Tichys Einblick
Und das ist erst der Anfang

Großreinemachen in Warschau

Nach knapp einer Woche hatte die neue Regierung Tusk bereits die wichtigsten Marksteine der polnischen Identitätspolitik auf den Kopf gestellt: Entchristianisierung, Gleichschaltung der Medien, politische Festnahmen, Asylpolitik, stärkere Durchgriffsrechte für die EU, LGBTQ-Politik – auf allen diesen Gebieten finden gegenwärtig Revolutionen statt, welche die Gesellschaft überrollen.

IMAGO/Newspix

Der Regimewechsel in Warschau sei für alle Beteiligten das Beste: Selbst Konservative sollten für Tusk stimmen, um das Land zu Mäßigung, Normalität und Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen; Warnungen vor einer woken Gleichschaltung Polens seien populistische Panikmache. Doch was sehen wir jetzt? Noch nie wurde in der jüngeren Geschichte Europas ein Staat so rasch, so brutal und so vollständig ideologisch auf den Kopf gestellt – und zwar unter dem Applaus sowohl Berlins als auch Brüssels. Eine Lehre und ein Menetekel.

FEINDLICHE ÜBERNAHME
Wie in Polen der Rundfunk zum Regierungssender gleichgeschaltet wird – mit Zustimmung der EU
Oft genug ist von Seiten „zentristischer“ Stimmen zu hören, die angestrebte „woke“ Transformation unserer Gesellschaft sei eine bloße „Obsession“ der Rechten, welche einige wenige Einzelfälle verschwörungstheoretisch zur Basis eines chimärischen „Great Reset“ aufblase. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich diese Ziele eben keineswegs nur auf Seiten „rechter Spinner“ formuliert finden, sondern von allseits hofierten linksliberalen Ideologen wie Harari oder Schwab systematisch einem Millionenpublikum als positive Utopien vorgestellt werden, lässt sich gerade in den letzten Jahren auch faktisch überaus schön zeigen, dass jene neue Identitätspolitik nicht etwa Neben-, sondern Hauptkriegsschauplatz des politischen Geschäfts geworden ist; und zwar mit desaströsen Konsequenzen.

Polen liefert hierfür die Probe aufs Exempel. Nur wenige Tage hat es gedauert, und schon hat die Regierung Tusk sämtliche, aber auch wirklich sämtliche „Verschwörungstheorien“ bestätigt, die im Wahlkampf von einem Gutteil des polnischen Juste Milieu als vulgäre Hetze verächtlich gemacht worden waren.

Bereits die Zusammensetzung der Regierung war ein Schock: Während im Wahlkampf beteuert wurde, eine Koalition Tusk sei selbst für Konservative die „bessere“ Alternative, wurden sämtliche sozio-kulturelle Schlüsselpositionen allesamt mit Mitgliedern der linken bis linksradikalen Lewica besetzt, die keinen Hehl um ihre offen anti-christlichen und pro-LGBTQ-Ansichten machen (TE berichtete): Obwohl „Lewica“ nur 8,61 Prozent der Stimmen erzielte und im Vergleich zu den letzten Jahren bei den Wahlen 4 Prozent verlor, wird sie (zusammen mit einigen anderen linken Kleinstparteien) in der neuen Regierung das Ministerium für Digitalisierung, das Ministerium für Erziehung, das Ministerium für Familie, Arbeit und Soziales, das Ministerium für Wissenschaft und Forschung und schließlich das (neugeschaffene und in seiner Bedeutung völlig unklare) Ministerium für „Gleichheit“ besetzen.

