Tichys Einblick
Evros-Krise

Griechenland setzt Asylrecht vorerst aus

Kyriakos Mitsotakis reagiert so entschieden wie kreativ auf die Krise an der griechisch-türkischen Grenze. Griechenland wird das Asylrecht für einen Monat nicht mehr anwenden und will illegale Einwanderer unverzüglich abschieben. Das Volk steht hinter dieser Politik des maximalen Grenzschutzes. Tut es EU-Europa auch?

Arif Hudaverdi Yaman/Anadolu Agency via Getty Images

Dank Google lernt man – gibt man »Greek borders« in die Suchmaschine ein –, dass Griechenland a) eine Grenze mit der Türkei hat, die b) etwa 200 km lang ist und c) durch den Fluss Evros schon ein bisschen schwerer zu überwinden ist. Etwas anderes gilt offenbar d) für die Seegrenzen zwischen den beiden Ländern, die mehr oder weniger nur eine verstandesmäßige »Einteilung der Meeresoberfläche« darstellen.

Aber um den normalen Grenzverkehr geht es hier schon länger nicht mehr. Es geht um den »Punkt Null« – so heißt der Ort am Grenzübergang von Kastanies, an dem derzeit die europäische Freiheit verteidigt wird. Am Sonntag durften internationale Journalisten sich den Punkt ansehen, an dem der Ansturm der Migranten noch immer auf die Gegenwehr der griechischen Grenzpolizisten trifft. Durch die Grenzzäune hindurch sieht man den Rauch der Tränengasbomben, die von der einen wie der anderen Seite herrühren können. Auch Schüsse fallen in einiger Entfernung, offenbar sind es Warnschüsse – denn erschrockene oder aufgebrachte Stimmen sind nicht zu hören. Inzwischen ist es mehr oder minder ein Sitzkrieg geworden, der von den gelegentlichen Ausfällen der versammelten Migranten unterbrochen wird. Drôle de guerre.

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Ihr illegales Migrantenlager im Niemandsland an der griechischen Grenze haben die Türken inzwischen gut befüllt. Doch die Griechen ficht das nicht an. Dabei werden die Migranten von den türkischen Streitkräften auf allen erdenklichen Wegen unterstützt. Besonders schockierend: Chemische Kampfmittel – vermutlich Tränengas – wurden nun auch mit Hilfe von Aufklärungsdrohnen gegen die griechischen Grenzschützer eingesetzt. Daneben helfen die Türken den eigenen Hilfstruppen aus, wo sie können, ob mit Bolzenschneidern oder Schlauchbooten.

Daneben fluten die Türken das Netz mit Fake-News, in denen die üblichen Zutaten vermischt werden: anachronistische, wahllos zusammengesuchte Photos von angeblicher Gewalt gegen »Flüchtlinge«, unterlegt mit Appellen an die »Humanität«, die in Europa ja ihr Zuhause habe. Aber man selbst schickt junge Männer, auch einige Frauen und Kinder in einen Stellvertreterkrieg und versucht so auf infame Weise, die internationale Seele zu bearbeiten. Inzwischen behauptet Ankara, mehr als 75.000 Syrer über die europäischen Grenzen geschleust zu haben. Eine reine Phantasiezahl, man kann es nur wiederholen. Die griechischen Behörden berichteten am Sonntag von lediglich 98 aufgegriffenen Personen seit Samstagabend, die angeblich hauptsächlich aus Afghanistan, Somalia und Marokko stammen. Dass die Kämpfer vom Evros wirklich so gar nichts mit der Stadt Idlib zu tun haben, bestätigt am Sonntag das griechische Verteidigungsministerium.

Ruhig scheint derweil die Stimmung an der Zollstation von Kipoi zwischen Griechenland und der Türkei. Dort wird weiterhin der Warenverkehr zwischen den verfeindeten Nachbarn abgewickelt. Allerdings sollen es in der Nähe, etwas abseits des offiziellen Übergangs, ein paar dutzend Migranten über die Grenze geschafft haben, wie ein lokales Nachrichtenportal meldet.

