“Gegen Polizeigewalt“ – unter diesem Motto stand der zwölfte Akt der “Gilets Jaunes“, der “Gelbwesten“ an diesem Samstag. Nach Angaben des Innenministeriums gingen 58.600 Menschen auf die Straße, um der schwerverletzten Opfer von Schockgranaten und den sogenannten “Flashballs“ zu gedenken, mehr als 73.300 waren es nach Angaben der Veranstalter. Selbst das Innenministerium spricht inzwischen von vier Gelbwesten, die ein Auge verloren haben, weil sie mit den sogenannten LBD beschossen wurden. Der Investigationsjournalist David Dufresne dokumentiert die Zahl der Verletzten seit Beginn der Bewegung im November vergangenen Jahres; er spricht von mindestens 17 Demonstranten, die seither ein solches Schicksal erlitten haben.
Erst am vergangenen Wochenende wurde einer der Anführer der Gelbwesten, Jérôme Rodrigues, auf der „Place de la Bastille“ in Paris schwer am Auge verletzt. Nach Angaben der Behörden explodierte eine Schockgranate vor seinen Füßen, Rodrigues berichtet von einem Flashball, der danach gezielt auf ihn abgefeuert wurde. Er erstattete wegen vorsätzlicher Gewaltanwendung Anzeige gegen Unbekannt. Im Internet veröffentlichte Videos geben seiner Version Recht, selbst ein Polizist bestätigte inzwischen, dass kurz vor der schweren Verletzung Rodrigues‘ ein Flashball abgefeuert wurde. Die “Polizei der Polizei“, die IGPN, zuständig für interne Ermittlungen bei den Sicherheitskräften, nahm Ermittlungen auf. Ob Rodrigues sein Auge behalten wird, ist unklar.
Auch auf der “Place Bellecour“ in Lyon haben sich wieder gut 1.000 Gelbwesten eingefunden, um gegen unangemessene Polizeigewalt zu demonstrieren. Man kennt sich inzwischen, es ist immerhin das zwölfte Mal, dass man hier zusammenkommt. Überall bilden sich Grüppchen, man diskutiert die Politik der Regierung. Die Rentenpolitik, die Schließung von Krankenhäusern im ländlichen Frankreich, den Verlust von Kaufkraft – und selbstverständlich auch die strikte Ablehnung von Innenminister Christophe Castaner, den sogenannten “LBD“, den “Lanceur de Balle de Défence“, zu verbieten. Nach Castaners Auffassung brauchen die Ordnungskräfte diese Geschosse, um sich verteidigen zu können, ohne sie hätte es noch “weitaus mehr Verletzte“ gegeben, wie er meint. Außer in Frankreich setzen europaweit nur die spanischen, die polnischen und die griechischen Sicherheitskräfte diese Waffe ein. Auch französische Menschenrechtsgruppen fordern seit langem ein Verbot. Eine ältere Dame fragt den Beobachter auf der “Place Bellecour“, ob er ihr dabei helfen könne, eine symbolische Augenbinde anzubringen. Natürlich in Gelb, wie ein moderner Pirat schaut sie damit aus.
Die Linke kritisiert das als ein Gesetz, das sich explizit gegen die Gelbwesten wendet, es richte sich gegen die grundlegenden Freiheiten eines gesamten Volkes. Selbst in Macrons Mehrheitspartei “La République en Marche (LREM)“ ist der Vorschlag umstritten. Mehrere Abgeordnete kündigten an, der Abstimmung darüber am 5. Februar fernbleiben oder ablehnen zu wollen. Der LREM-Abgeordnete des Départements Val d’Oise, Aurélien Taché, argumentiert, die DNA seiner Partei sei der Liberalismus und die Verteidigung der Freiheit des Individuums.
In Lyon setzt sich der Marsch der Gelbwesten wie an jedem Samstag gegen 14 Uhr in Bewegung. Es ist schon fast ein Ritual. Von der “Place Bellecour“ geht es zum Rathausvorplatz, der “Place des Terreaux“, und wieder zurück zur “Place Bellecour“. Aber hier ist noch lange nicht Schluss. Wer mit den Gelbwesten marschiert, braucht gutes Schuhwerk – mindestens sieben Kilometer muss man schon einkalkulieren. Es geht weiter in Richtung Autobahn, auch an diesem Samstag wollen die Gelbwesten wieder die “Route du Soleil“, die Urlaubsstrecke in Richtung Süden blockieren. Kurz vor dem Museum der Confluence, wo die Saône sich mit der Rhône vereinigt, ist Schluss: Gendarmerie und Polizeikräfte blockieren die Autobahn. Unter die Demonstranten haben sich offensichtlich zahlreiche Randalierer gemischt, erste Steine fliegen, die Sicherheitskräfte antworten mit Tränengas. Nach knapp einer Stunde geht es zurück zur “Place Bellecour“. Auch das ist fast schon ein Ritual: Gegen 17 Uhr regnet es Tränengas, die Demonstration wird aufgelöst, in der Fußgängerzone “Victor Hugo“ lassen die Geschäfte vorsichtshalber die Gitter herunter. Die Polizei berichtet von sechs Festnahmen.
Den Angaben zufolge geht es um einen “Multiple Choice“-Fragebogen, in dem die Franzosen Stellung zu Fragen wie einer möglichen Reduzierung der Abgeordnetenzahl, zur Ämterhäufung, einer eventuellen Wahlpflicht oder zur partizipativen Demokratie beziehen sollen. Eine Abstimmung über die Wiedereinführung der sogenannten “Reichensteuer“, der “Impôt de Solidarité sur la Fortune (ISF)“, schließt Macron weiterhin aus. Die Wiedereinführung der ISF ist eine der zentralen Forderungen der Gelbwesten, wie auch die Verankerung des “RIC“, des “Référendum d’Initiative Citoyenne“, eines Volksbegehrens nach Schweizer Vorbild in der französischen Verfassung. Spitzfindig, wer da meint, aus dem “RIC“ sei nun ein “RIP“ geworden, ein “Référendum d’Initiative Présidentiel“, eine Volksabstimmung auf Initiative des Präsidenten.