Über die Gewaltausschreitungen am Rande der Demonstration berichteten die Medien weltweit. Auch über Blockaden und Aufmärsche an anderen Orten in Frankreich. Am 1. Dezember, ebenfalls einem Samstag, marschierten die „Gilets jaunes“ wieder auf den Champs Elysées auf, über die Gewalteskalation im Laufe der ansonsten friedlichen Demonstration wurde ebenfalls ausgiebig berichtet; dieses Mal gingen die Krawalle auf das Konto durchtrainierter, quasi professioneller Chaos-Trupps. Die meist gewaltlosen Aktionen in anderen Regionen fanden in den Medien hingegen kaum Beachtung. Brennende Barrikaden haben in Frankreich Tradition, genauso wie mehr oder minder spontane Protestaktionen und selbst mehr oder minder geplante Krawalle am Rande von Demonstrationen.
Proteste gegen Sozialreformen oder wie jetzt hohe Spritpreise sind nichts Neues. In Erinnerung geblieben sind die 3wöchigen Streiks zum Jahresende 1995 gegen eine von Premierminister Alain Juppé geplante Rentenreform, die das ganze Land lahmlegten, oder der landesweite Aufstand im Jahr 2000 gegen die drastische Erhöhung der Benzin- und Dieselsteuer unter der Regierung von Lionel Jospin. Doch dieses Mal geht es um sehr viel mehr. Der als eine Zumutung empfundene Spritpreis war nur ein Auslöser für die Bewegung, verbindet als gemeinsames Identifikationsmerkmal diverse Einzelforderungen, die die „Gilets jaunes“ in ganz Frankreich auf die Straße treiben. Auch wenn viele Demonstranten nun den Rücktritt Macrons fordern, ist diese Bewegung nur vordergründig gegen den Präsidenten und seine Politik gerichtet. Er versinnbildlicht vielmehr das Machtmonopol einer technokratischen und sozial privilegierten Pariser Elite und ist somit Projektionsfläche zugleich für die Zukunftsängste der nicht-städtischen Bevölkerung, die sich abgehängt fühlt, und ihre Wut gegen eine ihnen von oben aufoktroyierte Gesellschaftsveränderung, in der sie sich nicht wiedererkennen, und die auch noch unmittelbar auf ihrem verfügbaren Einkommen lastet.
France périphérique
Die Protestbewegung der „Gilets jaunes“ liest sich wie der Bruch eines Staudamms. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich zahlreiche nie gelöste Konflikte angestaut, die Gesellschaft hat sich zunehmend in zwei Lager aufgespalten, und viele Bürger der unteren und mittleren Mittelschicht fühlen sich heute nicht mehr nur nicht wahrgenommen, sondern vielmehr noch von der politischen Elite regelrecht verachtet. Die Bewegung der „Gilets jaunes“ fördert eine tiefe Kluft zu Tage, die bisher nur wenigen Geographen (und Soziologen) bewusst war, nämlich die zwischen florierenden Metropolen (vor allem Paris nebst Speckgürtel), in denen die kosmopolitische, ökoliberale obere Mittelschicht lebt, die mehrheitlich Macron gewählt hat, und den darunter liegenden Kategorien der Mittelschicht (knapp zwei Drittel der Bewohner), die an der Peripherie, in mittleren und Kleinstäten oder im ländlichen Raum leben und für die Fragen wie verfügbares Einkommen und Arbeit oberste Priorität haben.
Diese Kluft ist nicht neu, sie kennzeichnete schon das Frankreich der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nun nimmt sich Christophe Guilluy dieser Problematik an. Er fokussiert sich mehr auf die soziale Komponente eines Frankreichs der zwei Geschwindigkeiten und kommt zu dem Schluss, dass im „periphären Frankreich“, also außerhalb von Paris und den wenigen Großstädten, ein neues Klassenbewusstsein entsteht: das des „einfachen Volkes“ („classes populaires“), das außerhalb des Geschehens lebt und sich demnach zugleich als Verlierer der Globalisierung sieht.