Am Sonntagmittag ist Verteidigungsminister Nikos Panajotopoulos mitsamt Staatssekretär am Evros. Er stellt fest, dass der Transport der Migranten zur Grenze von türkischer Seite organisiert sei. Mit seinem Amtskollegen »auf der anderen Seite« hat er natürlich nicht gesprochen. Ein BBC-Reporter fragt nach erfolgreichen Grenzübertritten – das seien wenige, erwidert der Minister; der Reporter setzt nach und schildert, dass aufgegriffene Grenzübertreter in Fahrzeugen ohne Nummernschilder abtransportiert worden seien, ob so das normale Verfahren aussehe – der Minister erwidert, seiner Meinung nach sei es für ein Land normal, seine Grenzen zu schützen. Dann macht der Minister noch einen Rundgang durch das Grenzdorf Kastanies und wird von einigen Frauen darauf hingewiesen, dass die Dorfbewohner nicht nur einen Tag hier seien, sondern ein ganzes Leben lang. Griechenland, ja Europa beginne hier. Man möchte doch auf die lokalen Gemeinschaften achtgeben.

Kyriakos »Eisenhand« Mitsotakis

Premierminister Mitsotakis hat alles andere als lasch auf Erdoğans Fehdehandschuh reagiert: Als eine der ersten Handlungen setzte er demonstrativ alle Asylverfahren für einen Monat aus und rief die EU-Gremien auf, dies als notwendige Maßnahme zum Grenzschutz abzusegnen. Die Botschaft der griechischen Regierung ist dabei geradezu monoton. »Niemandem ist es erlaubt, die griechischen Grenzen zu überschreiten«, twitterte etwa das griechische Außenministerium. »Wer es trotzdem versucht, wird effektiv daran gehindert.« Personen mit ausländischen Mobilnummern, die sich der griechischen Grenze nähern, sendet man die nämliche Botschaft zu: »Die Hellenische Republik informiert: Griechenland steigert die Sicherheit seiner Grenzen auf ein Maximum. Versuchen Sie nicht, die griechischen Grenzen illegal zu überqueren.«

Nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am Sonntag verkündete Regierungssprecher Stelios Petsas in aller Ausführlichkeit das Notprogramm der Regierung:

  1. Der derzeitige massive, asymmetrische Angriff der Immigranten zu Lande und zu Wasser wird von der Türkei »organisiert und koordiniert«.
  2. Dieses Vorgehen der Türkei verletzt nicht nur das sogenannte »Flüchtlingsabkommen« mit der EU, die Türkei wird damit auch selbst zur Schlepperin.
  3. Aus diesen Gründen greift das »internationale Asylrecht« nicht mehr, dazu wäre nämlich eine Individualität der Fälle nötig. Die herangeschleppten Migranten werden aber von der Türkei nur als Spielfiguren in einem wenig diplomatischen Pressure-Play benutzt.
  4. Daneben stellt die derzeitige Situation auch eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit Griechenlands dar.

Der Nationale Sicherheitsrat hat daher mehrere Maßnahmen beschlossen, von denen drei besonders hervorzuheben sind:

  1. die Erhöhung der Schutzmaßnahmen für die östlichen Land- und Seegrenzen auf ein Maximum, um illegale Eindringlinge abzuwehren;
  2. die genannte einmonatige Aufhebung des Asylrechts für illegale Immigranten;
  3. die umgehende Abschiebung aller illegalen Grenzübertreter in die Ursprungsländer ohne Dokumentation.

Das sind grundstürzende Maßnahmen, die erstmals aus der spezifischen Situation Griechenlands – aber nicht nur – Konsequenzen ziehen. Man erkennt, dass sich die Regierung Mitsotakis in den vergangenen Wochen und Monaten Gedanken gemacht hat, wie man den gordischen Knoten der organisierten, illegalen Einwanderung aus dem Staatsgebiet des allzu nahen Nachbarn Türkei durchschlagen kann. Der Begründung des besonderen Vorgehens dienen dabei zwei Aspekte: zum einen das lenkende, koordinierende Agieren der Türkei, das den individuellen Asylgrund gleichsam auslöscht; zum anderen die aktuelle Notlage des griechischen Staates, dessen Stabilität und Sicherheit durch den permanenten Zustrom bedroht werden.

