Zwei Wahlgänge binnen fünf Wochen – das ist am Ende vielleicht kein schlechtes Verfahren, um herauszufinden, was der Bürger wirklich will. Bei den vorangegangen Parlamentswahlen vom 21. Mai hatte es die eine oder andere Überraschung gegenüber dem stetigen Trend fast aller Umfragen gegeben: Die regierenden Konservativen waren um etwa vier Prozentpunkte unterschätzt worden, die radikalen Linken von Syriza um ganz neun Prozentpunkte zu hoch angesetzt worden. Ähnlich ging es weiter: Die paneuropäische Linkspartei des einstigen Finanzministers Janis Varoufakis verlor gegenüber den Umfragen ein ganzes Prozent, andere Kleinparteien, daneben das sozialdemokratische Pasok und die Kommunisten gewannen bei den Wahlen, was ihnen zuvor in Umfragen nicht angezeigt worden war.
Das reale Wahlergebnis wirkte sich dann moralisch auf die Wähler aus: Das konnte man auch an den Umfragen – was immer sie nun wert sein mögen – erkennen, allerdings mit einer Verzögerung von etwa drei Wochen. Erst Mitte Juni wurden die realen Prozentwerte aus dem ersten Urnengang auch demoskopisch abgebildet. Die „Demoskopie“ leistete sozusagen ihren letzten Widerstand. Es kam aber noch ein Effekt der Ermutigung hinzu: Die christliche Bürgerbewegung Niki, die bei der ersten Wahl knapp an der Drei-Prozent-Hürde gescheitert war, überwand dieselbe nun und wird mit voraussichtlich zehn Sitzen im Parlament der 300 vertreten sein (3,69 %).
Leichte Zuwächse bei den jetzigen Wahlen verzeichneten auch die etablierten Kleinen, Pasok (11,85 %), die Kommunisten (7,69 %) sowie die rechtsnationale Griechische Lösung (Elliniki Lysi, EL: 4,44 %), die ebenfalls besser abgeschnitten hatten, als vorhergesagt. Bei der EL wiederholte sich das Schauspiel auch bei der jetzigen Wahl. Diese Partei aus quasi altem „Populisten-Holz“ (der Begriff verliert seinen anrüchigen Klang, wenn man an die römischen Popularen denkt) sollte dauerhaft niedergehalten werden.
Radikale Staatsdienerpartei mit 18 Prozent – Spartaner im Parlament
Dagegen sank Varoufakis’ Mera25 nun eindeutig in den Unter-drei-Prozent-Bereich ab, aus dem eine weitere kleine Gewinnerin bei den ersten Wahlen, Zoi Konstantopoulou, mit einer ebenfalls radikalen Linkspartei (Kurs der Freiheit: 3,17 Prozent) aufstieg. Sie ist damit der Links-Außen des neuen Parlaments, denn die griechischen Kommunisten sind eigentlich relativ konservative Leute, die zufälligerweise nicht auf das Jüngste Gericht, sondern auf die Revolution des Proletariats warten und solange fast jede Regierungsbeteiligung verweigern.
Dagegen hat sich Syriza in den Regierungsgeschäften leicht abgeschliffen und ist zu einer radikalen, zugleich öko-bourgeoisen Lehrer- und Staatsdienerpartei geworden, ein bisschen wie die deutschen Grünen, inklusive Fremdenliebe, Transwahn und Abscheu gegen sichere Grenzen (Wahlergebnis: 17,8 % bei Verlust von gut zwei Prozentpunkten gegenüber dem Mai). Der Schrumpfprozess dieser politischen Richtung auf unter 20 Prozent hat zweifellos die „Übernahme“ fast aller Großwahlkreise durch die Konservativen erleichtert. Einzige Ausnahme: Der von einer muslimischen Minderheit dominierte Wahlkreis Rhodopen. Insgesamt wurden die regierenden Konservativen, die den Bürgern dank des erwarteten Wahlsiegs an vielen Stellen etwas versprechen konnten, bestätigt. Das linksradikale Establishment (Tsipras, Varoufakis) wurde zurechtgestutzt. Das rechte Lager gewann demgegenüber Parteien und Bewegungen hinzu.
