Bei der Diskussion um den Grenzschutz in der Ägäis wird von vielen Beobachtern vorausgesetzt, dass es »Flüchtlinge« sind, die aus der Türkei kommend Griechenland erreichen. Diverse NGOs behaupten das, die meisten Medien schreiben entsprechend. Jüngst forderte die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson wiederum eine Aufklärung der Pushback-Vorwürfe – ebenso die Menschenrechtsbeauftragte beim Europarat, Dunja Mijatović.
Hohe Strafen gegen schleusende Migranten auf Lesbos – NGOs protestieren
Griechische Gerichte verhängen hohe Haftstrafen gegen Migranten, die Boote aus der Türkei gesteuert haben. NGOs protestieren gegen die »Kriminalisierung vermeintlicher Schleuser«.
Übersehen wird dabei, dass der griechische Staat eine grundsätzlich andere Sicht auf die Migranten hat: Er sieht sie in ihrer Mehrheit als illegale Grenzübertreter, die sich nicht an das Einwanderungsgesetz des Landes halten. In einer griechischen Antwort auf Mijatović’ Tweet heißt es laut der Wiener Zeitung, dass ihre Aussagen auf Falschinformationen beruhten, die häufig von Schleppern stammen.
Stützen kann sich die griechische Regierung dabei auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der im Februar 2020 urteilte, dass irreguläre Immigranten abgewiesen oder sogar ins Nachbarland zurückgebracht werden können. Gemäß dem Einwanderungsgesetz vom November 2019 kann die »illegale Einreise« eines Migranten nach Griechenland dazu führen, dass sein Asylantrag als »unbegründet« abgelehnt wird. Daneben können die Behörden solche Verfahren vorziehen und beschleunigen. Natürlich ist es für einen zuständigen Minister gut, wenn Verfahren möglichst schnell abgeschlossen werden. Aber noch besser ist es, wenn es gar nicht erst zu einem Verfahren kommt.
Die Änderung des griechischen Einwanderungsgesetzes war verbunden mit der Konzentration auf einen funktionierenden Grenzschutz. Aber langfristig reicht die Abwehr an den Grenzen vielleicht nicht aus. Sanktionen gegen den illegalen Grenzübertritt und dessen Erleichterung könnten notwendig werden. Andernfalls können die Migranten es einfach immer wieder versuchen – und bleiben straflos, bis sie es am Ende irgendwie schaffen, die Grenze zu überwinden. Eine Überfahrt über den Grenzfluss Evros kostet nicht viel, manchen Angaben zufolge nur um die 50 Euro.
NGOs protestieren gegen »Kriminalisierung« der Schleuserdienste
Auf Lesbos gab es nun mehrere Verurteilungen von Migranten zu hohen Haft- und Geldstrafen. So wurde der 27-jährige Mohamad H. wegen der Einschleusung von 33 Somaliern zu 146 Jahren Gefängnis verurteilt. Das bedeutet lebenslänglich, auch wenn der Somalier sicher nur einen kleinen Teil seiner Strafe absitzen wird. Er hatte das Steuer jenes Bootes geführt, das am 2. Dezember vor Lesbos verunglückte. Hatten die Migranten ihre Seenot gar selbst herbeigeführt? Angeblich gab es Hinweise darauf. Zwei Frauen ertranken. Auch für ihren Tod musste sich Mohamad H. verantworten, wurde aber in diesem Punkt freigesprochen. Ohne die riskante Überfahrt wären die beiden Frauen wohl noch am Leben.
Bald beklagten verschiedene, in der privaten »Seenotrettung« engagierte Nichtregierungsorganisationen das Urteil als »Kriminalisierung vermeintlicher Schleuser«. Die NGO Mare Liberum twitterte, Mohamad H. sei »wegen Unkenntnis der strategischen Kriminalisierung von Menschen wie ihm« verurteilt worden.
Interessant ist die Vermeidung jeder Statuszuschreibung an den Bootsführer. Ist er für Mare Liberum ein »Flüchtling«, ein Wirtschafts- oder Asylmigrant oder doch ein Schleuser, den die NGO aber positiv sieht? Die Unschärfe könnte gewollt sein.
Durch die Verhöre der überlebenden Somalis gewannen die Behörden Erkenntnisse zu den Wegen und Methoden der irregulären Migration vom Horn von Afrika bis zur türkischen Ägäisküste (TE berichtete). Und so viel kann gesagt werden: Die Route führt durch einige sichere Staaten.
Nun behaupten diverse NGOs, Mohamad H. hätte nur versucht, die Leben der anderen Insassen zu retten, als das Boot in Seenot geraten wäre. Der Aegean Boat Report, der die irregulären Bootsbewegungen in der nördlichen Ägäis beobachtet und in Wochen-, Monats- und Jahresberichten publiziert, hält die europäische Justiz deshalb für einen »Witz«. Aber auch ein solches Migrantenboot muss von jemandem gefahren werden, und diese Person trägt eine größere Verantwortung als die anderen Insassen.