Was das bedeutet, verrät ein Blick auf die neue Familienministerin Agnieszka Dziemianowicz-Bąk, die sich in den letzten Jahren einen fragwürdigen Namen gemacht hat, indem sie bei allen sich ergebenden Gelegenheiten für LGBTQ-Interessen und Abtreibung gekämpft hat und sich gerne in Hemden zeigt, die dazu aufrufen, Kinder vor dem Christentum zu schützen:

Die Dame mit dem Doppelnamen ist kein Einzelfall: Auch die neue Erziehungsministerin, Barbara Nowacka (ebenfalls Lewica), ist auf radikal anti-christlichem Kurs und will eine Halbierung des staatlich finanzierten Religionsunterrichts in den Schulen durchsetzen (der natürlich schon vorher nicht verpflichtend war, sondern durch „Ethik“ ersetzt werden konnte). Und man braucht als Westeuropäer keine große Phantasie, sich auch die Zielsetzung der baldigen Umgestaltung der Lehrpläne vorzustellen: Es beginnt immer säkular-laizistisch, geht dann explizit anti-christlich weiter und endet schließlich bei der Doktrin von den Verbrechen des alten, bösen Mannes, dem unterdrückerischen Patriarchat und dem Goldenen Zeitalter des toleranten Islams.

Doch weiter. Wie in einer bösen Neuauflage der autoritären Machtergreifungen der Zwischen- und Nachkriegszeit ließ die neue Regierung des lupenreinen Mustereuropäers Tusk, gerade erst am 13. Dezember eingeschworen, in der Nacht vom 20. auf den 21. Dezember den gesamten Führungsstab der öffentlich-rechtlichen Medien Polens – Fernsehen, Radio, Pressedienst – in einer Nacht-und-Nebelaktion fristlos entlassen, den Hauptsitz von TVP mit Sicherheitskräften besetzen, den Kanal kurzerhand einfach abschalten und schließlich sogar alle unliebsamen Dokus über die früheren Amtszeiten Tusks aus den Medienarchiven löschen.

Diese verfassungsrechtlich wohl nur euphemistisch als „umstritten“ zu bezeichnende Maßnahme ist seitdem noch komplexer geworden, als auf der einen Seite der (noch von der alten Regierung eingesetzte) Medienrat seinerseits eine neue Direktion ernannt hat, auf der anderen Seite die Regierung nun offen die wirtschaftsrechtliche Liquidation (und anschließend geplante Neugründung) der Sender verkündet hat: angeblich, weil aufgrund des Vetos von Präsident Duda gegen das 2024er Budget die Finanzlage eine Weiterführung der öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr erlaube. Faktisch aber, weil eine radikale Tabula Rasa natürlich völlig neue Perspektiven der personellen wie rechtlichen Umgestaltung der Sender ermöglicht, wie schon seit Wochen von der neuen Regierung immer wieder angekündigt.

Doch all dies war nur der Anfang. Ebenfalls am 20. Dezember wurde der scheidende Innenminister, Mariusz Kamiński, mitsamt seinem Stellvertreter in einer bis heute umstrittenen, höchst politisierten Korruptionsangelegenheit und trotz präsidialer Amnestie zu zwei Jahren Haft und fünf Jahren Verlust seiner bürgerlichen Rechte verurteilt und seine parlamentarische Immunität vom neuen Parlamentspräsident aufgehoben; ein kaum verhohlenes politisches Warnsignal: Kamiński, ehemals antikommunistischer Widerstandskämpfer, seit 2015 Geheimdienstkoordinator und seit 2019 Minister für Inneres und Verwaltung, war eine der zentralen Figuren der inneren Machtabsicherung der PiS-Regierung. Seine abrupte Inhaftierung soll ein Warnzeichen an alle seine Unterstützer in den Geheimdiensten und der Verwaltung sein und ist wohl nur der Anfang einer lange erwarteten Prozesswelle, mit der unliebsame ideologische Entscheidungen der Vorgängerregierung nun nachträglich juristisch kriminalisiert werden sollen – kein Wunder, dass Präsident Duda gegenwärtig davon spricht, Klage wegen politischer Verhaftung zu erheben.

Während also höchste Regierungsmitglieder 4 Tage vor Weihnachten ohne jegliche Reaktion der Weltöffentlichkeit hinter Gittern landen, werden jene Gitter, die das Land vom Zustrom muslimischer Migranten trennten, symbolisch abgebaut: Am 23. Dezember ließ sich der neue Parlamentspräsident mit breitem Lächeln vor laufenden Kameras mit Migranten verschiedenster Couleur ablichten, unter anderem einer schon mehrfach abgelehnten Asylbewerberin.

