Tichys Einblick
Zurückweisung an der Grenze

Griechenland soll Migranten gegen Migranten eingesetzt haben

Griechische Grenzschützer sollen Vereinbarungen mit Migranten getroffen haben, um sie als Helfer bei Zurückweisungen einzusetzen. In Athen wird man die Nachricht wohl entspannt nehmen. Nur Annalena Baerbock sah sich zum Protest genötigt.

IMAGO / Norbert Schmidt

„Geflüchtete als Handlanger“, ja „Sklaven“ des griechischen Grenzschutzes? Mit dieser reißerischen Behauptung gibt der Spiegel seinem neuesten Stück Auslandsberichterstattung aus Griechenland einen Rahmen („frame“), verleiht ihm den nötigen Dreh („spin“), um sich bei den wohlmeinenden Kreisen der deutschen Innenpolitik Gehör zu verschaffen. Das seinen Sitz in den Niederlanden habende Journalistenteam Lighthouse Reports titelt gleich mit diesem Satz: „We were slaves“ („Wir waren Sklaven“). Laut Guardian stammt diese Aussage von zwei der Migranten, die angeblich durch mündliche Abmachungen zu Hilfsdiensten im Grenzbereich herangezogen wurden.

Die Geschichte ist ein weiterer Akt in der nicht enden wollenden Suche nach dem endlich hieb- und stichfesten Beweis für griechische Refoulements, Zurückweisungen oder Pushbacks an der Evros-Grenze zur Türkei. Auch die neueste Recherche wurde wieder von einem internationalen Rechercheverbund getragen. Beteiligt waren Tageszeitungen wie der Guardian und Le Monde sowie der ARD-Report München. Daneben waren einmal mehr die „kollaborativen Journalisten“ vom Lighthouse Report mit an Bord, die sich vor allem durch Rekonstruktionen, 3D-Modelle und dergleichen hervortun.

In einem von der französischen Tageszeitung Le Monde veröffentlichten Video sieht man Migranten, die auf einer Insel im Evros buchstäblich gestrandet sind. Es ist sozusagen der Dschungel von Adrianopel, der heute türkischen Grenzstadt Edirne, ein kleiner Teil davon. Die Kinder sind krank, haben Fieber oder sind dehydriert. Doch eine Rückkehr ins sichere Transitland Türkei scheinen die Reisenden nicht zu erwägen. Die griechischen Polizisten und Soldaten, die sie schließlich in ein Auffanglager bringen, werden von einigen Helfern begleitet, die „fließend Arabisch sprachen“. Diese Helfer hätten alle Migranten geschlagen, geht die Aussage weiter, bevor sie die Migranten letztlich wieder auf die türkische Seite des Flusses brachten.

Praxis begann spätestens im Jahr 2019

In den vergangenen drei Jahren (seit Mai 2019) soll es mindestens 163 solche Refoulement-Operationen im Bereich des Evros gegeben haben, so Le Monde. Diese Praxis würde also der Evros-Krise im März 2020 vorausgehen und sogar dem Amtsantritt der konservativen Regierung unter Kyriakos Mitsotakis im Juli 2019. 11.500 Personen seien so in die Türkei „zurückgeschoben“ oder abgewiesen worden. Einer von den Helfern, der syrische Migrant Saber, sagt, im Winter seien 80 bis 90 Menschen am Tag in die Türkei zurückgeschoben worden.

Dass diese Menschen das Recht auf einen Asylantrag in Griechenland haben, ist dabei zwischen Athen und anderen (Regierungen wie Beobachtern) umstritten. Die griechische Regierung steht auf dem Standpunkt, dass die Türkei für die Mehrheit der illegalen Migranten (aus meist muslimisch geprägten Ländern) ein sicheres Herkunftsland darstellt.

