Die Lage an der polnischen Grenze wird von den weißrussischen Kräften absichtlich angeheizt und eskaliert. Daran besteht nun kaum noch ein Zweifel. Einer der wenigen Reporter hinter den Linien ist der Brite Steve Rosenberg, der für die BBC aus Moskau berichtet. Gestern postete er ein Video, das zeigt, wie Migranten jenseits der weißrussischen Grenze sich auf den Grenzübergang bei Kuźnica zubewegen. Ihnen war gesagt worden, so Rosenberg, dass sich eine Gelegenheit böte, in die EU zu gelangen. Niemand hielt sie auf, auch nicht die weißrussischen Soldaten mit ihren Gewehren. Sie überrennen auch die weißrussischen Zäune auf dem Weg zum Grenzübergang. Siegessymbole von jungen Männern und kleinen Mädchen bleiben in Erinnerung. »All diese Babys schreien nach Milch und Windeln«, deklamiert ein Mann. »Wir haben nichts. Bitte kommt und helft diesen Leuten.« Gestern sendete das ZDF die Aussagen eines anderen Migranten, der davon sprach, dass der Weg nach Weißrussland »einfach« gewesen sei, nur 2.000 Dollar für ein Visum.
Neuer Versuch, die Grenze zu stürmen – Maas wünscht sich die Rückreise der Migranten
Von weißrussischer Seite aus werden Migranten regelrecht aufgehetzt. Immer geht es gegen die polnischen Grenzanlagen, die die Regierung möglichst rasch verstärken will. Gegen eine Aufnahme der Migranten sprach sich nun überraschend Außenminister Heiko Maas aus – mit sehr eigenen Gründen.
Außergewöhnlich arm dürften diese »Flüchtlinge« nicht sein, da sie sich einen Flug nach Minsk leisten konnten, auch politisch verfolgt werden sie als Kurden im Nordirak, wo sie in der Mehrheit sind, wohl kaum. Aber psychologisch kann man gut verstehen, dass sie, nachdem sie ihrem Vaterland aus welchem Grund und unter welchen Kosten und Mühen auch immer den Rücken gekehrt haben, nicht einfach so zurückkehren wollen.
An der Grenze stürmt es, der Krisenstab tagt
Am Dienstagmorgen und bis zum Mittag gab es einen weiteren Versuch der Migranten, über den Grenzübergang Bruzgi–Kuźnica auf polnisches Gebiet zu gelangen. Wie der Regierungssprecher Piotr Müller bekanntgab, hatten die polnische Polizei, der Grenzschutz und die Streitkräfte Anweisungen, jede Grenzübertretung zu verhindern. Der Krisenstab der Regierung tagte unter der Leitung von Premier Mateusz Morawiecky und Präsident Andrzej Duda. Beschlossen wurde der baldige Bau der festen Grenzbarriere. Die zu beauftragenden Firmen sollen in drei Schichten, 24 Stunden am Tag arbeiten, und zwar gleichzeitig an vier Stellen der Grenze.
Am Grenzübergang Bruzgi–Kuźnica setzten die Grenzschützer heute Wasserwerfer gegen Migranten ein, nachdem diese die polnischen Dienste »für etwa eine Stunde« angegriffen hatten. Die Belagerer warfen Steine, Flaschen, brennende Holzstücke und andere »Rauch emittierende Gegenstände« über den Stacheldrahtzaun, hinter dem an dieser Stelle noch ein stabilerer Zaun in den polnischen Farben angebracht ist. Laut Angaben der Polizei wurde ein Beamter schwer am Kopf verletzt, mit Verdacht auf Schädelbruch.
Das Innenministerium veröffentlichte Bildmaterial, das zeigt, wie Migranten den Grenzzaun beschädigen und zerstören. Angeblich sind aber auch weißrussische ›Grenzschützer‹ an den Zerstörungen beteiligt. Davon werden nächtliche Aufnahmen präsentiert, es geht aber zudem aus Rosenbergs Reportage (weiter oben) hervor. Das Verteidigungsministerium wies – wiederum mit Videobeweis – darauf hin, dass die Steinewerfer stets von weißrussischen Uniformierten beaufsichtigt und kontrolliert werden. Die Migranten warfen Rauchgranaten und andere Waffen auf die polnische Seite. Um 12.45 Uhr war die »erste Angriffswelle«, so Ministersprecher Stanisław Żaryn, erfolgreich bestanden.
Am 15. November verzeichneten die Grenzschützer wiederum um die 200 Versuche, die Grenze widerrechtlich zu überschreiten. 29 Migranten wurden formell aus Polen ausgewiesen. Im südlichen Teil der Grenze, bei Dubicze Cerkiewne, wurde eine Gruppe von 100 Menschen an der illegalen Einreise gehindert.
Schon gestern war das wilde Lager für die Migranten gegenüber der Grenze etwas nach hinten versetzt worden. Auf dem freigewordenen Platz verteilten die weißrussischen Einheiten angeblich Wasser und Holz.
Inzwischen gibt es Solidaritätserklärungen von der nationalen Feuerwehr, man unterstütze Polizisten, Grenzschützer und die Armee »beim Schutz UNSERER Grenzen« (die Hervorhebung stammt vom Tweet-Verfasser). Die Polizei versichert den Polen, dass sie sicher schlafen könnten, während man selbst wache: »Wir dienen Polen.«
Das Innenministerium informiert, dass die 2.000 Migranten, die sich derzeit in polnischen Aufnahmezentren befinden, häufig ihre Identität verhehlen. Das Hauptziel des neuen Grenzschutzgesetzes bestehe darin, dem polnischen Staat die Möglichkeit zu geben, »die Grenze gut zu schützen – die Grenze in Ordnung zu halten«. Es ist davon auszugehen, dass die Opposition das neue Gesetz als Verlängerung des Ausnahmezustandes kritisieren wird. Unterdessen hat auch in Finnland eine Debatte über eine Grenzbefestigung begonnen. Kai Mykkänen, Ex-Innenminister und Abgeordneter der konservativen Nationalen Sammlungspartei, wies darauf hin, dass auch an der finnisch-russischen Grenze eine ähnliche Situation entstehen könnte.