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Daneben fragt man sich, ob es so bald einen Grund geben wird, diese Maßnahmen zurückzunehmen. Vorläufige Antwort: Nein. Dann hätte Erdoğan uns einen gewaltigen Gefallen getan. Den griechischen Premier aber sollte man von nun an »Eisenhand« nennen, so entschieden hat er die Krise in eine Chance verwandelt. Klar ist aber auch: Allein mit Entschlossenheit wird sich dieser Konflikt nicht gewinnen lassen. Die Kräfte der Griechen sind begrenzt.

So geht das griechische Verteidigungsministerium von einer vielleicht monatelangen Schlacht am Evros aus und sieht das Land vor einer »entscheidenden Prüfung«, vor allem durch das hinterhältige Vorgehen der Türkei. In dem Gebiet sollen nun eventuell auch miltärische Truppen patrouillieren. Vielleicht ist die griechisch-türkische Grenze aber auch schon an mehr Orten löchrig, als wir wissen, und die Griechen brauchen wirklich Hilfe von außen.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat die Alarmstufe für alle Grenzen zur Türkei auf »hoch« gesetzt. Bis jetzt war Frontex vor allem auf den griechischen Inseln mit 400 Mitarbeitern tätig. Griechenland hat bereits einen Antrag um Verstärkung an die Agentur gestellt. Die Grenznothilfe RABIT (RApid Border Intervention Team) soll nach dem Willen der Regierung Mitsotakis ausgebaut werden.

»Heute nacht schläft niemand«

Durch die nationale Notlage und wohl auch durch die entschlossene Kommunikationsstrategie der Regierung ist das griechische Volk gewissermaßen erwacht und steht nun so klar wie wohl lange nicht mehr hinter seinen Grenzpolizisten und Streitkräften. Daran ist aber nichts Staatshöriges, denn die Sicherheitskräfte sollen – ebenso wie die hohe Politik – nun wieder den Bürgern und dem Schutz ihrer Lebensweise dienen. Rufe wie »Bravo, Vaterland«  bei der Passage eines Militärfahrzeugs sind keine Seltenheit. Auslandsgriechen der Reserve versichern die Heimat ihrer Solidarität und wollen, im Falle der Mobilmachung, zurückkehren. Eine Nutzerin namens »Latinopoulou« twitterte am Sonntag kurz nach Mitternacht: »Heute nacht schläft niemand. – Die Gedanken aller Griechen sind am Evros und bei unseren Söhnen, Brüdern und Männern, die ihre Pflicht erfüllen, damit wir alle in Sicherheit leben können. – Die heilige Jungfrau sei mit ihnen.«

Auch der Bauernverband in Alexandroupoli, der Hauptstadt des Regionalbezirks Evros, hat seine uneingeschränkte Solidarität mit der Regierung erklärt. Um die mehreren tausend illegalen Eindringlinge abzuwehren, stelle man sich – sobald es notwendig wäre – dem griechischen Staat zur Verfügung, um Ordnung und Gesetz an den Grenzen zu sichern. Als Einzelne und als Verband sei man zu allem bereit, das von einem verlangt würde. Praktisch könnte das werden, wenn man Straßen blockieren muss, worin die Bauern durch zahlreiche Proteste geübt sind.

Im Moment wirkt es ganz und gar nicht so, als ob der griechische Grenzschutz einknicken könnte. Am Dienstag wird der Premierminister am Evros sein.

Unruhige Insulaner

Die Frage ist nun: Macht Mitsotakis Ernst? Ergreift er die von ihm verwirklichte Chance und setzt auch dem Bootstreiben in der Ägäis ein Ende? Die Insulaner blieben auch an diesem Wochenende unruhig. Auf den Inseln der Nord-Ägäis ist die Stimmung noch immer explosiv. So machen die Einheimischen nun teils sogar gegen die immer noch anlandenden Boote mobil, wenn auch mit geringem Erfolg. Die FAZ meint, die Stimmung auf den Inseln sei »von Hass gegenüber Flüchtlingen« (diesmal ohne Hetze) geprägt. Doch in der Tat, die Inselbewohner »rütteln an den Gittern«, wie man im Griechischen sagt. Es sind die Gitter ihres Gefängnisses, das täglich neuen Nachschub aus dem Meer erhält. Ziviler Ungehorsam scheint dort inzwischen an der Tagesordnung. So wird versucht, Migrantentransporte aufzuhalten. In einer neuen Aufnahmeeinrichtung ist ein Feuer ausgebrochen, vermutlich durch Brandstiftung. Auch NGOs geraten ins Visier der zornigen, nicht etwa hasserfüllten Bürger.

