Am 29. Mai, dem Jahrestag der Eroberung Konstantinopels, rief Präsident Erdogan persönlich zum Freitagsgebet in und vor der Hagia Sophia, die einst die größte Kirche der Christenheit, danach für Jahrhunderte eine Moschee war und seit 1932 ein säkulares Museum ist. Der türkische Präsident feierte damit nicht nur die fortschreitende Aufhebung der Corona-Beschränkungen im Land, sondern kultivierte auch – in Krisenzeiten – die Erinnerung an die ruhmreiche osmanische Vergangenheit. Erdogan hob hervor, wie wichtig es sei, sich mit der Eroberungs- oder Siegessure »al-Fath« an die Eroberung der christlichen Hauptstadt vor 567 Jahren zu erinnern; die Sure behandelt die Einnahme Mekkas durch den Propheten Mohammed. Daneben versprach Erdogan seinen Anhängern abermals, dass der musealisierte Bau einst wieder zur Moschee werden könnte.
In Griechenland reagierte man naturgemäß empört auf solche Vorgänge und Vorhaben. Jedes Jahr am 29. Mai wird dort an den Verlust der einst als Byzanz gegründeten Metropole erinnert, die später für ein Jahrtausend Hauptstadt des gleichnamigen Reichs war. Regierungssprecher Stelios Petsas sprach von einer »Fiesta«, die der türkische Präsident an einem Weltkulturerbe veranstaltet habe. Die Sophienkirche kann darüber hinaus immer noch als das Mahnmal einer griechisch-römisch geprägten Religiosität und Staatlichkeit gesehen werden. Es ist insofern um so absurder, wenn Erdogan genau dieses kulturelle Erbe für die Propagierung seiner nationalistischen, islamistischen Ideologie nutzt.
Ankara spricht inzwischen gerne und etwas dreist von »Routineflügen«, aus denen nur Griechenland ein Politikum mache. Laut dem Vertrag von Lausanne sind türkische Militärflüge über den griechischen Ägäis-Inseln – namentlich über Lesbos, Chios, Samos und Ikaria – nicht erlaubt. Anfang Mai war gar ein Helikopter mit dem griechischen Verteidigungsminister und dem höchsten griechischen Militär auf einem Flug zwischen zwei Ägäis-Inseln von türkischen F-16-Maschinen bedrängt worden. Doch das dürfte wohl kaum »Routine« gewesen sein, um wieviel weniger eine positive.
Gemäß ihrer neuen Strategie will Athen nun sofort mit eigenen Kampffliegern dagegenhalten, sobald eine Grenzverletzung durch türkische Kampfflieger bemerkt wird. Diese Regel soll im übrigen für alle Armeegattungen gelten: Wo immer türkische Provokationen auftreten, auch am Land und zur See, sollen griechische Kräfte sich ihnen entgegenstellen. Jede Grenzüberschreitung setze neue Fakten, wie der ehemalige Verteidigungsminister Evangelos Apostolakis nun hervorhob. Solange es nur um kurzfristige Grenzverletzungen zu Wasser oder in der Luft gehe, könne man die Dinge vielleicht noch irgendwie regeln, aber bei einer richtiggehenden Besetzung von Territorium müsse Griechenland handeln. Apostolakis ging sogar noch weiter und zitierte einen älteren Ausspruch, gemäß dem jede Felseninsel, auf der die Türken anlanden, planiert werden müsse. Sonst gebe es keinen Staat und keine Streitkräfte.
In der Tat, an einem solchen Punkt würde die Quantität zur Qualität. Dann ginge es um die territoriale Integrität und Souveränität Griechenlands. Als hochdekorierter Admiral a. D. denkt Apostolakis natürlich zunächst an die Besetzung einer oder mehrerer Kleinstinseln in der Ägäis, wie sie sich im Fall der Insel Imia vor 24 Jahren schon einmal ereignete. Um das an sich unbedeutende Felsenriff hatten sich Griechen und Türken damals über Wochen hinweg eine symbolische Schlacht geliefert. In deren Verlauf war ein griechischer Hubschrauber abgestürzt, wobei alle drei Insassen starben. Man blies das damals nicht auf, obwohl es laut inoffiziellen Angaben türkischen Beschuss gegeben hatte. Der NATO-Kitt hielt. Was heute bei einem solchen Anlass folgen würde, kann niemand wissen.
Eine Grenzstreitigkeit am Evros?
Von einem aktuellen Vorfall an der türkisch-griechischen Grenze berichteten zuletzt einige lokale Nachrichten-Websites aus Griechenland und schließlich auch die britischen Zeitungen Daily Mail und Sun. Bis zu 35 türkische Uniformierte hätten, so hieß es, ein kleines Stück Land von gut anderthalb Hektar am Ufer des Evros besetzt, dort ein Zelt aufgeschlagen und es mit einer türkischen Fahne versehen. Der Bericht fällt in eine Zeit, in der Griechenland seine östliche Landgrenze am Grenzfluss Evros gegen einen erneuten Ansturm durch irreguläre Immigranten absichert, wie er sich im März ereignete. Bis zum Dezember sollen Grenzzäune in einer Gesamtlänge von mehr als 30 Kilometern entstehen, vor allem im unteren Verlauf des Flusses und bis hinab zu seinem Mündungsdelta.