Eine wirkliche Überraschung des zweiten Wahlgangs sind die ultra-nationalistischen Spartaner (griechisch Spartiates), die das Ex-Mitglied der Goldenen Morgenröte, Ilias Kasidiaris, aus dem Gefängnis heraus unterstützte, nachdem man seine eigene Partei kurz vor den ersten Wahlen verboten hatte. Sie führen die neueren Kleinstparteien mit 4,64 Prozent an und sind damit schwer zu ignorieren. Kasidiaris ist wie die gesamt Führungsriege der Goldenen Morgenröte (Chrysi Avgi) zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, unter anderem wegen des Mordes an einem Athener Hip-Hop-Sänger – begangen von einem Parteimitglied – und wegen der politischen Ausrichtung seiner inzwischen verbotenen Partei.
Einige in der ND wollen nun die Fünf-Prozent-Hürde
Aus dem Gefängnis heraus unterstützte Kasidiaris nun die Spartaner, die von einem Mann geführt werden, der bei einem jüngeren Prozess neben Kasidiaris’ Rechtsbeistand saß. Die Bezüge genau aufzuklären, führte hier zu weit. Sicher ist, dass die gut vier Prozent, die die Spartaner gewannen, Stimmen für Kasidiaris waren. Ein bekannter Anwalt sagte im Fernsehsender Mega am Wahlabend, dass dieses Beispiel zeige, wohin Parteienverbote führen. Dem Juristen Alexis Kougias wäre es demnach lieber, dass man die „Faschisten“ in der Politik gewähren lässt. Dann könnte das Volk sie nach ihren Handlungen bewerten. Diese Handlungen wären im Falle der Spartaner: die Bewahrung der blutsmäßigen, sprachlichen, religiösen und sittlichen Einheit des griechischen Volkes; ein Bildungssystem fußend auf den Säulen Nation und Orthodoxie, das die Auswanderung junger Griechen verhindert und die Gründung großer Familien begünstigt; die Politik solle Respekt vor den Rentnern zeigen und ihnen würdige Renten zahlen, die aktuell tatsächlich sehr niedrig sind.
Stattdessen tragen sich Teile der konservativen Regierungspartei bereits mit einer Erhöhung der Prozenthürde auf das deutsche Maß von fünf Prozent, um Kleinparteien möglichst aus dem Parlament zu verbannen. Bei diesen Wahlen hätte dieses „deutsche Wahlrecht“ ein Parlament ergeben, in dem die Konservativen alleine mit drei linken Parteien wären und eine echte absolute Mehrheit besäßen. Man kann das als Machtoptimierung um jeden Preis deuten. Zu einer eigenen Mehrheit kamen die Konservativen ohnehin nur wegen des für Griechenland charakteristischen „Bonus“ von in diesem Fall 20 Sitzen für die Partei mit den meisten Stimmen.
Nun ist die Nea Dimokratia auch ohne den Bonus mit Abstand die stärkste Kraft im Lande, erreicht für unsere Zeit Volksparteistatus mit 40,55 Prozent. Damit hat sie das Ergebnis vom 21. Mai fast exakt gehalten (minus 0,24 Prozentpunkte). Auch für die moderne griechische Demokratie war das Überwiegen des linken Lagers stets der Normalfall. Man darf also fragen, wie es zu dieser Zustimmung kam. Zum einen geht es um richtige Grundsatzentscheidungen und Maßnahmen, die Mitsotakis als eifrigen Ministerpräsidenten erscheinen lassen. Unter ihm konnte man die internationale Aufsicht über die griechischen Staatsfinanzen abschütteln. Die zunehmende Sicherung der Grenzen im Osten des Landes hat die Migrationsströme aus der Türkei deutlich verringert. Aber die Bilder des „Migranten-Elends“ haben sich damit zum Teil von den Ägäis-Inseln in die Festlandgemeinden verlagert. Nicht dass solche Bilder für die Hauptstadt Athen etwas Neues gewesen wären, für die Provinz schon.
Corona-Zeit entfremdete Konservative von der ND
So erklärt sich wohl auch die Gründung und der teils sofortige Erfolg neuer Parteien und Bewegungen am rechten Rand der Nea Dimokratia, seien sie nun national, populistisch oder christlich-religiös ausgerichtet. Die Bürger bemerken, dass die Rolle Griechenlands als „Tor nach Europa“ einen Preis hat. Mitsotakis hat viel für die Verminderung der Zuwanderung getan, sich aber keineswegs für eine Abschaffung des Asylrechts starkgemacht, sondern will offenbar auch weiterhin den Personalhunger griechischer (oder Schengen-europäischer) Arbeitgeber teilweise durch das Überangebot „billiger Hände“ aus dem Osten stillen. Insgeheim dürfte er auch um weitere Einser-Gymnasiasten aus Nahost beten (es gab ein oder zwei), aber die sind naturgemäß eher rar gesät.