Auch symbolsprachlich erlebt Polen also eine geradezu Merkel’sche Zeitenwende, die übrigens einherging mit Berichten, die polnischen Gerichte würden demnächst die radikale Push-back-Politik der vorherigen Regierung als illegal erklären und die Posten an der belarussischen Grenze systematisch für Asylanten öffnen. Ist es Zufall, dass seitdem die Airline „Southwind“ eine neue Flugroute von Istanbul nach Minsk eröffnete, deren Tickets den Spottpreis von 195 Euro kosten sollen?

Wie die neue inklusive polnische Willkommenskultur jedenfalls aussehen sollte, demonstrierte am 22. Dezember bereits der neue Gouverneur der Wojwodschaft Lublin, Krzysztof Komorski (derselben Partei wie Tusk angehörend): Er ließ im Empfangssaal seiner Verwaltung das Kreuz abhängen, die EU-Fahne aufstellen und die vorweihnachtliche Krippe entfernen.

Rechtliche Stellungnahme TVP World
Die Regierung Tusk besetzt gewaltsam das polnische Fernsehen
Wenige Tage nach Weihnachten kam dann der nächste Schlag. Schon am 27. Dezember kündigte der neue Ministerpräsident Tusk die drei nächsten Schritte seiner Regierung an, die kaum weniger revolutionär sein werden als die letzten: Nachdem die Erziehungsministerin bereits die Halbierung des Religionsunterrichts ankündigte und Kreuze wie Krippen entfernt wurden, ließ Tusk den Plan verlautbaren, dass die polnische Kirche fortan nur noch durch freiwillige Steuerabzüge der Gläubigen finanziert werden soll – eine wahre Revolution in einem Land, das über Jahrhunderte im Katholizismus nicht nur das spirituelle und moralische, sondern auch das identitäre Rückgrat für den Kampf gegen die verschiedensten Besatzungsmächte und Assimilationsbestrebungen gefunden hat: Unvergessen, dass ohne einen Papst Johannes Paul II. ein Erfolg der polnischen Solidarność in ihrem Kampf gegen linken Totalitarismus unmöglich gewesen wäre.

Ferner soll Polen der Europäischen Staatsanwaltschaft EUStA beitreten, um europaweit mögliche „Hinterziehungen“ von EU-Subsidien zu ahnden, was faktisch den europäischen Institutionen einen noch größeren Einfluss auf die polnische nationale Gerichtsbarkeit ermöglichen wird. Und schließlich – der Leser wird es längst erwartet haben –: Innerhalb der nächsten Wochen soll ein Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verabschiedet werden, um auch in dieser Hinsicht Polen „zurück nach Europa“ zu bringen.

Knapp eine Woche an der Macht, und die Regierung Tusk hat bereits die wichtigsten Marksteine der polnischen Identitätspolitik auf den Kopf gestellt: Entchristianisierung, Gleichschaltung der Medien, politische Festnahmen, Asylpolitik, verstärktes juristisches Durchgriffsrecht für die EU, LGBTQ-Politik – auf allen diesen Gebieten finden gegenwärtig wahre Revolutionen statt, welche Staat und Gesellschaft völlig überrollen und natürlich ganz bewusst auf die Weihnachtszeit gelegt worden sind, während derer nicht nur die meisten Institutionen paralysiert sind, sondern auch wahre familiäre Völkerwanderungen stattfinden: der ideale Zeitpunkt zur Überrumplung des Gegners.

Und es handelt sich nur um den Anfang: Der große Showdown zur Neubesetzung des Verfassungsgerichts, die Abrechnung mit der Führungsspitze der PiS, die Frage nach der (von der Berliner Ampel unerwünschten) Errichtung erster polnischer Atomkraftwerke, die Banalisierung der Abtreibung, die Schließung sekundärer, ideologisch nicht genehmer politischer Experteninstitute und natürlich die Diskussion um die Umsetzung der kostspieligen und ebenfalls von Olaf Scholz abgelehnten polnischen Aufrüstungspläne stehen allesamt noch bevor.

