Die britische Regierung will ihre Beziehung zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einer Überprüfung unterziehen. Im Laufe der kommenden Monate werden die Empfehlungen eines Expertenrats dazu erwartet. Der Straßburger Gerichtshof, einst vom Europarat gegründet und 1998 von Grund auf reformiert, wird meist fraglos zu den »europäischen Institutionen« gezählt. Doch so wie es Moral und Hypermoral gibt, so gibt es auch Europa und Hyper-Europa. In diesem Sinn kann man den EGMR nur eine hyper-europäische Institution nennen, ebenso wie es die EU und ihre Institutionen (Kommission, Parlament, EuGH) sind.
Der Straßburger Gerichtshof wurde 1959 von den damals fünfzehn Mitgliedsstaaten des Europarats gegründet, um die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu interpretieren. Ende der neunziger Jahre wurde der Menschenrechtsgerichtshof weitreichend umgestaltet, was sich unter anderem im britischen Human Rights Act niederschlug, mit dem die damalige Labour-Regierung unter Tony Blair die Bedeutung der Straßburger Urteile für das Königreich ausbauen wollte.
UK hatte bald 200 Millionen Pfund Unkosten wegen gescheiterter Abschiebungen
Was ist nun eigentlich das Problem am Wirken des EGMR aus der Sicht der britischen Regierung? Zunächst einmal lohnt es, daran zu erinnern: Der Europarat wurde ursprünglich als erster Schritt zu einer politischen Vereinigung des Kontinents gegründet. Heute könnte man ihn als Vorhof der EU bezeichnen. Die Mitgliedschaft im Europarat gilt als Voraussetzung für einen EU-Beitritt. Auch wenn die beiden Institutionen nichts miteinander zu tun haben, sind sie doch miteinander verwoben und verdanken sich demselben Gründungsimpuls.
Die Einwände der Briten sind dabei sehr spezifisch gegen den Gerichtshof selbst und seine Urteile gerichtet. Vor allem ist der EGMR für eine ziemlich migrationsfreundliche Rechtsprechung bekannt, die sogar die Abschiebung von schwer straffälligen Migranten praktisch unmöglich macht. Die Daily Mail beklagt, oft werde der Gerichtshof angerufen, um Abschiebungen, die laut nationaler Gesetzgebung rechtens sind, zu bekämpfen. Der EGMR habe seine Kompetenzen zu oft überschritten und dadurch neue Rechte erschaffen, die von seinen Gründern nie beabsichtigt waren.
Von Urteilen zum Abschiebungsrecht waren unter anderem Dänemark, Italien, Polen, Belgien und Griechenland betroffen. Die Frage ist, ob diese Serie von Urteilen nicht der eigentliche Auslöser der großen Migrationskrise seit 2015 war. Jüngstes Beispiel: Der EGMR stoppte die Abschiebung eines Afghanen aus Österreich wegen der aktuellen Sicherheitslage in seinem Herkunftsland. In der Folge wurde auch ein Abschiebeflug von München nach Kabul abgesagt. Inzwischen ist die Lage – gelinde gesagt – noch etwas komplizierter geworden. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) schloss Abschiebungen nach Afghanistan »spätestens mit dem heutigen Tag« aus. Das EGMR ist also der Gerichtshof, der Abschiebungen unmöglich machte, bevor sie unmöglich wurden.
Das Vereinigte Königreich hatte im letzten Haushaltsjahr 2019/20 Unkosten in Millionenhöhe wegen abgesagter Abschiebeflüge, daneben 40 Millionen Pfund Prozesskosten wegen Asylfällen. Den Löwenanteil des britischen Asylbudgets verschlingt freilich die Unterbringung von derzeit etwa 60.000 Asylbewerbern, von denen 19.400 bereits abgelehnt wurden (400 Mio. Pfund Kosten). Insgesamt gab das Königreich fast eine Milliarde Pfund für sein Asylsystem aus. Im vergangenen September sagte Boris Johnson, er werde nach Wegen suchen, um Abschiebungen trotz gerichtlicher Prüfmechanismen zu erleichtern.
Keine Abschiebung von Straftätern nach Somalia – wegen der Scharia
Schon 2011 verhinderte der EGMR die Abschiebung zweier hochkrimineller Somalis aus Großbritannien, da ihnen in ihrem Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe (Sufi and Almi v. The United Kingdom, 28. Juni 2011). Der absurde Gipfel der Argumentation: Gerade die zahllosen Verbrechen der beiden Somalier – darunter Raub, Betrug, Morddrohungen und Drogendelikte – sprachen aus Sicht des Gerichts gegen ihre Abschiebung. Denn in ihrer Heimat erwarte sie eine Verurteilung nach der landesüblichen Scharia. Später konnte das AIRE Centre, laut Eigenbeschreibung eine »legal charity«, erwirken, dass dieser Abschiebeschutz auf weitere 214 somalische Migranten ausgeweitet wurde.
Die Abkürzung steht für »Advice on Individual Rights in Europe«. Die NGO sieht ihre Aufgabe in der Rechtsberatung, dem Prozessieren vor den supranationalen europäischen Gerichten sowie der Stärkung des »europäischen Rechts« im Allgemeinen. Auf ihrer Website gibt es – wie bei vielen NGOs – einen Menüpunkt, unter dem Unterstützer präsentiert werden. An dieser Stelle findet man meist kommerziell wirkende Logo-Quilts, die an die Sponsoren internationaler Sportereignisse erinnern. Im Fall des AIRE Centre sind ein öffentlich-rechtlicher Sender (Radio 4 der BBC), der Europarat, das britische Außenministerium, die EU-Kommission, die EU-Grenzschutzagentur Frontex (!) sowie verschiedene Stiftungen vertreten, darunter der britische National Trust und die Open Society Foundations, die einst von dem ungarisch-amerikanischen Investor George Soros ins Leben gerufen wurden.
