Über Keir Starmer weiß man, dass er den Freitagabend mit seinen Kindern verbringt. Auf Virgin Radio sagte er am Montag: „An einem Freitag – und das halte ich schon seit Jahren so – mache ich nach sechs Uhr nichts mehr, was mit der Arbeit zu tun hat, komme was wolle.“ Ebendas will Sir Keir auch als Premierminister tun, und dies sorgt gerade für den letzten leichten Aufruhr vor den Wahlen vom Donnerstag: „Um sechs Uhr gehen wir also nach Hause und sind am Freitagabend als Familie zusammen.“ Die Zeit mit seinen Kindern werde ihn zu einem besseren Politiker machen, hielt Starmer zudem seinen Kritikern entgegen.
Einige verstanden aber, dass er kein 24/7-Premier sein werde. Und noch andere schlossen, dass er vielleicht jeden Abend um 18 Uhr die imaginäre Stechuhr in Downing Street bedienen, sich in seine privaten Räume begeben und sich von da an nicht mehr mit Politik befassen würde. Manche glauben gar, dass er eigentlich gar keine große Lust auf seinen Job habe – ganz im Gegenteil zu Margaret Thatcher, die bis spät abends über ihren Akten sitzen konnte. Starmer könnte die Verkörperung der Generation Sabbatical in Downing Street werden. Dafür geht er aber schon jetzt von zehn Jahren ungestörter Herrschaft aus.
Wer ist Starmer?
Als junger Mann war Keir Starmer der Haldane Society beigetreten, einem linken Anwaltsverein, der das staatliche Justizsystem als Instrument zur Umsetzung sozialistischer Ideen ansieht. 2014 wurde er von Prinz Charles zum Ritter geschlagen und kann sich seitdem Sir Keir nennen, was ihn allerdings zugleich als Aufsteiger in die Elite des Landes kenntlich macht und so den Appeal seiner proletarischen Anfänge (falls der jemals vorhanden war) zerstört. Im Wahlkampf erzählte Starmer immer wieder von seinem Vater, der Werkzeugmacher gewesen sei – bis das Publikum darüber zu lachen begann.
Spannend wird es, wenn sich die Lobby pro Meinungsfreiheit von den nicht mehr regierenden Konservativen emanzipiert und noch stärker als eigene Gruppe wahrnehmbar wird mit Exponenten wie J.K. Rowling, John Cleese oder dem Vorsitzenden der Free Speech Union, Toby Young. Diese Gruppe von Streitern für die Meinungsfreiheit kann nur stärker werden, wenn dieses zentrale Gut von einer britischen Regierung angetastet werden sollte – etwa durch neue Transgender oder Blasphemie-Gesetze.
J.K. Rowling kann nicht für dieses Labour stimmen
Die transgender-kritische Romanautorin Rowling war früher selbst einmal Labour-Mitglied, hat aber inzwischen Probleme, für ihre alte Partei zu stimmen. In einem Gastbeitrag für die Times warnte sie Starmer, die Frauenrechte nicht hintanzustellen. Starmer vollzog in diesen Fragen eine kleine Wende und schloss sich der Position Tony Blairs an, wonach „biologisch gesehen eine Frau eine Vagina und ein Mann einen Penis hat“.
Man weiß aber nicht genau, ob nun diese Aussage von Blair/Starmer die Labour-Position definiert oder eher die Worte der Schattenministerin für internationale Entwicklung, Lisa Nandy: „Ich denke, Transfrauen sind Frauen, ich denke, Transmänner sind Männer, also denke ich, sie sollten in dem Gefängnis ihrer Wahl untergebracht werden.“ Was übrigens nicht vollkommen logisch ist: Denn wenn es sich schlicht um Frauen und Männer handeln würde, dann bräuchten die Trans-Varianten wohl keine Wahlfreiheit. Schattenaußenminister David Lammy hatte zudem gesagt: „Soweit ich weiß, kann man einen Gebärmutterhals nach verschiedenen Verfahren und Hormonbehandlungen bekommen.“ Ein geradezu groteskes Verständnis von Biologie. Trotzdem: Starmers Wende zeigt vielleicht eine allgemeine Wende in der britischen Öffentlichkeit an.
Allerdings wäre der Kampf für die Meinungsfreiheit mit diesem Erstarken einiger Einzelkämpfer noch nicht gewonnen. Auch die Gegenkräfte werden ja gerade stärker, ausgesprochene, entschiedene Muslime haben zuletzt Lokalwahlen für sich entschieden. In vielen Wahlkreisen können die Muslime auch am Donnerstag Zünglein an der Waage spielen, weil sie dort die einfache Mehrheit stellen.
