Die Hafenmole von Mytilini ist randvoll, nicht mit Booten oder ihnen entsteigenden Migranten, vielmehr mit den Bürgern der Inselhauptstadt von Lesbos, die für ihr Recht auf ein Leben ohne Migrationskrise demonstrieren (einige Bilder hier und hier). Auf den griechischen Inseln der östlichen Ägäis ist man mit der Geduld am Ende. Demonstrationen und Generalstreiks fanden zeitgleich auch auf Chios und Samos statt, die ebenso durch Aufnahmezentren von der ungewollten Zuwanderung betroffen sind. Man wolle nicht länger der »Abstellraum für die Seelen entwurzelter Menschen« sein, heißt es in der Pressemitteilung der Protestbewegung. Der Bürgermeister des Hauptorts von Samos, Giorgos Stantzos, gab der Deutschen Presse-Agentur die Auskunft: »Wir können diese Situation in unserer Kleinstadt nicht mehr ertragen. Wir haben auch Menschenrechte.«
Auf den Plakaten der Demonstranten war unterdessen nicht weniger entschieden zu lesen: »Wir wollen unsere Inseln zurück. Wir wollen unser altes Leben zurück.« Der Gouverneur der Inselgruppe, Kostas Moutzouris fühlt sich von der eigenen Regierung und von der EU im Stich gelassen. An die 50.000 Migranten aus 80 Herkunftsländern hausen mittlerweile in Lagern (sowie meist darum herum) auf den verschiedenen Inseln. Der Zorn des Inselgouverneurs, der keinen Anhalt bei der mangelnden Verwaltungsfähigkeit seiner Beamten oder jener des Zentralstaats findet, wendet sich ungehemmt gegen die internationalen Verträge, die das Elend dieser EU-Grenzregion auszulösen scheinen, namentlich die Dublin-II-Verordnung und die verschiedenen Migrationspläne der Vereinten Nationen. Die Dublin-II-Verordnung nennt Moutzouris »unser Grab«: »Man will uns eine andere Lebensweise aufzwingen, eine andere Religion.« Der Gouverneur fordert die Abwehr jeder Zuwanderung an den Grenzen: »Das Vaterland ist in Gefahr. Die Umstände interessieren mich nicht.«
Der Bürgermeister der Inselhauptstadt Mytilini, Stratis Kytelis, fordert die unmittelbare Schließung des größten der Lager, Moria, und die Entlastung der Insel von den dort untergebrachten Migranten. Auch er verlangt einen wirksamen Schutz der griechischen Seegrenzen und die Auflösung sämtlicher Aufnahmestrukturen. Die Entlastung, so muss man freilich im Namen aller anderen griechischen Regionen und der anderen EU-Länder sagen, kann derzeit nur in eine Richtung geschehen: aufs Festland und von dort potentiell in andere EU-Staaten, auch wenn die griechische Polizei das natürlich zu verhindern versucht. Ein weiterer Bürgermeister weist darauf hin, dass es bereits fünf nach zwölf sei. Nun gebe es kein »ich wusste nichts davon«, kein »ich erwartete es nicht«, auch kein »wir werden dieses oder jenes tun«, wo alles schon hätte geschehen sein müssen.
Die Konservativen haben sich das Thema Schließung der Grenzen auf die Fahnen geschrieben
Der wütende Protest der Inselbürger – und eine ähnliche Einstellung der übrigen Griechen zur Migration – zeigt inzwischen eine gewisse Wirkung: Die konservative Regierung hat sich das Thema Schließung der Grenzen auf die Fahnen geschrieben. Das verkündete nun auch Konstantinos Mitsotakis in einem Fernsehinterview. Demnach hätte er das vor seiner Amtszeit bestehende und nun wiederhergestellte Migrationsministerium nie aufgelöst, wenn er vor sechs Monaten gewusst hätte, was er jetzt weiß. In diesen Tagen wird die Frage der Grenzsicherung zum politischen Thema der Fernseh-Meinungsschlachten zwischen Konservativen und ihren meist sozialistischen Gegnern. Vorerst besteht die Antwort der griechischen Regierung aber im Bau neuer und größerer Lager, die gerne als »geschlossene Lager« apostrophiert werden, als sei das ein Ersatz für »geschlossene Grenzen«.
