit entfernt von den Meerengen im Osten und im Westen des „mare nostrum“, so lag Byzanz gleich weit entfernt von den Krisenherden an Euphrat und Donau, am Schnittpunkt von Asien und Europa.
Vor allem aber schuf Konstantin mit der nach ihm benannten Stadt ein zweites, alternatives, nämlich christliches Rom. Der erste getaufte Kaiser Roms verwandelte die griechische Kleinstadt am Bosporus zu einem getauften Rom, gab dem wankenden Imperium Romanum ein zweites Standbein – das noch ein Jahrtausend stehen sollte, nachdem das alte Rom von den Barbaren überrannt und vernichtet war. Die Byzantiner nannten ihr Reich „Basileia ton Rhomaion“, was auf Latein „Imperium Romanum“ heißt. Von Konstantins Grundsteinlegung 325 bis zur Eroberung durch Sultan Mehmet II. 1453 überlebte das christliche Rom alle Stürme der Zeit. Am 11. Mai, dem Weihetag der Stadt, sang der Patriarch alljährlich in der Liturgie: „Rette, Herr, unsere Stadt – gleichsam das Auge der Welt – vor all Deiner gerechten Drohung. Schmücke sie alle Zeit mit dem Szepter Deines Königtums und schenke ihr durch die Gottesmutter die Abwehr der Barbaren und die Befreiung aus Gefahren.“
Und der Herr erhörte die Gebete: Slawen und Awaren, Perser und Araber, Bulgaren und Waräger konnte Konstantinopel erfolgreich abwehren. Die der heiligen Weisheit Gottes geweihte Kirche war der Mittelpunkt der Stadt: Kathedrale des getauften Rom, Patriarchalsitz des Nachfolgers des Apostels Andreas, Krönungskirche der byzantinischen Kaiser, das Herz der orthodoxen Christenheit. Der Kaiser des neuen Rom verlor nach und nach viele Provinzen des östlichen Mittelmeeres, nie aber das Herz seines Reiches. Bis am 16. Mai 1204 lateinische Kreuzfahrer Stadt und Basilika eroberten und einen der ihren, Graf Balduin von Flandern, in der Hagia Sophia zum Kaiser krönten. Die Stadt verlor zwei Drittel ihrer Einwohner, viele Schätze und viel von ihrem Stolz. Bis heute ist diese Wunde der orthodoxen Christenheit nur vernarbt, nicht verheilt.
Nie mehr fand die Stadt zu ihrer alten Größe zurück
1261 eroberte Kaiser Michael VIII. die Stadt zurück, die jedoch nie mehr zur alten Größe und Selbstsicherheit finden sollte. Als Mehmet II. 1453 Konstantinopel belagerte, da herrschte er längst östlich wie westlich des Bosporus. Lange schon lebten muslimische Händler aus dem Reich des Kalifen von Bagdad in der Stadt, die ihnen am Goldenen Horn eine Moschee errichtete. Am 23. Mai 1453 endete nach 1.123 Jahren, nach 89 Kaisern und 125 Patriarchen die Geschichte des kaiserlichen Byzanz: Konstantin XI. hatte am Vorabend die Beter in der Hagia Sophia gesammelt, um sich dann selbst in die Schlacht zu stürzen. Nun plünderten und vergewaltigten ringsum Mehmets Männer.
Einen Soldaten, der eine Bodenplatte der Hagia Sophia rauben wollte, verjagte der Sultan jedoch mit gezücktem Schwert. Was in unseren Tagen das türkische Verwaltungsgericht dem Präsidenten zuspricht, beanspruchte damals der Sultan: Über die Hagia Sophia entscheide er allein. Mehmet der Eroberer ließ einen Imam von der Kanzel „Allahu Akbar“ anstimmen, trat vor den Altar und dankte seinem Gott für den Sieg.
Neun Jahrhunderte zuvor hatte der Historiker Prokopius, ein Zeitgenosse Justinians, über die Hagia Sophia geschrieben: „Wann immer jemand zum Gebet hineingeht, verspürt er sogleich, dass nicht durch menschliche Kraft und Kunst, sondern durch göttliches Wirken dieses Werk geschaffen wurde.“ Nun wurde die Patriarchal- und Krönungskirche zur Reichsmoschee der Osmanen. Zwar wurde vieles vernichtet, doch Mehmet war nicht gekommen, um zu vernichten, sondern um in Besitz zu nehmen. Wie Erdogan Atatürks Erbe in Besitz nehmen und wandeln will, so wollte Mehmet das Erbe der Kaiser in Besitz nehmen: Der erst 21-Jährige hatte den Goldenen Apfel gepflückt, nun setzte er – wie vor ihm die Kaiser – einen Patriarchen für die orthodoxen Christen ein: den eifernden Mönch Gennadios, den Wortführer gegen die orthodoxe Union mit Rom, einen Mann, der lieber unter dem Turban als unter der Tiara lebte. Nun, da er in Konstantinopel residierte und in der Hagia Sophia betete, konnte Mehmet sich selbst in einem Brief als „Kaiser der Römer“ bezeichnen. Seine Nachfolger beanspruchten als Kalifen die Nachfolge Mohammeds.
