Die Schweizer treibt die Frage um, ob sie den sogenannten Rahmenvertrag mit der EU akzeptieren wollen oder nicht. Kritiker befürchten, dass damit die Schweiz ihre Rechtsouveränität aufgibt und sich um des Marktzugangs willen dem Diktat aus Brüssel unterwirft.
Die Massnahme der EU-Kommission, die Börsenäquivalenz per 1. Juli auslaufen zu lassen, um der Schweiz nach Gutsherrenart mal «einen Schuss vor den Bug» zu verpassen, weil der «politische Wille» fehle, das Rahmenabkommen endlich zu unterschreiben, hat die Chancen dafür auf nahe null gesetzt. Denn solche Strafmassnahmen machen die Eidgenossen schon von Alters her ranzig.
Börsenäquivalenz bedeutet, dass die EU und die Schweiz gegenseitig ihre Börsen anerkennen, was bedeutet, dass Aktien, auch Schweizer Wertpapiere, an EU-Börsen und an den Schweizer Börsen gehandelt werden können; von Tradern, die in der EU oder in der Schweiz sitzen. Eigentlich Pipifax, ausser, man will einen Streit vom Zaun brechen. Die Eidgenossen haben für einmal clever reagiert und als Gegenmassnahme den Handel mit Schweizer Wertpapieren an EU-Börsen untersagt. Was wiederum EU-Tradern die Möglichkeit gibt, doch weiterhin an Schweizer Börsen zu handeln.
Also ein klassischer Schuss ins eigene Knie, denn die Schweizer Börsen profitieren von dieser Volumenausweitung, die EU-Börsen verlieren. Aber das ist ja nur kindische Politik auf dem Niveau einer Kneipenschlägerei. In Wirklichkeit ist den Eurokraten etwas ganz anderes ein grosser Dorn im Auge: die Schweizer Währung.
Warum? Ganz einfach.
Der Schweizerfranken ist all das, was der Euro hätte sein sollen, aber schon längst nicht mehr ist. Eine stabile, verlässliche Währung, die trotz des Wertzerfalls von Dollar und Euro gegenüber dem Franken die Schweizer Exportindustrie nicht davon abhält, von einem Leistungsbilanzüberschuss zum nächsten zu eilen.
Also alles gut bei den glücklichen Eidgenossen? Nicht ganz. Der Franken ist, bildlich gesprochen, nicht mehr als ein Bötchen auf dem See des Euro, der wiederum eine bessere Pfütze ist im Vergleich zum Atlantik des US-Dollar. Nachdem die Schweizerische Nationalbank (SNB) den sowieso zum Scheitern verurteilten Versuch aufgab, eine Untergrenze zum Euro zu verteidigen, kann sie die Flucht in den Franken und eine dementsprechende Aufwertung nur noch mit einem Mittel verhindern: mit dem Leitzins.
Damit muss sie vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) unterbieten, was gar nicht so einfach ist, weil deren Leitzins bei null liegt. Also verlangt die SNB im Schnitt 0,75 Prozent dafür, dass man bei ihr Geld bunkern darf. Was zu zwei nicht gerade lustigen Auswirkungen führt. Zum einen denken Schweizer Banken schon ernsthaft darüber nach, erstklassigen Schuldnern Hypotheken zum Nullzins zu gewähren. Immer noch besser, als bei der SNB 0,75 Prozent abdrücken zu müssen. Und auch Hypotheken mit Negativzinsen sind nicht mehr ausgeschlossen.
Neben dieser Absurdität führt der negative Leitzins dazu, dass Sparer und Rentenanwärter, deren Altersgeld nach dem Kapitalanlageverfahren geäufnet wird, Multimilliarden verlieren. Aber auf der Haben-Seite hat die SNB ein beeindruckendes Eigenkapital von 150 Milliarden Franken angehäuft. Ihre Aktiva sind mit über 800 Milliarden Franken zwar einiges höher als das Schweizer BIP, aber da dieses Geld bei erstklassigen Schuldnern angelegt ist, bräuchte es schon einen mittleren Weltuntergang, damit die SNB ins Schlingern geriete. Selbst einen Verlust von 15 Prozent, was schon ein kleiner Weltuntergang wäre, könnte sie mit diesem Eigenkapital locker wegstecken.
Einziges Problem: Trotz dieses Eigenkapitals klaffen Wert und Bewertung der SNB meilenweit auseinander. Denn ihre Marktkapitalisierung an der Börse beträgt lediglich 525 Millionen Franken. Das liegt unter anderem daran, dass pünktlich zu jedem Quartalsbericht, vor allem, wenn der wieder einen Milliardengewinn ausweist, von der Wirtschaftspresse im Chor davon abgeraten wird, diese Aktien zu kaufen. Das sei nur etwas für Spekulanten, das sei gar keine richtige Aktie, als Finger weg und pfuibäh.
