Tichys Einblick
Erster Ruanda-Flug gescheitert

Johnson bleibt dabei: Schleppern muss das Handwerk gelegt werden

Aus dem ersten britischen Abschiebeflug nach Ruanda wurde nichts. Dafür sorgten NGOs, Anwälte und der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Doch die Konservativen haben die Wähler auf ihrer Seite. Am Ende könnte sogar der Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson vor seinem Amtssitz in London, 15.06.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Es war keine glückliche Stunde für die britische Regierung. Am selben Tag, an dem das Ausfliegen illegaler Migranten misslang, kündigte die EU an, im Kampf um das Nordirland-Protokoll die Glacé-Handschuhe abzulegen und das Vereinigte Königreich notfalls auch zu verklagen. An der Stelle geht es oberflächlich um Zölle, am Ende aber um die Frage, ob Nordirland integraler Bestandteil Großbritanniens ist oder zwischen den beiden „Unionen“ (der britischen und der europäischen) eine Art schwebenden Zustand einnimmt. Aus Londoner Sicht ist der EU-Vorschlag, der so nicht explizit formuliert wird, natürlich eine Zumutung.

Der erste Ruanda-Flug der britischen Regierung ist – fast erwartungsgemäß – gescheitert. Eine Entscheidung des vielberufenen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) machte die letzte Hoffnung auf eine gerade mal zweistellige Besetzung der gecharterten Boeing 767 zunichte. Einem Iraker gestand das Straßburger Gericht zu, dass er durch den Flug „das Risiko eines nicht rückgängig zu machenden Schadens“ erleide. Das ist eine merkwürdige Formulierung, die nach „Bein ab“ oder Ähnlichem klingt. Tatsächlich haben die EGMR-Richter gewissermaßen recht, denn mit dem Flug ins sichere Ruanda wäre der Traum des Irakers von einem Leben in Großbritannien erledigt gewesen.

Tatsächlich scheint es dem Menschenrechtsgerichtshof genau um diesen Besitzstand des illegalen Migranten gegangen zu sein, die Chance auf Asyl, auf Aufnahme in Großbritannien, die gewahrt werden musste. Er und alle anderen abgeschobenen Migranten müssten die Möglichkeit bekommen, nach Großbritannien zurückzukehren. Dann wäre dem Ruanda-Plan der Regierung Johnson allerdings ein wichtiger Zahn gezogen.

Andere fragen sich, warum es unbedingt der 14. Juni sein musste, an dem der erste Flug ging. Denn im Juli wird ein britisches Gericht ohnehin die Zulässigkeit des britischen Ruanda-Plans klären. Auch die Richter am Straßburger EGMR verweisen darauf. Was wollten Johnson und Patel also? War das Ganze nur eine Ablenkung von anderen Problemen? Oder betrachten die Konservativen ihr Vorgehen als eine Seelenmassage für viele Briten, die sich an den Gedanken harter Maßnahmen im Umgang mit der illegalen Zuwanderung erst gewöhnen müssen?

„Leftie lawyers“ und Straßburg gegen das neue Gesetz der Konservativen

Es kam jedenfalls nicht anders als erwartet. Ursprünglich sollten 130 Migranten nach Ruanda ausgeflogen werden. Aber Johnson hatte schon früh vorausgesagt, dass sich unzählige NGOs und linksstehende Anwälte („leftie lawyers“) dagegen auflehnen und klagen würden. So geschah es. Und so schmolz die Zahl der zugelassenen Passagiere immer weiter ab. Der Daily Mail sagte Johnson: „Es wird eine große Opposition von jener Art Firmen geben, die über lange Zeit das Geld der Steuerzahler in Anspruch genommen hat, um derlei Prozesse anzustrengen und den Willen des Volks, den Willen des Parlaments auszubremsen. Wir sind bereit, wir werden in den Kampf gehen und die Sache zum Laufen bringen.“