Nun ist auch der Verlauf der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei bereits im Lausanner Vertrag geregelt, jenem Vertrag, den die erdoganistische Türkei so gerne revidieren möchte, vielleicht um ihren syrischen Eroberungen solche in der Ägäis und wer weiß wo noch hinzuzufügen. Einstweilen scheint sie sich aber leidlich an den Vertrag zu halten. Und auch die Geltung eines Zusatzprotokolls von 1926, in dem der Grenzverlauf am Evros durch Karten genau nachgezeichnet wird, wird nicht grundsätzlich bestritten.
Griechenland rüstet sich für einen »heißen Sommer« – die Türken wollen reden
Die eigentliche Nachricht ist daher, dass Griechenland den Grenzzaun und weitere Sicherungssysteme baut. In Ankara würde man einen funktionierenden Grenzschutz an der westlichen Grenze am liebsten hintertreiben. Nur die Mittel dazu fehlen derzeit. Man wechselt also Noten mit Athen und spricht plötzlich vom Abstimmungsbedarf zwischen Nachbarn; der Lauf des Evros habe sich »seit 1926 in erheblichem Maß verändert«. Nur spielt das eben gar keine Rolle, es gilt nach wie vor das Flussbett von 1926, und das weiß auch die türkische Seite.
Die griechische Regierung schrieb zwar eine Gegennote, will aber öffentlich kein Thema aus dem Vorgang machen. Rundweg dementiert wurde die Besetzung griechischen Territoriums durch türkische Truppen. Es handele sich um eine »absolut falsche Behauptung«, sagte Außenminister Nikos Dendias. Diplomaten sekundierten, die Grenzlinie sei durch den Vertrag von Lausanne und das Zusatzprotokoll von 1926 eindeutig bestimmt und insofern bekannt.
Offenbar herrscht in Athen noch etwas Vertrauen, dass die Türkei sich an die vor knapp hundert Jahren geschlossenen Verträge auch weiterhin halten will. Premier Kyriakos Mitsotakis sprach von einer »technischen Frage«, die man ohne Zweifel mit der anderen Seite klären könne. Ein »Grenzstreit« sei das jedenfalls nicht, teilte Mitsotakis der Nation in einem Fernsehinterview mit. Das Recht, einen Grenzzaun zu errichten, noch dazu auf eigenem Territorium, habe Griechenland aber ganz gewiss.
Für einen »heißen Sommer« am Evros stehen im Moment schon 550 griechische Grenzschützer und 200 Freiwillige aus der Region bereit, die ihre normale Tätigkeit als Staatsdiener vorerst aufgegeben haben, um der Sicherheit ihrer engeren Heimat zu dienen. Nach und nach kommen nun noch einmal 400 griechische Beamte aus unterschiedlichen Sondereinheiten hinzu, die bis Ende September durch ebensoviele neueingestellte Grenzschützer ersetzt werden sollen. Man sieht: Der Grenzschutz am Evros ist gekommen, um zu bleiben. Auch die 100 Frontex-Beamten geben sich von der Effizienz der EU-griechischen Zusammenarbeit überzeugt. Und Athen ist durchaus am Verbleib der EU-Truppen gelegen, und das nicht nur wegen der technischen Unterstützung, sondern schon allein, um der diplomatischen Abstimmung mit den EU-Partnern willen.
Keine guten Nachrichten von der anderen Seite
Keine guten Nachrichten kommen indes auch weiterhin von der anderen Seite – vor allem, was die Migrationspolitik der Türkei angeht, eines Landes, das es eigentlich besser wissen müsste, besitzt es doch eine lange Grenze zu verschiedenen Konfliktherden im nahen und mittleren Osten. Während Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in den letzten Wochen mal um mal wiederholte, dass die türkischen Grenzen – vor allem offenbar die nach Europa – erneut für alle Migranten offenstehen würden, sobald die Pandemie überwunden ist (also jetzt gleich?), ging ein Sprecher des türkischen Außenministeriums noch weiter und beklagte die »Verletzung der Rechte und Freiheiten jener Menschen, die Asyl und vor allem ihr Lebensrecht« jenseits der türkischen Grenzen suchten. Interessant ist, dass sie beides offenbar nicht in der Türkei oder andernorts finden können. Hinzu kommt ein äußerst schmeichelhaftes Argument des türkischen Vertreters: »Diejenigen, die sich als die Wiege der Zivilisation betrachten, müssen auch Personen von anderer Religion und anderer Sprache respektieren.«
Zuvor hatte der griechische Außenminister Nikos Dendias die Türkei für ihre »barbarischen« Taten zur Verantwortung gezogen und damit auf andere Vorwürfe Çavuşoğlus reagiert. Dendias sagte in einer Radiosendung: »Nicht wir werden die Menschenrechte von irgendjemandem missachten. Es ist die Türkei, die dieselben auf barbarische Weise missachtet, indem sie verzweifelte Menschen – in der Gestalt eines hybriden Krieges – auf die Grenzen Griechenlands und Europas zutreibt. Die Türkei ist es, die die Menschenrechte missachtet, und das ist weder gut für sie selbst noch für irgendjemanden, es ist das Unglück dieser Menschen.« Mithilfe der Migranten und durch die »Instrumentalisierung menschlichen Leids« habe die Türkei versucht, eigene politische Ziele zu erreichen. Von einer solchen Regierung nehme man keine Nachhilfe in Menschenrechten an.