Der stellvertretende Innenminister Maciej Wąsik twitterte, dass der Irak sich bereiterklärt habe, seine Staatsbürger mit Flugzeugen aus Weißrussland abzuholen. Am Donnerstag soll der erste dieser Flüge nach Bagdad zurückkehren.
EU verstärkt Sanktionen – Merkel spricht mit »Herrn Lukaschenko«
Die EU verschärft derweil ihr Sanktionsregime gegen Weißrussland. Laut dem Außenbeauftragten Josep Borrell richten sich neue Sanktionen vor allem gegen das »illegale Hineindrängen von Migranten« über die EU-Außengrenze – also gegen die beteiligten Fluglinien und Reiseagenturen, außerdem gegen Regierungsmitglieder (zum Beispiel der Außenminister) und Bürger Weißrusslands. 33 Unternehmen und Personen sollen direkt davon betroffen sein. Schon nach den angezweifelten Präsidentschaftswahlen 2020 wurden EU-Sanktionen über 166 Personen und Organisationen von Sanktionen verhängt.
Irland hat irische Unternehmen angewiesen, 17 geleaste Flugzeuge von der weißrussischen Fluggesellschaft Belavia zurückzufordern. Falls das nicht geschehe, werde man rechtliche Maßnahmen ergreifen, so der irische Außenminister Simon Coveney. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis sprach sich dafür aus, aus Minsk eine »No-fly-Zone« zu machen. Er äußerte die Befürchtung, dass sich russische Soldaten auf Dauer in Weißrussland an der litauischen oder polnischen Grenze einrichten könnten und dass Russland in die Ukraine einmarschieren könnten.
Inzwischen hat die Kanzlerin, einem Wink Putins folgend, persönlich mit Lukaschenko gesprochen. Putin hatte zuvor auch bei dem weißrussischen Präsidenten für gutes Wetter gesorgt. Merkel hat so eine wichtige Forderung Lukaschenkos erfüllt. Doch was hat sie gewonnen? Laut Regierungssprecher Steffen Seibert ging es in dem Gespräch um die Lage der Migranten im weißrussischen Grenzgebiet (sowohl an der Grenze zu Polen wie an der zu Litauen) und um die »Notwendigkeit humanitärer Hilfe für die dort befindlichen Flüchtlinge und Migranten«.
Man kann sich seine Partner nicht immer aussuchen, macht aber trotzdem durch die Wortwahl klar, was man von seinem Gegenüber hält: In der Pressemitteilung aus dem deutschen Kanzleramt ist nur von »Alexander Lukaschenko« oder wahlweise »Herrn Lukaschenko« die Rede, einen Amtstitel gönnt man ihm nicht. Dabei will Lukaschenko sogar einen Vorschlag zur Lösung der Krise präsentiert haben. Laut übereinstimmenden Angaben wollen Frau Merkel und Herr Lukaschenko noch ein zweites Mal miteinander telefonieren. Die Wiederwahl des Präsidenten im vergangenen Jahr hatte die Kanzlerin eigentlich nicht anerkennen wollen. Nun hat sie, wie ihr der Grüne Omid Nouripour vorwarf, genau diese Anerkennung vollzogen.
Maas gegen Aufnahme: Asylbewerber nehmen andere Wege
Auch für Olaf Scholz (SPD) ist Lukaschenko ein »ganz schlimmer Diktator« ohne jede Legitimation. Das Spiel Lukaschenkos und der Schleuser dürfe man auf keinen Fall mitspielen. Und in diese Kerbe haute nun auch – was die Beinahe-Eroberung des Kanzleramts doch verändern kann – Noch-Außenminister Heiko Maas (ebenfalls SPD), der die Aufnahme von Migranten aus Weißrussland nun kategorisch ausschloss. Am Montag »plädierte« er in Brüssel nach einer Beratung mit seinen EU-Kollegen dafür, »dass die Menschen, die dort sind in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden«. Denn wer politisches Asyl bekomme, der müsse »meistens andere Wege« nehmen.
Also garantiert das Besteigen eines wackeligen Bootes im Mittelmeer die Asylwürdigkeit von Migranten. Denn so muss man Maas wohl verstehen. Jahrelang warb der Außenminister nun – mit und ohne Worte – für ein »Bündnis der Hilfsbereiten«, das »Flüchtlinge« aus dem Mittelmeer in der EU verteilen sollte, wobei natürlich Deutschland stets »vorangehen« musste (nur die anderen Länder folgten auf unauffällige Weise nicht), und Seehofer ist ihm gefolgt.
Menschen dürften sich nicht »unter Vorspiegelung falscher Tatsachen« instrumentalisieren lassen, sagte Maas nun, schon gar nicht von einem Machthaber wie Lukaschenko. Außerdem stellte auch Maas fest, dass sich die Situation an der polnischen Grenze keineswegs entspannt habe. Eher verschlechtere und dramatisiere sich die Lage. Dass daraus auch lokal-regionaler Handlungsbedarf folgt, mag er aber nicht zugestehen, mag nicht von EU-finanzierten Grenzbarrieren sprechen. Stattdessen träumt der SPD-Minister der besten aller Welten nach: »Wir würden uns wünschen, dass es ein Einlenken gibt in Minsk.«
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