Aber dieses Problem ist ein wahres Luxusproblem im Vergleich zur Situation der Europäischen Zentralbank. Während «what ever it takes»-Draghi demnächst in den Ruhestand abschwirrt und durch die einschlägig vorbestrafte Christine Lagarde ersetzt wird, steht die EZB vor einem wahren Problemberg. Der besteht unter anderem aus 2,6 Billionen Euro. So viel Schuldpapiere hat die EZB seit 2015 aufgekauft.
Darunter 2,1 Billionen Staatsschuldpapiere. Eigentlich ein krimineller Taschenspielertrick, wo Schulden und Geld von einer Hosentasche in die andere wandern. Deshalb hat die SNB haargenau null Anlagen in Franken. Aber dadurch, dass die EZB fast den Markt für Schuldpapiere in Euro leergekauft hat, haben sagenhafte Dreiviertel aller Staatsanleihen im Euro-Land eine negative Rendite. Oder weniger euphemistisch ausgedrückt: Bei Dreiviertel aller staatlicher Schuldpapiere zahlt der Investor etwas dafür, dass er dem Staat Geld leihen darf.
Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Indem mit Negativzinsen die Schwerkraft in der Finanzwelt aufgehoben wird, verlieren Zinsen ihre Wirkung bei der Allokation von Geld. Also der Schuldner kann sich hemmungslos verschulden, der Gläubiger bekommt nichts für sein Risiko, sein Geld aus der Hand zu geben. Und dennoch ist auch das nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste ist hinter der Frage verborgen, wie denn die EZB aus dieser Nummer wieder rauskommen will. Durch diesen verantwortungslosen Aufkauf von Staatsschuldpapieren hat sie sich nämlich in Geiselhaft der Staaten begeben. Denn neben dem Monopol auf Neugeldschöpfung bestimmt die jeweilige Notenbank bekanntlich den Leitzins, nachdem sich das allgemeine Zinsniveau richtet. Der liegt bei der EZB auf null, es ist zu befürchten, dass er sogar ins Negative gesenkt wird. Denn der Weg in die andere Richtung ist der EZB verbaut. Würde sie den Leitzins auf ein normales Niveau anheben, dann müssten in Europa Staaten reihenweise Bankrott erklären.
Denn sie sind nicht nur im Fall Griechenlands oder Italiens dermassen verschuldet, dass nur eine kontinuierliche Flutung mit Neugeld und Nullzinsen sie manövrierfähig halten. Wenn die EZB das Zinsniveau nur schon auf dasjenige der US-Notenbank anheben würde, also auf 2,25 bis 2,5 Prozent, würde das bedeuten, dass Italien auf seine 2,3 Billionen Staatsschulden, beim aktuellen Risikoaufschlag von 2,5 Prozent, rund 110 Milliarden Euro Zinsen zahlen müsste.
Wem es bei so grossen Zahlen schwindlig wird: Das ist sehr, sehr viel. Das ist zu viel. Das führt natürlich zur naheliegenden Frage: Wenn also diese gewaltigen Schuldenlasten, die Billionen an Staatsschuldpapieren in der Bilanz der EZB nicht durch eine Inflation oder eine gewaltige Steigerung der Wertschöpfung wegradiert werden können, wie dann? Nun, das sind die beiden Rezepte, die die sogenannte Finanzwissenschaft anzubieten hat. Werden Schulden unbezahlbar, dann inflationiere sie weg. Oder steigere das Bruttosozialprodukt wie China, aber gleich 25 Jahre lang.
Wenn beides nicht möglich ist, droht dann der Weltuntergang, der Crash, müssen sich die Deutschen zum dritten Mal in einem Jahrhundert darauf vorbereiten, dass sie mit der Währung im Winter besser die Heizung füttern als mit Kohle? Aber nein, so wird das nicht laufen. Sollte die Situation unerträglich werden, und da es keinen anderen Ausweg gibt, wird sie das, dann hilft nur ein Mittel, das im Euroraum schon zweimal angewendet wurde. Der Haircut.
Also der Anleger, Gläubiger, Sparer wird rasiert, der Kreditnehmer, Schuldner jubiliert. Wenn man noch weiss, dass 90 Prozent aller Deutschen über ein Vermögen von weniger als 250’000 Euro verfügen, muss man kein Hellseher sein, um vorherzusagen, wie tief der Haarschnitt angesetzt wird.
Könnte man sich dann wenigstens im ganzen Elend schadenfreudig darüber erheitern, dass damit auch die Euro-Schuldpapiere der Schweizer Notenbank, die unter anderem zu den grössten Gläubigern Deutschlands gehört, sich in Luft auflösen würden und somit auch die Eidgenossen ein gröberes Problem hätten?
Sagen wir mal so: Wenn sie blöd sind, schon. Wenn sie nicht blöd sind, werden sie die Zeichen eines drohenden Haircuts rechtzeitig erkennen und ihre Positionen glattstellen. Voltaire soll ja gesagt haben: Wenn du einen Schweizer Banker aus dem Fenster springen siehst, spring hinterher. Es gibt dabei sicher etwas zu verdienen. Die moderne Version müsste also lauten: Wenn du siehst, dass die SNB ihre Euroschuldpapiere auf den Markt wirft, dann werfe hinterher.