Farage denkt in langen Linien
Starmer will „Veränderung durch Stabilität“. Die Brexit-Debatte will er nicht wiederaufnehmen. Aber vermutet wird dennoch, dass er das Königreich wieder näher an die EU führen könnte. Nicht verhindern wird und kann das Nigel Farage, der ewige Joker der britischen Politik, der sich zuletzt mal über die Wahlsiege Le Pens und Bardellas jenseits des Kanals freute und dann wieder vor den beiden warnte: Die Lepenisten würden „noch schlechter für die Wirtschaft“ sein „als die jetzige Truppe“, also Macron & Co. Dabei hat das RN seine Wirtschaftspolitik ja schon ziemlich verdünnt vor dieser Wahl. Es wird das wohl auch weiter tun, falls notwendig. 2017 hatte Farage Le Pen noch als gute Führungsfigur für Frankreich herausgestellt. Nun soll es also die Wirtschaftspolitik sein, die die Populisten spaltet.
Farages Absichten sind für viele durchaus unklar, auch in Großbritannien. Seit er wieder Chef von „Reform UK“ ist, hat die Nachfolgerin seiner Brexit-Partei die Konservativen gelegentlich sogar in der Wählergunst überrundet. Das geschah auch aktuell wieder in einer Umfrage für GB News, wo die Tories nur 16 Prozent, Reform aber 20 Prozent erhielt und Labour mit einem etwas knapperen Vorsprung von „nur noch“ 16 Prozentpunkten (bei 36 Prozent) führt. Doch für Konservative und Reform bedeutet das noch keine vermehrten Sitzgewinne, im Gegenteil. Laut älteren Umfragen kann Reform ohnehin wohl nur mit einer Handvoll Sitze rechnen (null bis 18 in der absoluten Spitze, eher wohl drei oder vier), während die Konservativen aufpassen müssen, dass sie nicht unter 100 Sitze fallen – wie in neun von 16 Sitzprojektionen, die es seit Ausrufung der Neuwahlen durch Sunak gab.
Zuletzt hat Farage selbst etwas getan, um den Erfolg von Reform zu dämpfen: Er sagte, der Westen habe Russland zum Angriff auf die Ukraine provoziert. Darauf folgte der erste Rückgang der Umfragewerte seit Farages Eintritt in den Wahlkampf. Boris Johnson fand, wie zu erwarten war, die zugespitzte Formel für diese Wahlkampfphase, natürlich aus Sicht der Konservativen: „Lasst nicht zu, dass die Putinisten uns die Corbynisten bringen.“ Aber Johnson steht gar nicht zur Wahl, und der Rückzug von anderen Tory-Größen wie Michael Gove führt dazu, dass in deren Wahlkreisen nun die (übrigens ziemlich illiberalen) Lib Dems gewinnen können – natürlich auch dank der tatkräftigen Unterstützung durch Nigel Farage. Der könnte ein größeres Werk im Blick haben: die „Reformierung“ nicht nur des Vereinigten Königreichs, sondern zunächst der konservativen Partei. Oder eben ihre Ersetzung. Das wird mehr als eine Wahlperiode in Anspruch nehmen, denn so hoch liegen nun einmal die Hürden in einem Mehrheitswahlrechtsystem, das dafür eine wirkliche Unterstützung des einzelnen Kandidaten herstellt, der damit unabhängiger von seiner Partei wird.
Starmers Pläne: Weniger legale Zuwanderung und mehr Polizei
Die „Reform“ des UK wird Farage also, wenn überhaupt, nur langfristig bekommen. Zunächst erhält Labour die Gelegenheit, sein Programm umzusetzen. Verzweifelt wird nun daran erinnert, dass auch Labour eine furchtbare Pandemie-Politik befürwortete, was keineswegs mit einem späten Wahlsieg belohnt werden dürfe. Bei der nächsten Pandemie werden also ähnliche und noch schlimmere Maßnahmen zu erwarten sein – Boris Johnson hatte ja zumindest anfangs ein paar Zweifel.
Nun kann Starmer bald zeigen, ob er mehr im Sinne der einfachen Bürger handeln wird. Labour will Asylanträge auch nach illegaler Einreise wieder zulassen und die Ruanda-Gesetzgebung abschaffen. Stattdessen will Starmer der Polizei mehr Vollmachten bei der Schlepperjagd geben und von Lösungen absehen, die stattfinden, nachdem die Migranten englischen Boden betreten haben. Damit ist eben der Ruanda-Plan gemeint, mit dem die Konservativen illegale Migranten abschrecken wollten. Daneben will Starmer die legale Zuwanderung verringern (letztes Jahr: 685.000; 2022: 764.000). Der eindeutig linke Guardian vermisst nur die Schaffung von „sicheren Routen“. Aber das kann ja auch eine Ministerin noch beitragen. Vorgesehen ist Yvette Cooper für das Innenministerium, die einst auch für den Parteivorsitz gehandelt wurde. Angeblich will sie nun für mehr Polizeipräsenz in England und Wales sorgen, ganz im Gegensatz zu deren Ausdünnung nördlich des alten Hadrianswalls.