Als drittes Thema sind auch in Griechenland die Verheerungen der Corona-Zeit zu bemerken. Ein Teil gerade der wertkonservativ und christlich geprägten Wählerschaft hat sich unter dem Druck der „Maßnahmen“ innerlich von diesen „Konservativen“ oder „Liberalen“, aus denen die Nea Dimokratia bestehen will, abgewandt und wählt die ND nur noch, um das größere Übel einer Linksregierung abzuwenden oder auch dem Kandidaten eine absolute Mehrheit zu bescheren, die angeblich in Gefahr sei. Gerade auch Teile der Priesterschaft hatten den staatlichen „Experten“ in Sachen Pandemie aus prinzipiellen Gründen widersprochen.
Ihr Einfluss und Widerhall im Volk ist nun auch auf der Ebene des Parlaments spürbar. Kyriakos Mitsotakis profiliert sich nicht erst seit 2020 als Anführer einer schlanken Technologiemacht und Befürworter der Digitalisierung. Daneben hat das Land aber noch reale Wirtschaftsprobleme zu beantworten, die sich nicht mit einem digitalen Antrag beim Amt lösen lassen, auch nicht mit digitalen Identitäten wie dem EU-Impfpass (ein Originalvorschlag von Mitsotakis). Langsam erreicht das Land aber Vor-Krisen-Status (die Krise ab 2010), auch die Exporte scheinen zu steigen.
Migration als das Thema im Hintergrund – das neue Kabinett
Im Hintergrund der Wahlen gab es zwei große Themen, die teils auch die Innenpolitik beschäftigten: Ein Migrantenboot hatte man vor der Peloponnes-Küste aus internationalen Gewässern retten müssen, nachdem die Migranten zunächst ihren Kurs Richtung Italien hatten fortsetzen wollen. Auf der Ägäis-Insel Kos hatte man eine Woche vor den Wahlen die Leiche der polnischen Hotelangestellten Anastazja Rubińska gefunden, die mutmaßlich von einem Bangladescher vergewaltigt, ermordet und in einem Müllsack verscharrt worden war. Eine Handynachricht könnte den 32-jährigen Bangladescher nun auch des Mordes überführen. Laut dem Fernsehsender Alpha schrieb er in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni an Landsleute, die in Italien leben: „Ich habe etwas Grauenhaftes getan und muss aus Griechenland fliehen.“ Schon am 13. Juni (dem Tag nach der Tat) hatte er in einem Mini-Markt ein Flugticket nach Italien kaufen wollen, was aber nicht möglich war. Später erwarb er es in einem Reisebüro. Das Ganze hielt er geheim, sogar vor seinem pakistanischen Mitbewohner.
Die Mutter Anastazjas sagte, dass keine Strafe für den Mörder ihrer Tochter hoch genug sei. Sie gab sich zudem überzeugt, dass der Täter Komplizen hatte, und kritisierte daneben die griechische Polizei, die die Suche nach Anastazja zu spät begonnen habe. Der Bangladescher hat bisher weder die Vergewaltigung noch den Mord an Anastazja zugegeben. Allerdings hat er versucht, die GPS-Daten auf seinem und Anastazjas Handy zu löschen, die der Polizei letztlich verrieten, dass er von einem gemeinsamen Gang zum Mini-Markt bis zur Fundstelle mit Anastazja zusammen war.
Die beiden Themen, die auch international wahrgenommen wurden. setzten unabhängig voneinander den Akzent auf das Migrationsthema. Das dürfte allen Parteien von der ND rechtswärts geholfen haben. Im Gegensatz zu den Wahlen im Mai, als eine Treuhänder-Regierung übernahm, gibt es nun bereits Informationen zum neuen Kabinett der Konservativen: Außenminister Nikos Dendias wechselt demnach ins Verteidigungsministerium und wird von dem alten Hasen Jorgos Jerapetritis abgelöst. Dendias ist für seine klaren Worte zur Türkei bekannt und insofern mit der Führung der griechischen Armee am richtigen Ort. Jerapetritis war zuvor Minister ohne Portfolio und dürfte schon länger die Grundlinien der Politik mitbestimmt haben. Nun erhält er eine herausgehobene und verantwortungsvolle Position.
Migrationsminister Notis Mitarakis wurde entweder ins Schiffahrts- oder ins Bürgerschutzministerium befördert – beides klassische Portfolios mit Relevanz für den Grenzschutz zum Land oder zur See. Sein Nachfolger könnte ein Professor für Internationale Beziehungen, der Nordgrieche Dimitris Keridis, werden, der nicht immer durch glückliche Aussagen über die nationale Identität auffiel.