Einstweilen läuft noch nichts. Aber die Opposition gegen den Plan nahm zuletzt wieder mediale Formen an: Prinz Charles fand ihn „entsetzlich“. Die Frage ist, ob es einem Thronfolger zukommt, sich so in die Politik einzumischen. Johnson hat seine Kritik umgehend zurückgewiesen. Dem Radiosender LBC sagte er: „Es ist entscheidend, dass wir die kriminellen Banden zerschlagen, die Menschenleben in Gefahr bringen. Sie verkaufen falsche Hoffnungen an die Menschen und verleiten sie zu extremen Risiken und Straftaten.“ Die Aufgabe einer Regierung sei es, Menschen daran zu hindern, das Gesetz zu brechen und diejenigen zu unterstützen, die sich richtig verhalten.

Auch Kirchenvertreter nahmen Stellung, man kann sich denken, mit welchem Ziel („Schande für die Nation“). Ebenso konnten Fernsehpräsentatoren und Mitglieder der Liberal Democrats nicht fehlen. In Deutschland entspräche ihnen allen das grün wählende Establishment mit seiner Unkenntnis jeder realistischen Politik. Dagegen unterstützen laut eine YouGov-Umfrage 74 Prozent der konservativen Wähler diese spezifische Politik ihrer Regierung. Labour hat den Plan vor allem aus Kostengründen angegriffen.

Inzwischen hat sich auch der ruandische Botschafter in London, der Hohe Kommissar Johnston Busingye, zu Wort gemeldet und versichert, dass sein Land ein „sicherer Hafen“ für die Migranten sein werde. Busingye ist enttäuscht, dass viele Kommentatoren die Motivation seines Landes bei der Aufnahme der Migranten und zugleich deren faire Behandlung durch das Land in Frage gestellt haben. Ruanda ist seit 2009 ein Mitglied des Commonwealth of Nations, obwohl es nie britische Kolonie war; die Mitgliedschaft bedeutet vor allem, dass sich Ruanda dem britisch geprägten Ostafrika angenähert hat. Die Asylbewerber würden in Ruanda mit „Würde und Respekt“ behandelt werden, so Busingye.

Kommt jetzt der Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention?

Die Konservativen müssen ihr Werk, das sie vor den Augen der Wähler, in einer Arena des Kampfes mit „linken Anwälten“ begonnen haben, nun zu Ende führen und den veralteten Human Rights Act, der das Königreich an das EGMR bindet, abschaffen oder zurückschneiden. Mehr noch könnte London seinen unilateralen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EKMR) erklären und eine eigene britische „Bill of Rights“ ausarbeiten. Und vielleicht stand auch dieser Wunsch nach einer noch deutlicheren Unabhängigkeit von hyper-europäischen Mechanismen und Clubs hinter dem eilig vorangetriebenen Ruanda-Plan.

Eins ist dagegen nicht mehr möglich: ein Zurückweichen, gar Aufgeben des ursprünglichen Plans. Johnson hat bereits Anfang des Monats angekündigt, dass der Streit um die Asylpolitik – erneut – zum Spaltpilz zwischen London und dem Kontinent werden könnte. Laut der Times hält er nun auch ein Verlassen der Menschenrechtskonvention für einen gangbaren Weg.

Etwas muss jedenfalls geschehen. Die illegale Migration über den Kanal hinweg – in Booten und nicht weniger gefährlichen Lastwagen, in denen immer wieder Menschen ersticken – hat sich seit 2018 jedes Jahr annähernd verdreifacht. In diesem Jahr sollen es bereits 60.000 illegale Migranten gewesen sein, was wiederum einer deutlichen Steigerung entspräche. Sogar die EU-Agentur Frontex geht von einem Plus von 122 Prozent bei den „ausgehenden“ Migranten aus der EU ins Königreich aus. Also wieder eine Mehr-als-Verdoppelung der Zahlen. Auf der Insel ist vielen klar, dass an dieser Stelle dringend etwas geschehen muss.

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