Die Rolle der NGOs: Unsichtbare Hände der Justiz?
Nun kann ein Privatmann wie George Soros sein wie auch immer verdientes Geld nach eigenem Belieben in strategische und politische Projekte stecken. Vieles spricht dafür, dass er mit seinen Stiftungen heute nur den Boten stellt, der private Spenden mit ähnlicher Interessenlage bündelt und an ihr Ziel bringt. Falls aber auch öffentliche, staatliche (UK) und supranationale (EU) Gelder an das private AIRE Centre geflossen sind, dann stellen sich zahlreiche Fragen.
- Ist der Einsatz von EU-Kommissionsgeldern für eine letztlich parteiliche Prozessier-NGO nicht eine Art Veruntreuung?
- Was hat »strategic litigation« (strategisches Prozessieren) zugunsten vorbestrafter Ausländer mit der Bewahrung des britischen nationalen Erbes zu tun, die der Daseinszweck des National Trust ist?
- Warum setzt sich ein öffentlicher Radiosender für eine solche Rechtsstreit-Charity ein?
- Und wie steht es am Ende um die Unabhängigkeit eines Gerichts, das sich in seinen Verfahren auf solche NGOs stützt und sich ihrer bedient, um funktionsfähig zu sein?
Fragen über Fragen, auf die es vermutlich keine befriedigenden Antworten gibt. Es ist natürlich nichts anderes, wenn deutsche Städte und Gemeinden private »Seenotretter«, vulgo Schlepperhelfer, unterstützen. Auch hier stimmt das Verhältnis von Staat und Privat nicht. Übrigens unterhielt ausgerechnet der von Großbritannien ans EGMR entsandte Richter Tim Eicke in seinem Vorleben enge Beziehungen zum AIRE Centre, daneben auch zur ebenfalls britischen NGO Interights. Das geht aus einer groß angelegten Studie des Straßburger European Centre for Law and Justice (ECLJ) hervor, die letztes Jahr enge Verflechtungen zwischen dem EGMR, seinen Richtern und sieben NGOs nachwies, die besonders aktiv an dem Straßburger Gericht sind.
Laut der Studie von Grégor Puppinck und Delphine Loiseau bilden die Open Society Foundations des George Soros das heimliche Zentrum im Geflecht dieser sieben NGOs, die sich im Bereich »strategic litigation« am EGMR tummeln. Die Soros-Stiftungen – die nicht umsonst im Plural stehen – haben nicht nur mit der Open Society Justice Initiative (OSJI) einen Prototyp der Prozessier-NGO geschaffen, sondern unterstützen auch andere beteiligte NGOs mit großzügigen Spenden, darunter Amnesty International, die US-amerikanische Human Rights Watch, die internationalen Helsinki-Komitees und andere mehr. Allein die Zentrale von Amnesty International erhielt nur im Jahr 2018 mehr als zwei Millionen Dollar von den Soros-Stiftungen (daneben gab es weitere Fördergelder für die AI-Ableger in Irland, den USA und Flandern). Fast genauso viel erhielten 2019 die Helsinki-Komitees in Norwegen, Ungarn und Polen.
Wird man die Zusammenarbeit zur inneren Sicherheit opfern?
Seit der erfolgreichen Vollendung des Brexits scheint das Thema des EGMR und einer britischen Bill of Rights etwas an Triebkraft in der Öffentlichkeit verloren zu haben. Trotzdem ist die Distanzierung vom EGMR, dessen Urteile ohnehin nicht von allen Rechtsgelehrten der Insel als bindend angesehen werden, auch heute noch aktuell. Die konservative Regierung will diese Auffassung stärken. Schon bald könnte sie die britischen Richter auch offiziell informieren, dass sie durch EGMR-Urteile »nicht gebunden« sind. Das fordern zumindest angesehene Juristen wie der Kronanwalt Lord Pannick. Auch Justizminister Robert Buckland findet diese Idee angeblich »sympathisch«. Der Human Rights Act soll dazu geändert werden.
Nur die EU will offenbar verhindern, dass London ein weiteres Band zum Kontinent kappt und droht schon einmal mit der Beendigung der Zusammenarbeit bei der inneren Sicherheit, die im dritten Kapitel des Brexit-Vertrags festgeschrieben ist. London will die Sicherheitspartnerschaft fortsetzen, um grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Aber die EU legt Wert auf die Anerkennung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Straßburger Gerichtshofes. Ersetzte London die EMRK durch eine Bill of Rights und erkennte es die EGMR-Urteile folglich nicht mehr an, so gälte es in einem weiteren Punkt als abtrünnig – Grund für neue Strafmaßnahmen, die vielleicht erneut den Rest Europas mehr träfen als die Insel.
Allerdings würden die Brexit-Hardliner der European Research Group sogar einen Ausstieg aus Kapitel drei akzeptieren, um Großbritannien aus der Straßburger Gerichtsbarkeit zu befreien. In London geht man von einer sehr hartnäckigen Haltung der EU aus, sollte die britische Regierung versuchen, die Geltung von EGMR-Urteilen einzuschränken. Das war aber bei keinem der vorherigen Befreiungsschritte anders.