Ex-Premierministerin Liz Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng hatten erst die Märkte und dann die Briten zu sehr verunsichert und mussten deshalb, eine nach dem anderen, zurücktreten. Nun zeigt sich die neue Regierung – mit einem rundum gegensätzlichen Programm – kaum weniger glücklos. Die Umfragezahlen haben sich allenfalls marginal verbessert und würden bei baldigen Neuwahlen wohl eine heftige Dezimierung der konservativen Fraktion bewirken.
Aber nicht eigenes Handeln soll laut Schatzkanzler Jeremy Hunt verantwortlich sein an der schwierigen Lage der britischen Staatsfinanzen. Überhaupt „schwierig“ – das ist das Lieblingswort dieses Verlegenheits-Schatzkanzlers, aus dem im Zweifel nur die Stimme seines neuen Herren Premier Rishi Sunak – spricht. Eine „schwierige Periode“ für alle, Wirtschaft, Bürger, Schulen, den NHS, und natürlich eine Menge „schwierige Entscheidungen“, die er und die Regierung treffen mussten. „Ich denke, wir sind uns dieser Herausforderungen sehr bewusst. Wir versuchen nicht so zu tun, als ob dies nicht für alle eine schwierige Zeit sein wird“, sagte Hunt auf Sky News. Der Krieg in der Ukraine, der Handelskrieg zwischen den USA und China oder – was sonst – der Brexit sollen es schuld sein. Was zu oft vergessen wird – und dabei hatte Premier Sunak selbst darauf hingewiesen –, ist die debilitierende Wirkung der Lockdown-Politik. Debil machend im wahrsten Sinne des Wortes.
600.000 Briten sollen einen Arbeitstrainer treffen
Eine Gesellschaft ohne direkten Kontakt, ohne Krankheitsrisiko, aber auch ohne die Möglichkeit, direkt zu interagieren. Und das taten Menschen traditionell auch und vor allem in ihrem Beruf. Der Gang ins Büro war eine lästige Angelegenheit, wenn der Morgen noch graute, aber er bot auch gewisse Tröstungen – etwa die Tasse heißen Kaffees aus dem Automaten, die man aber nicht alleine trank, sondern zusammen mit anderen.
Der Lockdown teleportierte all das in eine andere Dimension. Man machte es sich gemütlich auf der Couch, während man in Arbeits-E-Mails stöberte. Viele entdeckten ein anderes, kontemplatives Leben und wollten es bald nicht mehr missen. Britische Kommentatoren bemerken heute die Spuren eines Mentalitätswandels, der sich auch in der Arbeitslosenstatistik des Landes ausdrückt, wenn auch nicht direkt. Denn die 5,3 Millionen Briten, die derzeit nicht arbeiten und nicht arbeiten wollen, belasten die Arbeitslosenstatistik des Landes tatsächlich nicht. Sie beziehen „out-of-work benefits“, also Sozialleistungen der einen oder anderen Art. Hinzu kommen die 2,4 Millionen Studenten und die 1,2 Millionen „harten“ Arbeitslosen. Insgesamt also knapp neun Millionen Bewohner der königlichen Inseln.
Nun will Schatzkanzler Jeremy Hunt 600.000 Briten, die von Sozialleistungen leben, dazu verpflichten, einen „work coach“ (Arbeitstrainer) zu treffen, um ihre Arbeitsstunden zu erhöhen. Tatsächlich gibt es heute laut Guardian https://www.theguardian.com/business/2022/nov/17/huntcracks-down-on-benefit-claimants-amid-chronic-shortage-of-workers 630.000 mehr Briten, die auf solche Out of Work Benefits angewiesen sind als vor der Pandemie. Der chronische Arbeitskräftemangel auf der Insel beträgt allerdings das Doppelte: 1,2 Millionen Stellen sind offen. Etwas seltsam allerdings, dass man die Briten inzwischen zum Arbeiten tragen muss. Das entspricht nicht dem klassischen Charakter dieses Volkes.
Pandemiemaßnahmen schädigten Gesundheit und Staatsfinanzen
Das bemerkt auch die Leitartiklerin Janet Daley – internationalen Zuschauern als konservatives Feigenblatt in BBC-Rederunden bekannt – im Telegraph. Sie wundert sich über die fast unkommentierte Anomalie, dass derzeit ein Fünftel der Briten im erwerbsfähigen Alter „wirtschaftlich inaktiv“ ist. Viele von diesen Bürgern, die keine Anstellung suchen, gelten zudem als „chronisch krank“, nämlich 2,5 Millionen Briten. Und obwohl es sicher auch Simulanten darunter gibt, glaubt Daley, dass viele von ihnen ein reales Leiden entwickelt haben, zum Beispiel wegen der medizinischen Unterversorgung während der Pandemie, aber auch wegen der mentalen Belastungen der Pandemie.