Aber was sollten die griechischen Behörden auch tun? Registrieren sie die wilden Anlander, so schaffen sie die Voraussetzungen für deren Aufnahme in das griechische Asylsystem und den Erwerb eines Aufenthaltstitels. Abschiebungen in die Türkei dürften im derzeitigen politischen Klima schwierig sein, auch wenn man von ambitionierten Zielen wie der Ausschaffung von 10.000 Migranten liest. Mitsotakis bleibt also eine Politik der milden Obstruktion und der Einhegung des Problems durch Lager und Zäune. Allerdings sollen auch in diesem Jahr nochmals 20.000 Personen von den Inseln aufs Festland gebracht werden. Dass dabei zwischen berechtigten und unberechtigten Asylanträgen unterschieden wird, ist unwahrscheinlich. Es handelt sich um einen reinen Verschiebebahnhof.
Erdoğan fordert eine Haltegebühr von der EU
Erst vor zehn Tagen hat der türkische Präsident die EU und insbesondere Griechenland erneut vor einer größeren Migrationswelle gewarnt, die angeblich durch schwere Luftangriffe in Nordsyrien ausgelöst wurde. Baschar al-Assad kämpft derzeit noch mit russischer Unterstützung um die Vorherrschaft über das nordwestsyrische Hama und Idlib. Erneut fordert Erdoğan von der EU eine Haltegebühr für die angeblich 3,7 Millionen Syrer in der Türkei sowie für die zahllosen das Land passierenden Afghanen und weiteren Glückssucher. Etwa zugleich mit dem Amtsantritt von Mitsotakis hat die Türkei ihre Grenzen um ein weniges geöffnet und so einen beständigen Zufluss neuer Zuwanderer ermöglicht. Ein Teil der griechischen Presse glaubt da nicht an Zufall: In Ankara wolle man den Schwung der neuen Regierung bremsen.
Die Lage auf den Ostägäis-Inseln spannt sich unterdessen immer weiter an. Inzwischen sind die Krankenhäuser der Inseln überfüllt, vor den Lagern stapelt sich der Müll, Ungeziefer macht sich breit, es droht die Ausbreitung von Krankheiten. Besonders schlimm trifft es natürlich den Tourismus, der neben der Ouzo- und Mastix-Produktion die wichtigste Einnahmequelle der Inseln bildet. Zur Erinnerung: Das Lager Moria wurde ursprünglich für knapp 3.000 Migranten erbaut, besitzt nun sanitäre Einrichtungen für 6.000, muss derzeit aber an die 20.000 beherbergen. In den anderen Lagern der Ägäis sind es noch einmal um die 22.000, obwohl die griechische Regierung in den vergangenen Monaten immer wieder Migrantengruppen aufs Festland verbrachte.
Inzwischen stammen 40% der Anlandenden auf den ägäischen Inseln aus Afghanistan und angeblich noch 27% aus Syrien. Besonders schockierend ist der hohe Anteil von alleinreisenden Kindern unter den Neuankömmlingen, die anscheinend von ihren Eltern als Vorhut in alle mit der Migration einhergehenden Gefahren geschickt werden und häufig traumatisiert in den Zielländern ankommen. Die Stadt Potsdam, die Teil einer Initiative »Städte Sicherer Hafen« ist, hat inzwischen die ersten 25 minderjährigen Migranten aufgenommen. Das bleiben offenbar vorerst symbolische Tropfen auf einen heißen Stein. Zumindest solange Robert Habeck nicht Kanzler ist.