Tichys Einblick
Internationaler Trend: Verluste sozialisieren

Trotz Ruanda-Plan: Sollen ältere Briten Asylbewerbern Platz machen?

In Großbritannien werden die Wohnungen knapp. Nun greifen erste Verwaltungsbezirke zu privatem Eigentum, um Asylbewerber unterzubringen. Auch in Hamburg werden die Lasten der illegalen Migration sozialisiert. Neu ist, wie sehr der Staat dabei seinen Bürgern auf die Pelle rückt.

Unterkunft für Migranten, Comfort Inn Hotel an der Belgrave Road in Pimlico in London, Aufnahme vom 02.06.2023

picture alliance / empics | James Manning

Manchmal fällt auf, wie parallele Diskussionen in an sich nur vergleichbaren, nicht aber gleich gelagerten Ländern geführt werden. Zum Beispiel Cannabis: In Deutschland wird es freigegeben, und es gibt eine Diskussion darüber, wie man Kindern den Anblick kiffender Personen ersparen kann. Zur gleichen Zeit verkündet das British Board of Film Classification (BBFC), dass Cannabis-Konsum nun auch Kindern ab 12 Jahren zuzumuten sei – auf Leinwand und Bildschirmen, und das, weil die Zuschauer der Sache inzwischen entspannter gegenüberstehen. Und natürlich tritt die deutsche Legalisierung eine Kaskade ähnlicher Diskussionen in anderen Ländern los, etwa auch in Frankreich und dem Vereinigten Königreich. In Frankreich überlegt man bereits, was es für die Drogenkartelle des Landes bedeuten würde, wenn sie auf die Einkünfte aus Cannabis verzichten müssten.

Ähnlich scheint es beim Thema der illegalen Migration, die ohnehin ein gesamteuropäisches Problem ist, auch wenn der wirtschaftlich saturierte Westen des Kontinents deutlich stärker betroffen ist als der allenfalls aufstrebende Osten. In Großbritannien bleibt die Atmosphäre rund um das Thema hitzig, obwohl wir in Deutschland viel höhere Zahlen haben. Aber auf den Inseln ist man es gewohnt, dass Zuwanderung einen ökonomischen Nutzen hat und nicht Schäden anrichtet. Das scheint der Unterschied zu Deutschland zu sein.

Fast 5.000 illegale Migranten sind bis Ende März an englischen Küsten angelandet, schreibt Kent Online. Und dort müsste man es wissen. Denn in Kent liegt Dover und damit der Ort, an dem England dem Kontinent am nächsten kommt, also auch die günstigste Stelle für das Anlanden der „kleinen Boote“, die weiterhin das britische Gemeinwesen belasten.

Der Unterschied der britischen von den Frontex-Zahlen

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat sogar noch eine höhere Zahl mitgeteilt, und das schon vor einem Monat. Im Januar und Februar waren den EU-Ländern am Ärmelkanal, also vor allem Frankreich und Belgien, demnach 6.146 Migranten durch die Lappen gegangen. Inzwischen könnten es bei linearem Fortgang etwa 9.000 sein.

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Warum unterscheiden sich die Zahlen? Man weiß nicht einmal, ob Frontex die Zahlen vergrößert oder die britische Regierung sie kleinrechnet, wozu schon mehr Grund wäre. Auch ist nicht anzunehmen, dass so viele Migranten auf der Überfahrt ertrinken oder eine Passage nach Island oder Neufundland antreten. Eine logische Erklärung wäre, dass die Illegalen, die in England angekommen, schleunigst untertauchen, um sich der Schwarzarbeit oder organisierten Kriminalität zu widmen.

Nun darf man sich auch darüber wundern, dass Frontex jene Zahl nur bürokratisch erfasst, anstatt sich um ihre Senkung zu sorgen. Aber die Agentur dient dem EU-Grenzschutz bekanntlich „nur dem Namen nach“, wie man spätestens wissen kann, seitdem ihr ehemaliger Direktor Fabrice Leggeri (inzwischen EU-Kandidat des Rassemblement national) offenlegte, wie die EU-Kommission und andere Akteure (Parlamentarier und NGOs) die illegale Migration sehen – als Zustrom aus „Liebe“ etwa, wie es Innenkommissarin Ylva Johansson ausdrückte.