Nicht alle Schleuser sind Asylbewerber
Die griechischen Konservativen unter Antonis Samaras hatten die Einschleusung von Migranten im Jahr 2014 zu einem Verbrechen erklärt, kurz bevor sie von der linkspopulistischen Syriza-Koalition abgelöst wurde. Seitdem waren rigorose Haftstrafen (bis zu zehn Jahre pro geschleuster Person) möglich geworden und wurden auch hier und da angewandt. Schon zuvor gab es Geldstrafen von bis zu 500.000 Euro, wo Menschenleben gefährdet wurden oder verloren gingen. Hierzulande wird Einschleusung mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft; mindestens drei Jahre gibt es, wenn jemand dabei zu Tode kam.
Die NGO Aegean Migrant Solidarity spricht von einer durchschnittlichen Haftstrafe von 48 Jahren (davon im Mittel 19 Jahre zwingend zu verbüßen) und einer durchschnittlichen Geldstrafe von an die 400.000 Euro in knapp 50 betrachteten Fällen. Vor allem betroffen sind diejenigen Migranten, die die Boote steuern. Dabei sind nicht alle Verurteilten auch Asylbewerber. Einige verdienen so wohl ihren Lebensunterhalt – doch für die NGO leben sie »in Armut« und versehen deshalb die Fährdienste. Dass das zu einer lebenslangen Haftstrafe führen kann, wissen sie zu oft nicht.
Der Bericht dreier NGOs über die Bedingungen der Schlepperei an der türkischen Küste erzählt von zahllosen geplanten Überfahrten. Zum Beispiel die Geschichte von Fadi M. aus Ägypten, der 400 US-Dollar zahlte, um an Bord eines »Schiffes« zu gelangen, das ihn auf die griechischen Inseln brachte. Allerdings hatte er seine Familie in der Türkei zurückgelassen. Er fuhr also zurück in sein vorgebliches Fluchtland Türkei, um sie zu holen.
Zusammen mit ihm wurde im November 2015 auch der Türke Alijelam M. festgenommen, der sich ebenfalls als Migrant ausgab und nur mit Waffengewalt auf das Boot gezwungen worden sein will. Der NGO-Bericht hebt seine Wahrheitsliebe während des Prozesses hervor – Zweifel bleiben. Beide Angeklagte wurden der »illegalen Beförderung zur finanziellen Bereicherung«, also Einschleusung, und der unerlaubten Einreise nach Griechenland beschuldigt. In einem gemeinsamen Prozess auf Chios wurden beide Migranten damals zu nominell 53 Jahren Gefängnis (real 25 Jahre) und einer Geldstrafe von 73.500 Euro verurteilt.
Die steigende Welle der Klagen
Die hohen Strafen zeigen, dass sich Griechenland – und seine Justiz – robust gegen die illegale Immigration zur Wehr setzen. Im April wurde der Syrer K. S. auf Lesbos zu 52 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 242.000 Euro verurteilt, wegen illegaler Einreise (dafür gab es zehn Jahre) und deren Erleichterung in anscheinend 42 Fällen (plus ein Jahr pro Person). Das Urteil beruht auf der Annahme, K. S. habe das Boot gesteuert, das ihn und die anderen Migranten im März 2020 auf die griechische Insel Chios brachte. Daneben wurde ihm vorgeworfen, die Seenot des Bootes absichtlich herbeigeführt und Widerstand geleistet zu haben.
Der Verein borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen behauptet, von hunderten solcher Fälle zu wissen. Die Fragen des Gerichts an den Angeklagten kommentiert die in Berlin sitzende NGO mit Unverständnis: Angeblich wurde K. S. zu seinem muslimischen Glauben befragt und »dazu, warum er nicht in Syrien geblieben sei, um für sein Land zu kämpfen«. K. S. sei nur »stellvertretend« angeklagt worden, »um die Migration nach Europa im Allgemeinen zu verurteilen«.
Borderline-europe nutzt übrigens dieselbe Berliner Adresse wie Mare Liberum. Dort sind inzwischen sogar fünf NGOs gemeldet, die in der privaten »Seenotrettung« im Mittelmeer aktiv sind: daneben auch Jugend rettet e.V., iuventa 10 / Solidarity at Sea und die private Notrufhotline Alarm Phone, die für ihre »Dienstleistungen« im zentralen und östlichen Mittelmeer bekannt ist.
Ein Anwalt wurde K. S. vom Legal Center Lesbos (LCL) gestellt, gewöhnlich ist diese Leistung des linksstehenden Juristenteams kostenfrei. Das LCL nennt das 2016 durch einen Brand zerstörte Legal Center am »Dschungel von Calais« als sein Vorbild und arbeitet mit der International Association of Democratic Lawyers zusammen, die 1946 in Paris gegründet wurde und sehr bald kommunistisch unterwandert wurde. Der deutsche Zweig, die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, war lange eine Vorfeldorganisation der DKP. Jüngst hat das LCL eine Klage wegen der griechischen Grenzpolitik (vulgo: Pushbacks) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Auch diese Welle – der Klagen gegen die Praxis des Grenzschutzes – wird vermutlich erst noch einmal ansteigen, bevor sie sich legt.
Zusammengefasst drängt sich die Frage auf: Könnte die Abneigung so vieler NGOs gegen einen funktionierenden Grenzschutz in der Ägäis und ihre Ablehnung einer »Kriminalisierung« der Schleuser dem Wunsch nach mehr Einschleusungen entspringen?
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