Befragt haben die Rechercheure vor allem sechs migrantische Grenzschutz-Helfer. Laut ihren Berichten hätten griechische Grenzschützer einigen der von ihnen gefassten illegalen Migranten ein Angebot unterbreitet: Entweder du arbeitest für uns und hilfst uns bei der Zurückweisung illegaler Migranten aus der Türkei oder du wirst zu einer jahrelangen Gefängnisstrafe verurteilt. Wenn sie das Angebot annahmen, erhielten die mutmaßlichen Schlepper eine griechische Aufenthaltserlaubnis für 30 Tage. Einer der Helfer gibt an, nach drei Monaten aus dem „Dienst“ entlassen worden zu sein, wonach er sich über die Balkanroute absetzen konnte. Die griechische Grenzpolizei hätte, stimmen diese Berichte, ihr eigenes „Flüchtlingsabkommen“ abgeschlossen, in dem sie einigen wenigen Migranten Vergünstigungen gewährt, um die schwierige, von internationalen Beobachtern argwöhnisch beäugte Arbeit an der Grenze zu leisten. Man kann all das abscheulich finden.

Konnte „Mike“ dennoch weiter schleusen?

Ein weiterer, von allen nur „Mike“ genannter Syrer soll so etwas wie der Vorsteher dieser obskuren Gruppe gewesen sein. Er soll sich durch seine Geschäfte beträchtlich bereichert haben. Das Geld, das er den Migranten abnimmt, schickt er demnach über Athen nach Frankreich, wo er ein Haus und einen Mercedes besitze. Auf Bildern trägt er eine graue Camouflage-Uniform, natürlich ohne Dienstabzeichen.

Brisant ist ein anderer Vorwurf, wonach „Mike“ auch als Assistent der griechischen Grenzschützer weiterhin freie Hand für genuine Schlepperdienste hatte. Er konnte demnach auch in seiner neuen Funktion „Neuankömmlinge“ nach Griechenland bringen, die in Istanbul dafür bezahlt hatten. Die Grenzbeamten hätten das hingenommen, vielleicht sogar unterstützt. Waren diese Schleuserdienste ein „Gefallen“ der Beamten für ihren obersten Helfer oder sollten auch die derart eingeschleusten Migranten als Helfer im Kampf gegen die massenhafte illegale Migration agieren?

Das wird aus keinem der Berichte klar. In jedem Fall erscheint die Einschleusung als der Zehnt, den die griechische Regierung zahlt, um halbwegs geordnete Verhältnisse an der Landgrenze sicherzustellen. Anwohner berichten laut Spiegel davon, dass man im Grenzbereich bei Tychero und Chimonio keine Migranten mehr sehe – nur die von den Grenzern eingesetzten. Die Praxis ist demnach ein offenes Geheimnis in der Region.

Athen: Schutz der Grenzbeamten hat Vorrang

Nun könnte man die gesamte Recherche in Zweifel ziehen, was die griechische Regierung zweifellos tun wird – wenn sie ihr überhaupt Beachtung schenkt. Sind die vorgelegten Beweise wasserdicht? Man hat nicht immer den Eindruck. Auf der Lighthouse-Seite findet man ein 3D-Modell, das zeigt, von welcher Qualität die „Beweise“ und „Rekonstruktionen“ der Rechercheure für ihre Thesen sind: Auf einem Photo, das einen der Helfer (mit unkenntlich gemachtem Gesicht) zeigt, sieht man im Hintergrund einige vergitterte Fenster, die angeblich denen an einem griechischen Grenzposten gleichen. Gerichtsfest scheint dieser Beweis nicht zu sein.

Angeführt wird daher vor allem, dass sich die Aussagen der sechs Helfer gegenseitig bestätigen. Daneben kann sich das multinationale Journalistenteam angeblich auch auf Aussagen einzelner griechischer Polizisten stützen. Alle Befehle rund um die Refoulements seien nur „mündlich“ weitergegeben worden, heißt es da. Dennoch sei die Unterstützung durch die politische Führung eindeutig. Vielleicht gebe es dort keine Kenntnis aller Details, aber doch Zustimmung und Rückendeckung für die Beamten.

Die griechischen Quellen stellen daneben den notwendigen Schutz der Grenzbeamten in den Vordergrund. Dabei wird auf die Geschehnisse des Frühjahrs 2020, also die türkische „Migrationsoffensive“ am Evros verwiesen, die über Wochen von griechischen Polizisten und Soldaten abgewehrt wurde. Dabei kamen diverse Mittel des Straßenkampfes (Tränengas, Rauchbomben) zum Einsatz, auch von türkisch-migrantischer Seite. Und immer wieder ist auch von Schüssen mit scharfer Munition die Rede, die von der türkischen Seite kommen und den Grenzschutz in seiner heutigen Form erschweren.