Sukzession, Kulturbruch und Dominanz
Bei alledem ging es um Deutungshoheit über die Geschichte, um Identitätspolitik. Wie heute. Die osmanischen Sultane hätten Konstantinopel nicht erobern müssen, um Anatolien, die Levante und den Balkan zu beherrschen. Sie mussten es erobern, um sich in die Tradition der (ost)römischen Kaiser zu stellen. Sie beanspruchten deren Erbe, wie Erdogan heute das Erbe Atatürks und der Sultane beansprucht.
Atatürk, der Gründer der türkischen Republik, dagegen wollte einen Traditionsbruch – nicht nur, aber auch hinsichtlich der Hagia Sophia. Während die Osmanen auf die Sukzession der Kultstätten setzten, indem sie die Kirche zur Moschee machten, das Herz der byzantinischen Kaiser zum Herzen der osmanischen Kalifen, machte der religionsfeindliche Atatürk aus der Hagia Sophia 1934 ein Museum.
Der neue armenisch-apostolische Patriarch in Istanbul ließ jüngst mit dem Vorschlag aufhorchen, die Hagia Sophia könne als Gotteshaus für Christen und Muslime genutzt werden. Beter beider Religionen seien dem Bauwerk angemessener als Besucherströme ehrfurchtsloser Touristen. Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, dessen Vorfahren die Kirche der Heiligen Weisheit als Patriarchalkirche nutzten, ist da realistischer: Er möchte den Status als Museum für die Hagia Sophia erhalten. Das ist weise, denn die quantitative Dominanz der Muslime würde die Christen rasch verdrängen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren nur 44 Prozent der 1,1 Millionen Einwohner Konstantinopels Muslime. 23 Prozent waren griechisch-orthodoxe, weitere 18 Prozent armenische Christen. Heute aber leben in Istanbul gut 17 Millionen Menschen, unter denen die rund 2.500 Griechen eine verschwindend kleine, wenn auch nicht stimmlose Minderheit sind.
Geschichte der Hagia Sophia
325 Kaiser Konstantin (306-337) beginnt den Bau der „Großen
Kirche“ auf der europäischen Seite des Bosporus.
398 Die der Heiligen Weisheit Gottes (Hagia Sophia) geweih-
te Kirche wird Patriarchalkirche. Zuvor war „Hagia
Irene“ ab 169 Hauptkirche des Patriarchen von Konstan-
tinopel.
404 Ein Konflikt zwischen Kaiser Arkadius und Patriarch
Johannes Chrysostomos eskaliert, nachdem dieser auf
Betreiben von Kaiserin Eudoxia abgesetzt worden war.
Bei einem Aufstand brennt die Kirche ab.
415 Kaiser Theodosius II. (408-450) eröffnet den Neubau
der Kirche.
532 Beim Aufstand gegen Kaiser Justinian (527-565) geht die
Hagia Sophia in Flammen auf.
537 Der von Justinian in Auftrag gegebene Bau wird nach fünf
Jahren fertiggestellt und eingeweiht.
553 und 558 Durch Erdbeben werden Teile der Hagia Sophia
beschädigt. Ein Teil der Kuppel stürzt ein.
565 Unter Kaiser Justinian II. (565-578) werden viele Mosaike
geschaffen.
641 Die Hagia Sophia wird Krönungskirche der byzantini-
schen Kaiser.
989 Erneut fügt ein Erdbeben der Hagia Sophia schwere Schä-
den zu. Der von Basileios II. (976-1025) beauftragte ar-
menische Architekt Trdat renoviert sie binnen sechs Jahren.
1204 Kreuzfahrer erobern Konstantinopel, plündern Stadt und
Basilika. Sie errichten ein Lateinisches Kaiserreich und
krönen in der Hagia Sophia Balduin von Flandern zum
Kaiser.
1261 Die Byzantiner erobern Konstantinopel zurück.
1453 Sultan Mehmet II. erobert Konstantinopel und wandelt
die Hagia Sophia zur Moschee um. Die in die Basilika ge-
flohenen Christen werden getötet oder versklavt. Ein Mi-
narett wird errichtet. Heute ist die Hagia Sophia von vier
Minaretten umgeben.
1454 Kirchenglocken, Altäre und die liturgische Geräte werden
zerstört oder weggeschafft.
1574 Das Baptisterium wird zum Grabmal für Sultan Selim II.
1849 Die Reichsmoschee Hagia Sophia wird unter Leitung ei-
nes Schweizer Architekten renoviert. Vom Mörtel ver-
deckte Mosaike werden freigelegt, später auf Druck mus-
limischer Eiferer aber wieder verputzt.
1932 Der Amerikaner Thomas Wittemore legt die Mosaike frei.
1934 Mit Zustimmung von Präsident Mustafa Kemal Atatürk
wird die Hagia Sophia zum Museum.
2014 Die AKP-Regierung spricht im Wahlkampf von einer
Rückwandlung der Hagia Sophia zur Moschee.
2015 Erstmals seit 1935 rezitiert ein Imam bei einer Ausstel-
lungseröffnung in der Hagia Sophia aus dem Koran am
orthodoxen Karfreitag.
2019 Präsident Erdoan kündigt die Umwandlung der Hagia
Sophia in eine Moschee an.
2020 Das Verwaltungsgericht in Ankara urteilt über den Status
der Hagia Sophia.
Dieser Beitrag von Stephan Baier erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.