Wenn also die wirtschaftliche Gesundung des Landes auch davon abzuhängen scheint, dass die Folgen der „langen Pandemie“ (Long Pandemic, nicht Long Covid) überwunden werden, dann wird an anderer Front immer klarer, wie sehr die Pandemiepolitik den Staatsfinanzen geschadet hat. Es war die Lockdown-Politik und nicht die Steuersenkungspläne einer Liz Truss und eines Kwasi Kwarteng. die den Spielraum der britischen Haushälter arg beengte. Darauf weist, ebenfalls im Telegraph, Jonathan Sumption hin.
Die nationale Rechnungsprüfungsorganisation (NAO) hat errechnet, dass schätzungsweise 376 Milliarden Pfund (433 Mrd. Euro) der britischen Staatsschulden auf die Lockdown-Serie zwischen März 2020 und März 2021 zurückzuführen sind. Das sind fast alle Schulden, die zwischen 2020 und 2021 gemacht wurden, und sie entsprechen 6.330 Euro Neuverschuldung pro Einwohner, wobei nur ein Viertel auf die medizinischen Folgekosten der Pandemie entfiel. Drei Viertel der Kosten verdankten sich der Entscheidung, die Bürger zum Zuhausebleiben zu verpflichten. Folglich musste, soweit nicht Heimarbeit möglich war, das staatlich unterstützte Kurzarbeitergeld ausgeweitet werden.
Es kommt die höchste Steuerlast seit siebzig Jahren
Dagegen soll Schweden in den Jahren 2020 und 2021 lediglich eine zusätzliche Verschuldung durch Pandemiemaßnahmen von 60 Milliarden Kronen (5,5 Milliarden Euro) gehabt haben, was nur 530 Euro pro Person entspricht. Jonathan Sumption schließt: „Wir zahlen den Preis für Panik, Populismus und schlecht durchdachte, unüberlegte Entscheidungen.“ https://www.telegraph.co.uk/news/2022/11/18/now-paying-terrible-price-lockdown/ Die Folgen werden nun mehr als klar: Jeremy Hunt hat ein straffes Neo-Budget insofern angekündigt, mit dem er die Tories (nicht mehr Labour) aus Sicht der Briten zur „Partei der hohen Steuern“ machte, weil eine „gesunde“ Währung (Mangel an Inflation) wichtiger sei als niedrige Steuern.
Tatsächlich steigen die Steuern mit dem neuen Herbstbudget auf einen Höchststand seit dem Weltkrieg. Nun kann man sagen: Mit Labour an der Macht wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Die Lockdowns hätten länger gedauert und die Schulden wären noch mehr durch die Decke gegangen. Dennoch müssen sich die britischen Konservativen vor einem zentristisch-en Kurs hüten, der ihr politisches Markenzeichen – eine Politik, die eigenständiges Wirtschaften fördert angreift. Etwa da, wo sich Unternehmen nicht auf das Steuersenkungs- oder doch Nichterhöhungsversprechen des 2019er Wahlprogramms verlassen haben. Hunt kündigte 25 Milliarden Pfund an Steuererhöhungen an, die nicht nur die Reichen treffen würden. Künftig sollen Angestellte schon ab einem Einkommen von 125.000 Pfund den Höchststeuersatz von 45 Prozent zahlen, den Truss und Kwarteng auf 40 Prozent senken wollten. Eine „schwierige Zeit“ komme auf alle zu, kommentierte Hunt nochmals mit Bedauern. Aber man habe ja auch den Mindestlohn auf gut zehn Pfund erhöht.
Das Institute for Fiscal Studies sieht in den nächsten beiden Jahren den stärksten Verfall der realen Einkommen und folglich des Lebensstandards seit Beginn der Aufzeichnungen voraus. Schon im laufenden Jahr falle der Lebensstandard um sieben Prozent. Vor allem die „Mitte Englands“ werde am stärksten betroffen sein, prophezeite Institutsleiter Paul Johnson: „Das wird jeden treffen. Aber gerade die Bezieher mittlerer Einkommen werden am stärksten betroffen sein.“ Ihre Löhne würden sinken und ihre Steuern steigen, während sie nicht „von der gezielten Unterstützung derjenigen profitieren, die bedürftigkeitsabhängige Leistungen beziehen“.