Nächstes dystopisches Gesetz
EU nimmt Medienfreiheitsgesetz an und veranstaltete Testlauf in Polen
Was sagt die EU dazu, ansonsten traditionell als erste bereit, überall und jederzeit Brüche der „Rechtsstaatlichkeit“ zu wittern? Den Leser von Tichys Einblick wird wohl kaum verwundern, dass aus Brüssel dröhnendes Schweigen erklingt. Und mehr als das: Man wird wohl erwarten dürfen, dass der EU-Mann Tusk – langjähriger Vorsitzender der Europäischen Volkspartei und von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates – jeden einzelnen Schritt seiner Maßnahmen im Voraus mit seinen Kollegen in Brüssel (und Berlin) abgesprochen und im Gegenzug für die Selbstgleichschaltung auch schon den Lohn verhandelt haben wird. Denn wie es der Zufall will, hatte die EU sich bis genau Mitte November Zeit genommen, um schließlich doch noch eine Freigabe der ersten 5-Milliarden-Tranche jener Covid-Hilfsgelder zu beschließen, die aufgrund von „Rechtsstaatsbedenken“ bislang seit Monaten, ja Jahren einbehalten worden waren – also genau so lange, wie es brauchte, die polnischen Wahlen vom Oktober in einer Stimmung der völligen budgetären Unsicherheit abhalten und die informelle Nachfolgeregierung Tusk sich konstituieren zu lassen.

Dass die Gelder dementsprechend noch der abgewählten, aber geschäftsführenden PiS-Regierung während ihrer letzten Tage im Amt mit freundlichem Dank für ihre Anstrengungen gewährt wurden, war daher nichts weniger als eine schallende Ohrfeige, ja eine bewusste Erniedrigung des verhassten Gegners; sowohl für die scheidende Regierung als auch für alle jene Wähler, die tatsächlich geglaubt haben mögen, die juristischen Bedenken gegen die konservative Warschauer Regierung seien ernstzunehmender und nicht nur rein politischer Art. Denn profitieren wird von dem Geld natürlich die Regierung Tusk, nachdem es dramatisch in den Kassen der Regierung Morawiecki fehlte.

Welche Lehren kann man aus den Vorgängen ziehen? „Was der Rechtstaat ist, bestimme ich“, könnte man den Brüsseler Institutionen in Abwandlung eines ähnlichen Diktums in den Mund legen, oder, anders ausgedrückt: Solange es den ideologischen Vorgaben des woken Mainstreams entspricht, werden auch noch die brutalsten Reformen als Marksteine auf dem Weg zu mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gutgeheißen, während analoge Maßnahmen, wenn sie von den „Falschen“ unternommen werden, gleich zu Frontalangriffen auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurechtgelogen werden. Nun zählt ein gehöriges Maß an Machiavellismus seit jeher zur Politik. Das Problem allerdings, das sich in Polen erstmals in dieser Schärfe zeigt, ist Folgendes: Wer zu oft vor dem Wolf warnt, verliert schließlich jegliche Glaubwürdigkeit, vor allem, wenn er sich selbst bei erster Gelegenheit genau wie eben jener Wolf benimmt und unter dem Vorwand, dieser habe doch genau dasselbe getan, eine völlig neue Stufe der Eskalation eröffnet.

Dass zumindest einige Medien dies nicht nur erkennen, sondern auch noch explizit gutheißen – die Berliner Zeitung forderte Tusk sogar auf, zum autoritären Herrscher zu werden, um Polen zu „demokratisieren“ –, zeigt, wie weit es um die Verrohung unserer Demokratien bestellt ist.

Wer Verstöße gegen den Rechtsstaat brandmarkt, kann diesen nicht seinerseits vollends pulverisieren, ohne seine Antagonisten im Rückblick indirekt zu rehabilitieren und, schlimmer noch, auch noch die letzten Hemmschwellen für seinen eigenen Nachfolger zu beseitigen. Genau das geschieht gegenwärtig unter dem Applaus Berlins und Brüssels in Polen, und in Anbetracht der bald nicht nur in Europa, sondern auch in den USA stattfindenden Wahlen steht zu befürchten, dass Tusks brachiale „The Winner Takes It All“-Strategie nicht etwa als Abschreckung, sondern vielmehr als Handlungsanleitung gedeutet werden könnte.

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