Aber egal ob 5.000 oder 9.000 illegale Kanal-Überquerer in drei Monaten, für viele Briten wären beide Zahlen mehr als genug. Rishi Sunaks Ziel, das er noch vor den kommenden Wahlen erreichen wollte, war: „Stop the boats“ – die Boote aufhalten, die illegalen Einreisen beenden. Die Wahlen finden vermutlich noch in diesem Jahr statt und werden inzwischen von vielen Konservativen verloren gegeben. Das Versagen am Kanal trägt natürlich dazu bei.

Aufklärungsoffizier a.D.: Staatliche Akteure für Migrationsströme verantwortlich

Es wird aber noch merkwürdiger. Denn inmitten der Beratungen zum neuen Ruanda-Gesetz gibt es eine steigende Anzahl von positiv beschiedenen Asylbewerbern, die nun von den Kommunen untergebracht werden müssen. Sie wechseln aus den Händen des Innenministeriums direkt in die Sozialwohnungen der Grafschaften und Verwaltungsbezirke. Der Rückstau beim Home Office beträgt noch ungefähr 100.000 Anträge, wovon vielleicht die Hälfte am Ende für eine Abschiebung nach Ruanda in Frage kommt – es gilt ein Stichtag, der 1. Januar 2022. Eigentlich könnten es doppelt so viele Zuwanderer sein, denn noch einmal so viele kommen vielleicht dazu, die direkt nach ihrer illegalen Einreise untergetaucht sind. Aber die müssen zumindest nicht mit Steuergeld untergebracht werden.

Innenminister James Cleverly beklagt sich laut Kent Online, dass die Church of England zu viele Konversionsersuchen annimmt – und so Gründe für positive Asylbescheide schafft. Laut Cleverly unterstützt die Kirche das Regierungsziel, die Boote zu stoppen, eigentlich. Man merkt es nur nicht immer, sei es beim Thema Konversionen oder bei den geistlichen Lords im Oberhaus, die gegen das Ruanda-Gesetz stimmten.

Übrigens war auch jener Asylbewerber Abdul Ezedi, der kürzlich ein Laugen-Attentat mit einer stark alkalischen Flüssigkeit auf eine Frau und ein Kind verübte, ein christlicher Konvertit gewesen. Der Aufklärungsoffizier a.D. Philip Ingram sagte im Privatsender Talk TV, man solle „diesen Müll“ schlicht loswerden. Für Ingram ist klar, dass die ungeregelte Zuwanderung über den Kanal Straftäter, Terrorschläfer und die soziale wie wirtschaftliche Disruption nach Britannien bringt. Zudem unterstütze man damit die internationale organisierte Kriminalität und zuletzt sogar staatlich gesteuerte Akteure wie die Wagner-Söldner, auch China und den Iran, die für einen Großteil dieser illegalen Migration verantwortlich seien.

Freundliche Briefe werden an Hausbesitzer verschickt

Am Ende ist es wie in anderen Ländern auch: Es ist beinahe egal, ob ein Asylbewerber akzeptiert oder abgelehnt wurde oder ob er sich im Entscheidungs-Rückstau von 80 Wochen befindet – auf Deutsch heißt das übrigens reguläres Asylverfahren von über 22 Monaten. Der Migrant muss zu allen Zeiten irgendwo wohnen und wird dabei meist auf öffentliche Unterstützung angewiesen sein.

Im privaten Nachrichtenkanal GB News kann sich der Gastgeber Patrick Christys aber noch etwas anderes vorstellen. Der TV-Journalist erwartet wilde Zeltsiedlungen von obdachlosen Migranten in allen größeren Städten, ähnlich wie es sie in Frankreich und Belgien gibt, einfach weil die nun zur Diskussion stehenden Unterkünfte lächerlich klein seien. Suzanne Evans, ehemals Tory- und später UKIP-Stadträtin in London und davor Journalistin bei der BBC, geht noch einen bis zwei Schritte weiter: Sie erinnert an Briefe, in denen Hausbesitzer darüber informiert wurden, dass ihr Eigentum – gegen eine Entschädigung – zwangsweise aufgekauft werde, weil sie etwa als älteres Ehepaar zu viel Wohnraum belegen. Damit sei „das Recht auf Privateigentum in diesem Land so gut wie ausgehebelt“, so Evans (hier auch als Youtube-Video, ab Minute 4:00).

