Die Regierung Merkel hat es anscheinend auf die rasche Erlangung der »Herdenimmunität« abgesehen. Der Schutz sensibler Bevölkerungsteile, überhaupt die Eindämmung der Epidemie geriet darüber früh in den Hintergrund. Explizit ist freilich nicht von einer solchen Strategie die Rede. Gestreut wurde nur die epidemiologische Zahl von 60–70 % Infizierten, die irgendwann ohnehin erreicht werde.
In der Pandemie-Strategie, die Boris Johnson letzte Woche vorstellte, hatte der Begriff »Herdenimmunität« dagegen einen offiziellen Platz, was in den britischen Medien sofort breit kritisiert wurde. Doch ging Johnson den viel gescholtenen Weg seiner Regierung immerhin ganz bewusst, legte den genutzten fachlichen Rat offen und formulierte auch die notwendigen gesellschaftspolitischen Ergänzungen öffentlich.
Sicher, einige mittel- und osteuropäische Staaten haben niedrige Zahlen und versuchen noch, eine Epidemie zu vermeiden. Doch im westlichen Europa hat man auf eine konsequente Eindämmungsstrategie weitgehend verzichtet. Dazu sah man sich vielleicht auch gesellschaftspolitisch, weil Freiheitsrechte berührt waren, nicht in der Lage. Die Öffentlichkeit musste erst das Bedrohliche der Lage erkennen. Schließlich konnte es auch aus wirtschaftlicher Sicht vorteilhaft erscheinen, nicht zu sehr einzugreifen. Die medizinische Sicht wird eine andere sein und letzten Endes vielleicht auch einschneidende Folgen für die Wirtschaft haben.
Die Briten haben nun jedenfalls ganz offiziell die Eindämmungsphase (containment phase) beendet und sind in die Verzögerungsphase (delay phase) eingetreten. Die Verzögerung des Epidemieverlaufs bildet dabei den ersten Teil eines Plans zur Abmilderung (mitigation) der Pandemie, deren zweites Element der Ausbau des Gesundheitssystems ist. Wichtig zu wissen: Großbritannien befindet sich derzeit etwa vier Wochen hinter Italien, was das Fortschreiten der Epidemie angeht, also wohl um die zwei Wochen hinter Deutschland.
Vorsorgliche Quarantäne für die Alten
Die wichtigste soziale Ergänzung der Regierung zu diesem wissenschaftlichen Aufriss dürfte die vorsorgliche Quarantäne der Alten für ganze vier Monate sein, die vermutlich in den nächsten 20 Tagen beschlossen und dann in Kraft gesetzt werden soll. Laut dem Journalisten Robert Peston sollen die Über-70-Jährigen diese noch genauer zu bestimmende Zeit in strikter Isolation verbringen, um ihre Ansteckung während des Epidemiehöhepunkts zu vermeiden. Die Spitze der epidemischen Welle vermutet man demnach in der Zeit zwischen April und Juli.
Der ärztliche Berater der Regierung hatte diese Maßnahme in der Pressekonferenz erläutert. Noch sei nicht die Zeit für dieses Mittel gekommen, da die Quarantäne die Alten natürlich belasten würde. Hier knüpfte auch die öffentliche Kritik an der Regierungsmaßnahme an: Einige der Alten, so meint man, könnten in dieser Zeit der Einsamkeit schlicht durch Vernachlässigung sterben. Um die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Maßnahme abzufedern, geht die Regierung von einer zeitlich begrenzten Periode aus. Folglich müsse man den richtigen Zeitpunkt abpassen, in dem das Wachstum der exponentiellen Kurve deutlich ansteigt und so eine maximale Schutzwirkung für die Älteren erzielt werde. Daneben sei nun auch noch Zeit, sich in Nachbarschaften und Freundeskreisen zu vernetzen. Durch freiwillige Helfer könnte so eine bessere Versorgung der Alten sichergestellt werden. Außerdem versucht man, vorab die Lieferung von Essen durch Dienstleister wie Uber und Deliveroo sicherzustellen. Video-Sprechstunden sollen bei der medizinischen Versorgung helfen.
Abmilderung
Neben dem Schutz der Älteren und Kranken steht als nächstes das Bemühen, diese Spitze auch für die Gesamtbevölkerung abzuflachen. Hierzu empfiehlt die britische Regierung Menschen mit leichten Symptomen, für sieben Tage zu Hause zu bleiben und nur bei Verschlechterung ihres Zustandes den Notruf zu wählen. Von der häuslichen Isolation erhofft man sich eine Abflachung der allfälligen Epidemiespitze um 20 bis 25%. Eine weitere Verringerung um 25% könne eine Isolierung jeweils des gesamten Haushalts bringen. Die Quarantäne der Alten hätte dagegen vor allem eine Wirkung auf die Sterblichkeit dieser Kohorte, weniger auf das Tempo der Epidemie. Merkwürdig ist allenfalls die Kürze der Selbstquarantänierung, wo andere Regierungen von zwei bis vier Wochen ausgehen.