Eine „Zweiklassen“-Gesellschaft
Mit diesem geographischen Merkmal verbindet sich auch ein soziales oder gar soziokulturelles. Dort ist die Arbeitslosigkeit höher als in den Städten, und die beruflichen Entwicklungsperspektiven vor Ort sind begrenzter. Genauso wie in den deutschen neuen Bundesländern fehlt es an höher bis hochqualifizierten Arbeitsplätzen, besonders im Dienstleistungsbereich, denn diese konzentrieren sich in den städtischen Ballungsräumen. Entsprechend sind auch die Einkommen niedriger. Und hier finden sich die „Gilets jaunes“: Kern der Bewegung bildet die Einkommensgruppe von 1.300 bis 2.100 Euro, also die untere Mittelschicht. Sie empfindet sich nicht als arm, muss aber zusehen, dass sie über die Runden kommt. Sie treffen die jüngsten Abgabenerhöhungen besonders hart, insbesondere die steigende Dieselsteuer. Auch viele Rentner gehören zu den Protestlern, denn diese Bevölkerungsgruppe trägt nun weitgehend allein die Last einer der Sozialreformen Macrons, nämlich die Abschaffung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung für alle Lohnempfänger; sie wurde durch eine Erhöhung der „Contribution sociale généralisée“ (CSG: „allgemeiner Sozialbeitrag“, eine Steuer) ausgeglichen, die auf den Renten lastet.
Kurzum, die mit dem vordergründigen Ziel des „ökologischen Übergangs“ betriebene Steuererhöhungspolitik Macrons beginnt, den unteren Rand der Mittelschicht an die Armutsgefährdungsgrenze anzunähern. Diese Feststellung schürt erheblich die ohnehin in der Mittelschicht vorhandenen Abstiegsängste, die auch durch die regelmäßige Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns6 sowie zunehmende Entlastungsmaßnahmen für die untersten Einkommen genährt werden. Auch wenn der Lebensstandard zwischen 1996 und 2014 global gestiegen ist, die Einkommen der Mittelschicht wie der einkommensschwachen Haushalte nähern sich am unteren Rand einander an, die Schere zu der obersten Einkommensgruppe bleibt weit geöffnet und dürfte sich sogar seit der von Macron beschlossenen Abschaffung der „Reichensteuer“ („Impôt sur la fortune“, ISF) weiter geöffnet haben. Mit anderen Worten: Die erwerbstätige Mittelschicht (Deutsch: „Leistungsträger“) fühlt sich heute einem konkreten und unmittelbaren Verarmungs-Risiko ausgesetzt und sieht sich an den Rand einer neuen „Proletarisierung“ getrieben.
Die „France périphérique“ ist aufs Auto (Diesel) angewiesen
Verbindet man diese mittleren und unteren Einkommen mit ihrer regionalen Verteilung, wird auch deutlich, warum es die „France périphérique“ ist, die gegen die Dieselsteuer demonstriert. Die Menschen dort, darunter viele Frauen, sind auf ihr Auto angewiesen, weil es außerhalb der Innenstädte kaum oder keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Und sie besitzen mehrheitlich einen Diesel, weil die Kosten-Nutzen-Rechnung bisher stimmte. Der etwas höhere Anschaffungspreis konnte durch den billigeren Kraftstoff und eine höhere gefahrene Kilometerzahl kompensiert werden. Das galt zumindest bis 2014, als unter François Hollande beschlossen wurde, Dieselfahrzeuge nicht mehr indirekt zu fördern, und stattdessen E-Mobilität zu forcieren. Zwei Drittel der Franzosen fahren heute einen Diesel. Die Hälfte dieser Fahrzeuge ist älter als elf Jahre, ein knappes Drittel zwischen acht und zehn Jahren alt. Die Mehrheit der Halter lebt in der „France périphérique“; die jüngsten und schadstoffärmsten Autos fahren die Städter.
So äußert sich diese tiefe Kluft in den Lebensverhältnissen heute quasi in Form eines „Klassenkampfes“, der jedoch keiner Ideologie folgt. Es stehen sich gegenüber auf der einen Seite Menschen aus der „Peripherie“, die mit ihrem Leben und ihrer Arbeit im Großen und Ganzen zufrieden sind, obwohl sie „knapp bei Kasse“ sind und genau rechnen müssen, um mit ihrem Einkommen bis zum Monatsende zu kommen. Auf der anderen Seite Städter, Gewinner der Globalisierung, die mit Gesundheits- und anderen Dienstleistungen gut versorgt sind, über funktionstüchtige öffentliche Verkehrsmittel verfügen, und deren größte Sorge die Erderwärmung ist. Zwei Welten, miteinander kaum vereinbar. Das ist es, worauf sich Macron in seiner Rede vom 27. November zur ökologischen Umwandlung bezog, als er meinte, er wolle in Zukunft „Weltuntergang“ („fin du monde“) und „Monatsende“ („fin de mois“) besser miteinander in Einklang bringen. Doch mit diesem unglücklichen Slogan heizte er ungewollt die Stimmung weiter gegen seine Politik auf.