„Recht auf Privateigentum so gut wie ausgehebelt“

Genauso ging es Jose und Ted Saunders, einem älteren Ehepaar aus North Northamptonshire östlich von Birmingham. Im Februar erhielten sie einen Brief des Verwaltungsbezirks, wonach ihr Reihenmittelhaus als „leerstehend oder verlassen“ gelte. Wohlgemerkt, es ist kein Ferienhaus, sondern das Haus, in dem die beiden seit vielen Jahren wohnen. Auch im Bezirk gibt es eine steigende Anzahl positiver Asylbescheide, vor allem von alleinstehenden Männern, für die die Behörden nicht leicht eine Unterkunft finden.

Im Fall der Saunders war der Brief ein Versehen. Ihr Haus steht ja auch nicht leer, das sah man ein. Aber das Ehepaar ist trotzdem empört und findet, die Lösung des Problems könne nicht in solchen Konfiszierungen stecken, sondern darin, die Ankunft der Asylbewerber in England zu verhindern. Unklar bleibt ja auch, ob man so nicht den einen oder anderen fügsamen Rentner aus seinem „viel zu großen“ Reihenmittelhaus drängen will.

Der Bezirksrat von North Northamptonshire bedauert die Sorgen des Ehepaars angesichts des unberechtigten Briefes – man habe leider auf veraltete Daten zurückgegriffen –, aber insgesamt seien die „empty property initiative letters“, die Briefe der Leerstandsinitiative „mit Dankbarkeit aufgenommen“ worden. Überhaupt: Leerstehende Häuser mit den jungen Männern zu besetzen, sei eine „ideale langfristige Lösung“, die zum Besten der Besitzer und der Verwaltung seien, sozusagen eine Win-Win-Situation. Vielleicht ist es also wie in Deutschland auch: Viele Besitzer baufälliger Ruinen freuen sich, diese für teures Geld an Kommune oder Landkreis verkaufen zu können.

Sterbehilfe aus wirtschaftlichen Gründen?

Darüber hinaus muss Suzanne Evans aber an einen Text des Journalisten Matthew Parris denken, der letzte Woche in der Times sein altes Argument von 2015 wiederaufnahm und Sterbehilfe (im Englischen auch „euthanasia“ genannt) auch deshalb für zukunftsträchtig hält, weil viele ältere Leben keine „menschliche Nützlichkeit“ mehr hätten. Parris ist vielleicht gar nicht dieser Ansicht, glaubt aber, dass diese Entwicklung so und so auf uns zukomme wegen der finanziellen Last der Altenpflege. Die Kolumne hat ein breites, teils entsetztes Medienecho gefunden. In Kanada gab es seit der Legalisierung der Sterbehilfe 45.000 Anwendungsfälle, was einer Ersparnis von 600 Millionen Dollar für das Gesundheitssystem entsprechen soll. An diese gewaltige Ersparnis muss man wohl denken, wenn von „ethischen“ Gründen für Sterbehilfe oder Euthanasie die Rede ist. Evans findet die gesamte Entwicklung „unheimlich“.

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Zurück zum Privateigentum der Briten: Schon im Februar berichtete der Telegraph, dass das Home Office schon heute 16.000 Immobilien für die Ansiedlung von Asylbewerbern angemietet hat. Diese normalen oder auch Sozialwohnungen stehen dem beengten Wohnungsmarkt der Inseln schon heute nicht mehr zur Verfügung. Mehr als 58.000 Migranten werden in ihnen beherbergt. Laut dem Telegraph wären eigentlich 30.000 Objekte nötig, um den gesamten Rückstau der 100.000 unterzubringen. Das könnte die Besiedlung ganzer Viertel umkrempeln. Nicht, dass das Königreich damit noch keine Erfahrungen hätte.

