Analog zum Pyrrhus-Sieg könnte man den Starmer-Sieg als einen Triumph definieren, bei dem sich dennoch ein zehrendes schlechtes Gewissen einstellt, weil die Dinge im Untergrund doch gar nicht so klar sind, wie der oberflächliche Blick nahelegt. Am britischen Wahlabend herrschte eine merkwürdige Stimmung im Fernsehstudio der BBC. Man hätte eine Jubelstimmung erwartet, nicht nur bei den vermutlich links tendierenden Moderatoren, sondern auch bei einem Gast wie Peter Mandelson, einem legendären Spindoctor der Labour-Partei.
Doch die Versammelten waren ganz im Gegenteil betreten, weil zugleich mit dem Erdrutschsieg von Keir Starmer die Konservativen sehr nachgegeben hatten, wie man es erwartet hatte. Doch sie hatten nicht nur an Labour zu ihrer Linken abgegeben, sondern auch an einen Konkurrenten auf der Rechten: Reform UK könnte – laut Exit-Polls, Wählerbefragungen an den Wahllokalen – 13 Sitze gewonnen haben, was aus deutscher Sicht wenig scheint.
Aber natürlich hat das Zusammenklappen des alten Gegners, der Konservativen auf etwas über 100 Sitze, einen Effekt auf Labour. Es verunsichert, so wie das Zusammenklappen der SPD nach Schröders Abgang auch einen Konservativen beunruhigen konnte. Es war das Signal dafür, dass etwas Neues kommen würde. Und das war an diesem Wahlabend ja auch schon der Fall.
Reform UK wird zum großen Gewinner
Aber war vielleicht alles nur eine Luftspiegelung? Im Schaubild der BBC stand Nigel Farages Partei anfangs direkt neben Starmers Labour, schlicht aus dem Grund, dass zufällig in den bereits ausgezählten Wahlkreisen „Reform UK“ insgesamt mehr Stimmen hatte als die Konservativen. Definitiv gewonnen hatte Reform da noch keinen Sitz im Unterhaus, aber die Tories hatten schon einen verloren.
Doch am Tag nach der Wahl stellt sich unvermeidlich die Frage nach der Zukunft Rishi Sunaks. Vielleicht bleibt sie das Thema auf den geleerten Bänken seiner Partei, aber die Chancen stehen gut, dass diese Frage bald schon zum öffentlichen Thema wird. Lee Anderson, der wohl bekannteste Übertreter von den Konservativen zu Reform UK gewann seinen Wahlkreis mit 17.000 Stimmen. Ganz früher war der Red-Wall-Kandidat auch bei Labour. Um 2.30 Uhr Ortszeit wurde Keir Starmer – feiernd und stumm – gesehen. Seinen jüngst in einer Nachwahl gewonnenen Sitz verlor George Galloway von der „Workers Party of Britain“, was Neil Kinnock (vor Urzeiten ewiger Labour-Führer in der Opposition) im Studio kräftig feierte: Galloway, der vor allem auf die Stimmen von Muslimen, Gaza- und Palästina-Freunden setzte, sei einfach „abstoßend, Abscheu erregend, widerwärtig“. Die Wahlbeteiligung war allgemein sehr niedrig, etwa bei 54 Prozent in Keir Starmers Wahlkreis, den er gegen ein halbes Dutzend Gegenkandidaten gewann.
Um diese Uhrzeit erwartete man auch den Sieg von Nigel Farage in seinem Wahlkreis.