Baerbock: Humanität an unseren Grenzen

Daneben geht es offenbar auch um etwas anderes, einen Feind, der nicht auf der anderen Seite des Flusses in der Türkei sitzt, sondern im europäischen Hinterland. Es geht den Regierenden demnach auch um den Schutz ihrer Beamten vor den Pushback-Vorwürfen, die vor allem aus Berlin und Brüssel kommen. Diese von innen gesäte Unsicherheit der proklamieren „Völkerrrechtsregeln“ – und ihre Unverträglichkeit mit nationalem Recht – ist es, die alternative Lösungen wie die hier vom Spiegel und anderen behauptete erst erforderlich macht. Dass es nicht der Königsweg des Grenzschutzes ist, dürfte klar sein. Aber auf unübersichtlicher Flur – nicht nur am Evros, auch in der EU – wird die Versuchung zu Neben- und Abwegen größer.

Und an dieser EU-internen Front könnte es nun noch aufregend werden. Kurz nach den Ereignissen in Melilla und der Veröffentlichung der internationalen Recherche von Spiegel, Le Monde und Guardian äußerte sich auch Außenministerin Baerbock zum ersten Mal, seit sie im Amt ist, zu den Vorwürfen, die nun allenthalben in der deutschen Presse den EU-Partnern im Süden gemacht werden. Auf Twitter schrieb sie, die „Bilder und Berichte“ dieser Tage seien „furchtbar“ und „nicht zu ertragen“: „Unsere gemeinsamen Werte, Humanität und Menschenrechte gelten auch an unseren Grenzen.“ All dies mache sie „tief betroffen“ – Worte, gesprochen an den ewigen grünen Parteitag. Baerbock will die Vorwürfe lückenlos aufklären lassen. Dass etwas aus all dem folgt, ist damit aber noch nicht gesagt.

Dennoch knüpfte sich sogleich Kritik aus dem griechischen Twitter-Flügel an Baerbocks Worte. Verschiedene Kommentatoren bemängelten die „deutschen Pushbacks“ an griechischen Flughäfen, wo Berlin die illegale Einreise von Migranten in die Bundesrepublik zu verhindern sucht. Dagegen hat man noch kein klares Wort Baerbocks zur Instrumentalisierung der illegalen Migration durch die Türkei gehört. Nur Worte der Freude und Erleichterung sind überliefert, wenn man Erdogan – wie im Falle des Nato-Beitritts von Finnland und Schweden – einmal mehr durch teure Zugeständnisse erweichen konnte.

EU-Rat: Zurückweisungen bei instrumentalisierter Migration möglich

Inzwischen dürften die Bemühungen der „Aufklärer“ aus zwei Gründen ins Leere laufen: Erstens hat die griechische Regierung offenbar beschlossen, dass sie sich bei dieser Angelegenheit des Schutzes nationaler Grenzen und Souveränitätsrechte nicht hineinreden lässt. Zweitens scheint sich diese Erkenntnis auch auf EU-Ebene immer mehr durchzusetzen, wie der deutsche Verein „Seebrücke“ mit einiger Enttäuschung festgestellt hat. Gewisse Änderungen am Schengener Grenzkodex stellen demnach auch die Kritik an Zurückweisungen, Inhaftierungen oder Grenzschließungen in Frage.

Dabei sind die vorgetragenen Punkte der Übereinstimmung, denen auch Innenministerin Faeser zustimmte, im Grunde nichts Neues. Schon lange gibt es etwa die „Fiktion der Nichteinreise“ in einem wohldefinierten Binnenumkreis der Grenze und das damit verbundene Recht zum „Zurückschieben“ illegal eingereister Migranten. Als wichtig könnte sich der Leitbegriff der „Instrumentalisierung der Migration … durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure“ erweisen, denn darum geht es zumeist, wo es Probleme mit illegaler Migration gibt, egal ob in Spanien, Griechenland, Polen oder im zentralen Mittelmeer.

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