In Großbritannien gelten gemietete Wohnungen mit Kosten von 30 Pfund pro Tag und Person als deutlich billiger als Hotels bei 150 Pfund pro Tag. Das erinnert an den Kontrast zwischen den hohen Kosten für die Unterbringung in Großunterkünften wie Tegel und Tempelhof im Vergleich zur günstigeren Unterbringung in teilweise Luxus-Hotels in Ku’damm-Nähe. Allerdings sind die Folgen für die normalen Briten nicht immer erfreulich. So kann es passieren, dass man plötzlich Asylbewerber als Nachbarn hat, auch wenn man vorher viel Geld für das eigene Haus ausgegeben hat.

Auch in Hamburg: Einschränkung der Grundrechte, Enteignung

Ende März hat auch der Hamburger Senat einen Beschluss gefasst, nach dem es möglich werden soll, auf leerstehende Immobilien zuzugreifen, auch wenn der Eigentümer dies nicht will. Die bestehenden Unterkünfte für Asylbewerber sind zu 98 Prozent, die zentrale Erstaufnahme ist immerhin zu 52 Prozent ausgelastet. Bald werden 870 Plätze in Hotels wegfallen, weil die Verträge auslaufen. Aktuell plant die Stadt, Zelte in Parks und auf Festplätzen aufzustellen. Der nächste Schritt wird die Zwangsrequirierung von Privateigentum sein.

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Die Zwangsanmietung stellt laut Hamburger Abendblatt „gewissermaßen ein letztes Mittel dar, wenn die Kapazitäten in den vorhandenen Erstaufnahme- und Folgeeinrichtungen, in ehemaligen Schulgebäuden, Messe- und Gewerbehallen, Bürogebäuden, Hotels und Zelten nicht mehr ausreichen“. Ungenutzte Grundstücke, Gebäude oder Gebäudeteile könnte die Stadt Hamburg dann „sicherstellen“, wie der Fachterminus heißt. Auch in Berlin maßt sich Flüchtlingskoordinator Broemme an, zu bestimmen, dass Leerstand in einer Migrationsgesellschaft nicht akzeptabel sei. Die Folge werden auch hier irgendwann Enteignungen sein.

Damit sie in Hamburg möglich werden, muss das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) von der Hamburger Bürgerschaft geändert werden. Wie gut, dass die Hansestadt ein eigenes Bundesland mit Gesetzgebungskompetenz ist. So soll es den Behörden erlaubt sein, die interessierenden Gebäude zu betreten und sie auf ihre Eignung zu prüfen – was allein schon das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung einschränkt. Die Grundrechtsumgehung soll deshalb zeitlich befristet zunächst bis zum 31. März 2026 gelten. Eine großzügige Frist, die sich dann auch wieder fristgerecht verlängern lässt.

Schon heute enorme Kosten für die Fördern & Wohnen

Eine Art Zwangsmiete wird fällig: Die Stadt sei verpflichtet, den Eigentümern für die Inanspruchnahme „auf Antrag eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten“, schreibt das Abendblatt. Aber: „Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Sicherstellung haben keine aufschiebende Wirkung.“ Ob sich die Stadt am Ende für Wohnhäuser oder doch eher für gewerbliche Immobilien entscheiden wird, ist noch völlig unklar.

Sicher ist: In Großbritannien ebenso wie in Hamburg gibt es schon Websites, auf denen sich Interessierte melden können: Die registrierte Charity Refugees at home fragt nach „freien Zimmern“ und vermittelt diese an „Flüchtlinge“. In Hamburg gibt es die Anstalt des öffentlichen Rechts Fördern & Wohnen (F&W), die schon länger einen Schwerpunkt bei der Wohnungssuche für Asylbewerber und Flüchtlinge hat. Dabei entstehen freilich enorme Kosten schon für die Bereitstellung der Unterkünfte (s. Frage 2), umso mehr für Mieten (s. Anlage 1). 

Fast 50.000 Asylbewerber werden von der Freien und Hansestadt Hamburg derzeit beherbergt. In Großbritannien laufen derweil 100.000 viele Asylanträge, was doppelt so viele wie in Hamburg sind. Die Bundesrepublik Deutschland beherbergt – gemäß Königsteiner Schlüssel – etwa 38-mal so viele Asylbewerber wie Hamburg. Das ist die deutsche Asylkrise in drei Sätzen.

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