Ab dem kommenden Wochenende sollen zudem erst Massenveranstaltungen verboten, später könnten Pubs und Restaurants geschlossen werden. Vorerst riet die Regierung nur von deren Besuch ab. Zugleich will man die Produktion von Beatmungsgeräten ankurbeln und die Schulen weitestgehend schließen – mit einer Ausnahme: Die Kinder der Angestellten des nationalen Gesundheitssystems sowie der Polizei sollen auch weiterhin mit geschrumpften Personal betreut werden. Zuletzt wird die Errichtung von Sperrbezirken in einzelnen Ortschaften für die Zukunft nicht ausgeschlossen.
Es ist dieser nationale, offen kommunizierte Plan mit seiner Umsicht und seinen Details, der in Deutschland fehlt. Wenn Angela Merkel in ihrer typischen Art so tut, als fielen die 70% vom Himmel und müssten einfach nur gestreckt werden, dann fehlt ihr ein konkretes Vorgehen, um die empfindlichen Teile der Gesellschaft dabei zu schützen.
Abschließend sagte Boris Johnson: »Auch wenn die Lage derzeit hart erscheint, dann denken Sie daran, dass das Land diese Epidemie durchstehen wird, genauso wie es zuvor viele noch härtere Erfahrungen überstanden hat, wenn wir aufeinander achten und uns mit ganzem Herzen zu einer nationalen Anstrengung verpflichten.«
Das Gegenmodell: maximaler Schutz
Das Gegenmodell zur »Herdenimmunität« bestünde in einer möglichst umfassenden Kontrolle und Eindämmung der Epidemie. Dieselbe müsste offenbar mit den ersten festgestellten Infektionsfällen einsetzen und die Weitergabe des Virus darüber hinaus unmöglich machen. Das hat man in Deutschland jedoch nur dort versucht, wo man bereits von einem klinischen Fall wusste. Ohne nachgewiesene Infektion fühlten sich die Gesundheitsämter, Praxen und Kliniken nicht verantwortlich. Und da obwohl man doch seit langem wusste, dass es Infektionen ohne klinische Symptome gibt und dass diese Infizierten ihrerseits ansteckend sind.
Die Krankheitsverteilung nach Altersklassen, wie man sie in Südkorea beobachtet hat, betont die hier liegende Problematik: Die jungen Alterskohorten zwischen 20 und 50 Jahren sind in Südkorea deutlich stärker durchseucht als die Älteren, bei denen sich aufgrund von Vorerkrankungen aber regelmäßig eher Komplikationen einstellen. Die gesunden Jungen stecken also die kranken Alten an. Sie multiplizieren durch ihre Symptomfreiheit und die von ihnen gezeigte soziale Aktivität die Infektionsraten in der gesamten Gesellschaft.
Die südkoreanischen Zahlen sind vermutlich einzigartig in der Welt, weil das Land so gründlich testet wie kaum ein anderes. Die in der verlinkten Graphik unterlegten italienischen Zahlen – mit einem viel höheren Anteil an älteren Infizierten – dürften ihrerseits auf die italienische Testpraxis zurückgehen, die sich stärker auf die Krankenhäuser, also auf Fälle mit Komplikationen konzentriert.
Getestet werden müssten alle Patienten, die auch nur über Halsschmerzen oder eine leichte Erkältung klagen. Dass man das nicht tut, hängt wiederum mit der Vulnerabilität des Gesundheitswesens zusammen, das man offenbar schon in dieser frühen Phase schonen zu müssen meint. Doch sind wir überhaupt noch in einer frühen Phase? Vermutlich nicht mehr. Wenn man ernst nimmt, was Experten sagen, dass wir nämlich nur zehn Tage hinter Italien zurückliegen – während zwischen uns und Italien noch Spanien und Frankreich rangieren –, dann tanzt das Europa der offenen Grenzen gerade auf einem Vulkan und befindet sich im Vorfeld eines katastrophischen Covid-19-Ausbruchs, wie wir ihn in Italien derzeit erleben. Spanien bleibt nur einen Schritt dahinter zurück und unternimmt gewaltige Anstrengungen. Auch Frankreich und Deutschland könnten noch eine Chance haben, den Katastrophenfall zu vermeiden – wenn sie handeln.
In Großbritannien hat Boris Johnson auf die Kritik an seiner Strategie reagiert und will nun die Testkapazitäten des Königreichs drastisch hochfahren. Auch wenn Regierungsvertreter behaupten, das sei kein Sinneswandel, sondern Teil der alten Strategie: Johnson scheint verstanden zu haben, dass die Herdenimmunität kein Selbstzweck ist, dass man sich einem exponentiellen Wachstum der Infektionen in jedem Fall entgegenstellen muss – mit allem, worüber ein Land verfügt.
Entgegen anderslautenden Berichten stützte sich die britische Strategie nie allein auf die Errichtung einer breiten Immunität, sondern wurde von Anfang an durch schützende Maßnahmen flankiert, die teils – wie die Quarantäne der Alten – wohl nicht weniger schockierten. Gemessen an den Ergebnissen muss sich die Kommunikationsstrategie der britischen Regierung aber nicht verstecken. Schon zu Beginn der Woche zeigten britische Medien Bilder von leeren Straßenzügen und U-Bahnen. Eine Home-Office-Welle hat auch auf der Insel eingesetzt, da nun jeder daran denkt, sich vor der Krankheit zu schützen. Man sieht, dass auch maximale Ehrlichkeit einen positiven Effekt haben kann.