Doch von den Migranten könnten durchaus auch Gefahren ausgehen. Glaubt man verschiedenen im Netz kursierenden Screenshots, so gibt oder gab es Planungen für einen koordinierten Migrantenaufstand in ganz Griechenland. Die Screenshots zeigen, wie sich Migranten via Facebook, Twitter und WhatsApp verabredet haben, mit dem Ziel, die griechischen Sicherheitskräfte auszutricksen bzw. so viele von ihnen zu binden, dass an irgendeiner Stelle Chaos ausbrechen muss. Was allerdings durchgängig fehlt, sind absolute Datierungen. Es könnten also ältere Postings sein. Aber was einmal geschah, kann natürlich wieder passieren.

Die Stimmen und die Stummen Europas

Und was erwidert nun die EU? Sie spricht mit gespaltener Zunge. Namentlich Emmanuel Macron ist einstweilen noch nicht sicher zu deuten. In einem kryptischen Tweet schreibt er, Frankreich sei solidarisch mit den Griechen und Bulgaren; man sei auch bereit, schnell bei der Sicherung der Grenzen zu helfen. Doch nun öffnet sich eine Hintertür: Man müsse »gemeinsam handeln«, um eine neue humanitäre und migratorische Krise zu verhindern. Die Antwort kann hier offenbar vielgestaltig aussehen, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Macron selbst die Belagerer aufnehmen will. Vielleicht ist das eine Möglichkeitsform, die sich an Berlin richtet.

Die Bundesregierung hat die Grenzöffnung Erdoğans und seine Instrumentalisierung der Migranten bislang nicht eindeutig verurteilt. Norbert Röttgen (CDU) faselt in der FAS gar etwas von einem »Hilferuf« der Türken, der nur »die äußere Form einer Drohung« angenommen habe. Welch absurde Gedankenakrobatik, nur um Russland – von dem Erdoğan sich angeblich abgewandt habe – in den Senkel zu stellen. Was reitet diesen Mann?

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Doch kein Wort über die unanständigen, kriegsartigen Mittel, zu denen die Türkei greift, um ihre Nachbarstaaten und damit die gesamte EU zu erpressen. Röttgen redet sich in ein regelrechtes Stockholm-Syndrom hinein. Oder nein, er meint wahrscheinlich, die Türken würden ihm, dem überlegenen Außenpolitiker, nun bald aus der Hand fressen. Eine griechische Zeitung, das sozialdemokratische Vima, bemerkte jüngst die extraordinären Gedankengänge des Voreifelers und nannte ihn höflicherweise den »Intellektuellen der Rechten«. Für beide Attribute gibt es aber kaum Beweise.

Und man fragt sich wirklich, was Druck auf Russland in der gegenwärtigen Situation bewirken sollte, wo es doch die Türken sind, die die Schlacht um Idlib (und den endgültigen Sieg Assads) verzögern. Kanzleramt und Außenministerium geben sich gar optimistisch, dass Erdoğan seinen Deal mit der EU einhalten werde. Das ist eigentlich noch schlimmer als Röttgen: Das ist schon ruchloser Optimismus. Das Gegenteil ist der Fall und wird immer mehr zur Norm werden, wenn man einmal nachgibt.

Blickt man auf die Große Koalition dann ist zufriedenstellend nur, dass Manfred Weber (CSU) sich hinter die Griechen gestellt hat. Aber interessiert sich eigentlich auch jemand in München dafür?

Allerdings tut auch Weber in einem anderen Tweet so, als ob es sich bei den Grenzbelagerern um »Flüchtlinge aus Idlib« handelte. Eindeutig ist in der Sache allein die Stimme von Sebastian Kurz, der Griechenland und Bulgarien finanzielle und organisatorische Unterstützung angeboten hat.

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