„Sie wollen die Republik zerstören.“ So brachte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Sicht auf die Gewaltorgie auf der Pariser Prachtstraße Champs-Élysées am Samstag auf den Punkt. Das seien keine Demonstrationen, diese Leute nähmen das Risiko zu Töten in Kauf. Alle, die dabei gewesen seien, hätten sich zu Komplizen gemacht. Seit November habe die Regierung viel geändert, doch der heutige Tag habe gezeigt, dass man immer noch nicht angekommen sei. Er kündigte „harte Entscheidungen“ an. Macron hatte wegen der Vorfälle in Paris eigens seinen Ski-Urlaub in den Pyrenäen abgebrochen und war gegen 22.30 Uhr zu einem Krisentreffen mit Premierminister Philippe Édouard, Innenminister Christophe Castaner und Justizministerin Nicole Belleoubet in Paris geeilt. Die oppositionellen Republikaner warfen Macron indes vor, seiner Aufgabe nicht gerecht zu werden.
Gilles Platret, Sprecher der „Républicains“, sagte, die Regierung liefere ein Bild des „Verfalls“. Man dürfe sich keinen Präsidenten leisten, der angesichts der nationalen Lage zum Wintersport fahre, und auch keinen Innenminister, der in Diskotheken auf Frauenfang gehe: „Macron und seine Minister sind nicht in der Lage, die republikanische Ordnung wiederherzustellen“, so Platret. Castaner war in der Nacht vom 9. März, der Nacht vor dem 17. Akt der Gelbwesten-Proteste, in einer Pariser Szene-Diskothek fotografiert worden. Er reihte dort Wodka-Shooter aneinander und hielt eine junge Blondine im Arm. Für einen Verantwortlichen der französischen Sicherheitskräfte, der anonym bleiben möchte, geht das gar nicht: Das sei ein professioneller Fehler, wenn man Erster Polizist Frankreichs sei. Man erwarte von den Polizisten und Gendarmen eine ungekannte Mobilmachung angesichts der Gelbwesten-Proteste, jetzt mache man sich zum Gespött der Franzosen. Ein anderer anonymer Polizeigewerkschafter bemerkte, es handle sich um eine echte Dummheit, es sei schwierig, sich danach noch glaubhaft Gehör zu verschaffen.
Paris, die Bilanz
Paris, die Bilanz: 5.000 Polizisten und Gendarmen waren am Samstag im Einsatz, ihnen standen nach Angaben des Innenministeriums 10.000 Gelbwesten gegenüber. Unter ihnen rund 1.500 gewaltbereite Randalierer des sogenannten „Schwarzen Blocks“, schätzt Innenminister Castaner. Sie seien aus ganz Europa angereist, und tatsächlich fanden sich unter den im Laufe des Tages 237 Festgenommenen auch Deutsche und Belgier. Gut 80 Geschäfte wurden auf den Champs-Élysées vandaliert oder geplündert. Darunter eine brennende Bank, über der sich Wohnungen befinden.
Die Feuerwehr griff ein, elf Menschen trugen Verletzungen davon. Castaner spricht von „Mördern“, die dafür verantwortlich seien. Boss, Longchamp, Zara, Foot Locker, Nespresso, Swarovski und auch die Boutique des Vorzeige-Fußballclubs „Paris Saint-Germain“ sowie mehrere Zeitungskioske wurden von den Randalierern nicht verschont und unter Rufen „Élysée, Élysée!“, ein Aufruf zum Marsch auf den Präsidentenpalast, geplündert. Die Liste ist lang. Vollkommen zerstört wurde auch das Edel-Restaurant „Fouquet’s“, wo viele Pariser Prominente verkehren. Am Morgen wurde es zunächst verwüstet und geplündert, am Nachmittag setzten Randalierer die Terrasse in Brand. 2007 hatte der konservative Nicolas Sarkozy dort seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl gefeiert, er ging als „Bling Bling-Präsident“ in die Geschichte ein. Ein „Perrier“ kostet 5,50 Euro im „Fouquet’s“. Es ist klar, gegen wen sich die Gewalt der Randalierer des „Schwarzen Blocks“ richtet: Sie sehen rot bei allem, was nach ihrer Auffassung für den ihnen verhassten Kapitalismus steht.
