Ist es geschichtliche Ironie oder schon kindlicher Trotz, dass die BBC just am Tag nach einer in Gewalt und Randale ausartenden Straßenparty im Londoner Stadtteil Brixton ein idyllisches Stück über dessen multiethnische Bewohnerschaft bringt? Die einfachste und ökonomischste Erklärung wird wohl sein, dass für die Rundfunkoberen nicht sein kann, was nicht sein darf. »Brixton erscheint nahezu normal«, beginnt der Artikel auf BBC News. Der Geruch von Meeresfrüchten und überreifen Bananen erfüllt zusammen mit Whitney-Houston-Songs die Straßen, die sich langsam wieder mit Menschen füllen. Das »Koma« des totalen Lockdowns ist vorüber, das multiethnische Viertel im Süden erwacht angeblich ganz allmählich zu neuem Leben.
Seit 1948 fanden hier viele Einwanderer aus der Karibik, die sogenannte Windrush-Generation, ein neues Zuhause. In ganz England leben heute an die 600.000 Menschen mit karibischen Wurzeln. Brixton gilt als Hochburg der Gemeinschaft in London, ein Viertel der dortigen Bevölkerung ist afrikanischer oder karibischer Herkunft. Der Obst- und Gemüsemarkt ist über das Viertel hinaus berühmt. Neuerdings ist die Nachbarschaft auch ein Anziehungspunkt für Mittelklassefamilien und junge Menschen, die die gute Verkehrsanbindung und das lebendige Nachtleben schätzen. Zugleich gilt Brixton aber als Drogenumschlagplatz für ganz London. Armut, Gangkultur und Waffengewalt schließen sich an, und es gibt Orte, die Außenstehende nachts lieber meiden sollten.
Das gewöhnliche Nachtleben des Viertels ist freilich noch nicht nach Brixton zurückgekehrt. Das ist derzeit durch die sozialen Distanzierungsregeln nicht möglich, Clubs und Bars sind noch nicht geöffnet. Und dafür suchte man wohl einen Ersatz. Die »Partyszene«, von der in Stuttgart so viel die Rede war – hier war sie zu erleben. Allerdings war das eben auch das Problem, denn der britische Lockdown ist noch immer um einiges strenger als der deutsche.
Höchste Klassifikation in der Londoner »Gang Matrix«
Alles begann mit einer an sich schon illegalen Straßenparty mit lauter Musik am Mittwochabend, die bald auch durch »antisoziales Verhalten« geprägt sein sollte. Als die Polizei versuchte, die ›Party‹ aufzulösen, reagierten einige der Jugendlichen unwillig und mit Gewalt, wie Scotland Yard mitteilte. Anscheinend wurde ein Mann durch Messerstiche verletzt. Kurz darauf wurden dutzende Beamte angefordert, um die Lage unter Kontrolle zu bringen; am Ende waren mindestens 22 von ihnen verletzt. Zwei Polizisten und zwei der uneinsichtigen Feierer mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Nur vier Verhaftungen gelangen. Die Polizei war zuvor effektiv vom Ort des Geschehens vertrieben worden. Der riesige Wohnblock Angell Town, in dem etwa 4.000 Menschen wohnen, erhielt die höchste Klassifikation in der »Gang Matrix« der Londoner Polizei. Die Wohngegend gilt auch als eine der ärmsten des Landes. Aus Downing Street wurde im Nachhinein zwar wiederum mit der »vollen Härte des Gesetzes« gedroht, doch das bleibt eine leere Drohung, wenn den Kräften vor Ort jede Polizeistrategie fehlt.
Auf Videos sieht man, wie Polizisten hilflos zurückweichen, während haufenweise junge Männer auf ihre Autos zustürmen, die Scheiben mit hohem Körpereinsatz – unter dem Jubel vieler Umstehender – einschlagen und eintreten und neugierige Blicke in die Inneneinrichtung werfen. Das Heiligtum ist entblättert. Es ist fast rührend und entsetzlich zugleich, wie die Beamten zum Teil versuchen, die Gewalttäter durch entschiedene Gesten zur Räson zu bringen.
In einem anderen Video filmt sich ein junger Mann, wie er anscheinend mit einem großen Messer herumfuchtelnd auf Polizisten zustürmt. Zwei Männer nutzten eine Tischplatte zugleich als Schutzschild für sich und Rammbock gegen die Polizisten.
Scotland Yard, die britische Polizeiführung, hatte einen Abend später, am Donnerstag, über die sozialen Netzwerke angekündigt, eine „verstärkte Polizeiaktion“ in ganz London durchzuführen. In der Nacht spielten sich dann im Stadtteil Notting Hill ähnliche Szenen ab, wie zuvor in Brixton, als die Polizei versucht, eine nicht genehmigte Party in den Colville Gardens aufzulösen.
Ein Soziologieprofessor, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Regierung, hatte unlängst vor solchen Bildern von uneinsichtigen jungen Männern gewarnt, allerdings eher für den Fall, dass ein partieller Lockdown wieder verhängt werden sollte. Nun reichte die schrittweise Lockerung desselben, um eine Gewalt freizusetzen, mit der offenbar auch bei der Metropolitan Police und im örtlichen Polizeidistrikt niemand gerechnet hatte. Ein nach allem Anschein unnötiges Versäumnis, denn Brixton hatte schon in den 1980er und 1990er Jahren Unruhen aus diversen Gründen gesehen.
Bezeichnend und an Deutschland erinnernd sind die Einordnungen durch die Regierenden. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan ließ einmal mehr ein deutliches Wort vermissen und behandelte den Vorfall schlicht als Verstoß gegen die Distanzierungsregeln, der als solcher »unverantwortlich« sei. Innenministerin Priti Patel nannte die Gewalt gegen die Polizei »zum äußersten niederträchtig« und kündigte an, umgehend mit Dame Cressida Dick, der Polizeichefin von London, in Kontakt zu treten. Der meinungsfreudige konservative Parlamentsabgeordnete Andrew Bridgen glaubt derweil, dass die Polizeichefin die Kontrolle über London bereits an eine »gesetzlose Minderheit« verloren habe. Für den Abend des 24. Juni kann man ihm leider nur recht geben. Boris Johnson teilte durch seinen Sprecher mit: »Das waren entsetzliche Szenen. Gewalt gegen Polizisten wird nicht toleriert werden.«
Tatsächlich ist die Perspektive auch auf die allgemeinere Lage im sich transformierenden britischen Lockdown auszuweiten, der nach Polizeiangaben praktisch »nicht zu polizieren« ist. Laut dem Vorsitzenden des Polizistenverbands für England und Wales, John Apter, sind in den vergangenen Wochen rund 250 Beamte verletzt worden, das sei eine »einfach unvorstellbare Zahl«. Die Verantwortlichen gehörten ins Gefängnis, denn Unruhen wie in Brixton seien schlicht unannehmbar.
Dass es aber wirklich nur am gelockerten Lockdown liegt, ist zu bezweifeln. Das zentrale Problem dürften eher eine seit 70 Jahren unbewältigte Migration und eine Öffentlichkeit sein, der antisoziales Verhalten zum Teil offen billigt.
— The Monitoring Group (@MonitoringGroup) June 26, 2020