Der Citoyen ist nicht repräsentiert
So ist die Bewegung der „Gilets jaunes“ auch der Ausdruck eines lange angestauten Unmuts gegenüber einem politischen System, in dem der Citoyen kein Mitspracherecht hat, sieht man von dem Urnengang bei Präsidentschafts-, Parlaments- oder Kommunalwahlen ab. Seine legitimen Interessen repräsentiert kein Verband, solch eine Form der Organisation gesellschaftlich relevanter Gruppen ist im zentralistischen Frankreich unbekannt. Zwar gibt es Gewerkschaften, wenn auch mit geringem Organisationsgrad und hauptsächlich im öffentlichen Dienst, aber sie verteidigen weniger die Interessen der Arbeitnehmer als dass sie eigene ideologische Ziele verfolgen, sodass man sie als politische „Mini-Parteien“ bezeichnen kann. Entsprechend fehlt auch jedes Dialog–Forum zwischen Regierung und Bürgern – zumindest auf nationaler und regionaler Ebene. Allein die vielen kleinen Kommunen bieten solch eine Möglichkeit. Doch auch deren Bürgermeister haben auf der nächsthöheren Ebene kein Mitspracherecht, was einige kürzlich dazu geführt hat, ihre Teilnahme an einem Dîner im Elysee-Palast abzusagen.
Im zentralstaatlichen Gefüge Frankreichs fehlen das Subsidiaritätsprinzip und seine institutionellen Ausgestaltungsformen gänzlich. Die Gebietskörperschaften – von der Kommune bis zur „Région“ – haben nur geringfügige Verwaltungsaufgaben, meist allein Ausführungskompetenzen. Die Verwaltungseinrichtungen „Départements“ sind Außenstellen des Premierministers, die „Préfets“ haben zwangsläufig alle die ENA absolviert. Es gibt in Frankreich keine vergleichbare Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Verwaltung, wie sie den deutschen Föderalismus prägt. Weder politisch noch gesellschaftlich sieht das zentralistische französische politische System eine Repräsentation der Interessen der Basis – des Volkes – vor, in welcher Form auch immer. Ein Dialog zwischen „oben“ und „unten“ ist daher nicht möglich. Die Macht ist beschlagnahmt, ob es sich um Politik, Wirtschaft, Innovation oder einfach Initiative handelt.
Auch Macron vertritt das Ancien Régime
Das Fehlen von Zwischengewalten („pouvoirs intermédiaires“), über die gesamtgesellschaftliche Belange debattiert werden könnten, de-legitimiert in den Augen der Bürger die Institutionen sowie die Politik an sich. Auf gesellschaftlicher Ebene bedeutet das, im Gegensatz zu Deutschland: Keine Kirche, keine Gewerkschaft, kein Verband kann sich der Interessen der in Deutschland als „gesellschaftlich relevante Kräfte“ bezeichneten Citoyens annehmen. Die französische System ist noch das eines „ancien Régime“. Die französische Demokratie weist einen dringenden Modernisierungsbedarf auf. Auch das zeigen die Proteste.
Bezeichnend für die Bewegung der „Gilets jaunes“ ist entsprechend, dass sie an keine Partei gebunden, ja im Gegenteil parteiübergreifend ist – mit einer Ausnahme: Anhänger von „En Marche“ bilden eine kleine Minderheit, doch auch sie kehren sich zunehmend von E. Macron ab.
Es sind die Citoyens, nicht die Erwerbstätigen als solche, die den Aufstand proben. Und sie tun es spontan. Es gibt keine Anführer, keine Delegierten oder Repräsentanten. Einerseits ist die Bewegung zu vielfältig, andererseits liegt schon lange das Misstrauen jeder politischen Organisationsform gegenüber zu tief. Aber sind die „Gilets jaunes“ auch bereit, in der Politik Verantwortung zu übernehmen? Und sind sie dazu überhaupt in der Lage? Eher nicht. Die Unkenntnis der Bürger wie der politischen Entscheidungsträger, was andere Demokratien und ihre Institutionen oder Funktionsweise angeht, behindert eine Neugestaltung enorm.
Vielleicht wird es um Weihnachten ruhiger, aber die Verzweiflung eines Großteils des französischen Volkes wird weiter schwelen. Doch im Frühjahr sind Europawahlen, bis dahin drohen unruhige Zeiten.
Dieser Beitrag von Isabelle Bourgeois wurde mit Genehmigung der Autorin von der deutsch-französischen Diskusssionsplattform Tandem-Europe übernommen. Isabelle Bourgeois ist eine französische Deutschland-Expertin und hat mehrfach für TE über Frankreich berichtet.