Insgesamt zählte das Innenministerium 32.300 Gelbwesten bei den Protesten in Frankreich, die jetzt in den vierten Monat gehen. Etwas mehr als am vergangenen Wochenende. Die Bürgermeisterin von Paris, die Sozialistin Anne Hidalgo, machte sich vor Ort ein Bild von den Schäden. Sie forderte, der Alptraum müsse endlich ein Ende haben, und sie besteht auf Erklärungen seitens der Regierung. Hidalgo kündigte ein baldiges Treffen mit Premierminister Philippe an. Die konservative Bürgermeisterin des 8. Arrondissements von Paris, Jeanne D’Hauteserre, machte ihrem Frust in einem Interview Luft: Die Ladenbesitzer und Geschäftsleute auf den Champs-Élysees, teils seit 40 Jahren dort ansässig, seien schockiert und wütend. Sie verstünden nicht, warum man die Randalierer tun lasse, was sie getan hätten. Das sei eine echte Stadt-Guerilla. Sie habe den Anwohnern erklären müssen, dass sie als Bürgermeisterin des Arrondissements keinerlei Befugnisse im Hinblick auf die öffentliche Ordnung habe. Das liege im Verantwortungsbereich des Präfekten und vor allem des Innenministeriums.
Die „Große Debatte“ und das Anti-Randalierer-Gesetz
Für die Wut bei den Gelbwesten an diesem Wochenende sorgten vor allem zwei Dinge: Das Ende der sogenannten „Großen Debatte“ und die Zustimmung der Nationalversammlung zum „Loi Anti-Casseur“, dem umstrittenen neuen Gesetz gegen Randalierer in der vergangenen Woche. Darin wird den Präfekten in den Regionen, die die Zentralregierung in Paris vertreten, das Recht zugesprochen, über das Demonstrationsrecht für Einzelpersonen zu bestimmen. Bislang war das unabhängigen Richtern vorbehalten. Es richtet sich gegen Personen, „die eine besondere Gefahr für die öffentliche Ordnung“ darstellen. Bei Zuwiderhandlung drohen sechs Monate Haft und eine Geldstrafe von 7.500 Euro. Außerdem sieht das Gesetz ein Vermummungsverbot vor. Wer sich nicht daran hält, muss mit einem Jahr Haft und 15.000 Euro Geldstrafe rechnen. Für die Gelbwesten ist das ein schlechter Witz. Sie fragen sich, wie sie sich denn ohne Mund- und Gesichtsmaske vor dem Tränengashagel der Ordnungskräfte schützen sollen. Das Gesetz sei ein Eingriff in die Demonstrationsfreiheit, jetzt wird es vom Verfassungsrat überprüft. Am 15. März ging außerdem die „Große Debatte“ der von der Regierung in Auftrag gegebenen Bürgergespräche zu Ende. Für die Gelbwesten war das eine Art Ultimatum. Ohnehin halten sie die Debatte für „heiße Luft“, Erwartungen daran haben sie nicht.
„Europawahlkampf auf Kosten der Steuerzahler“ ist die Debatte für sie, und tatsächlich hat es bis jetzt auch noch keine konkreten Ergebnisse gegeben. 10.300 lokale Versammlungen gab es in den vergangenen zwei Monaten, gut 1,4 Millionen Bürger beteiligten sich an den Diskussionen in Internetforen. Bis Mitte April will die Regierung entscheiden, welche Vorschläge aufgegriffen werden sollen. Das könnte eine Bruchlandung werden, selbst Premierminister Philippe warnte von „Enttäuschungen“. Jetzt soll die „Große Debatte“ noch einen Monat lang in anderer Form fortgesetzt werden; mit weiteren Bürgerkonferenzen und von Anfang April an auch mit einer Debatte in der Nationalversammlung. In Umfragen zeigte sich, dass sieben von zehn Franzosen nicht damit rechnen, dass die Debatte zu einer Lösung für die Krise im Land beitragen wird.
Friedliche Proteste in Lyon
Auch in Lyon haben die Gelbwesten an diesem Samstag wieder demonstriert. Es war vor allem – friedlich. Kaum Tränengas, keine Schläge mit dem Gummiknüppel, keine Hartgummigeschosse, die sogenannten „Flashballs“. Das hat mehrere Gründe. Ein guter Teil der Lyoner Gelbwesten hat sich auf den Weg zu den zentralen Protesten in Paris auf den Weg gemacht, vielleicht 400 bis 500 waren es bei Akt 18 in Lyon. Und die haben sich dem Marsch für das Klima angeschlossen. Mindestens 20.000 Menschen zogen durch die Straßen der gallischen Hauptstadt, um gegen die derzeitige Umweltpolitik zu protestieren. Frankreich-weit waren es nach Angaben des Innenministeriums 145.000, die Organisatoren sprechen von 350.000 Teilnehmern. Die Gelbwesten nahm man in Lyon nur wahr, weil sie dem Marsch einige, wenige gelbe Sprenkel verliehen. Die Stimmung: festlich und gelassen, zu Ausschreitungen kam es nicht. Es waren viele Kinder unter den Teilnehmern. Im Gespräch witzelt dann auch manche Gelbweste: „Ich habe meine Dosis nicht, das Tränengas fehlt mir richtig.“ Das dürfte in Lyon am kommenden Samstag bei Akt 19 der Proteste nachgeholt werden.
Bilder: © Kai Horstmeier