„Ich bekomme keine Luft“ – waren Jamal Khashoggis letzten Worte. Vor gut einem Jahr wurde der Journalist und Regime-Kritiker von einem saudischen Spezialkommando brutal hingerichtet. Der anhaltende Verdacht: Ein Auftrag aus dem Königshaus, gar von Kronprinz Mohammed bin Salman persönlich. Wenige EU-Länder, einige internationale Unternehmen und Kultureinrichtungen fanden angeblich ihre Moral wieder. Plötzlich verhängte man Sanktionen oder verzichtete auf gewisse Zusammenarbeiten und Gelder, wo es oft um Millionen ging. Obwohl in Saudi-Arabien vor Khashoggi dieselbe Diktatur wie nach Khashoggi herrschte, obwohl Saudi-Arabien bereits vor Khashoggi drei Jahre einen brutalen Krieg im Jemen führte. Bei dem autoritären Staat wird ein „obwohl“ unzählig: Zensur, Unterdrückung der Meinung, Demonstrationsverbot, Vormundschaftssystem, Haft ohne Anklage und Gerichtsverfahren, Folter, Todesstrafe, Enthauptung und mehr. Gleich wie viele Journalisten oder Frauenrechtkämpfer im Gefängnis saßen, wie viele Menschen hingerichtet wurden, es störte bisher nur geringfügig internationale Geschäfte und Beziehungen.
Öffentlichkeitsarbeit statt Sanktionen
Doch Khashoggi ist ein besonderer Fall, weil er ein besonderer Skandal ist. Er war kein unbekannter Journalist: Nachdem er 2017 ins amerikanische Exil ging, kritisierte er die Politik von Mohammed bin Salman. Seine Hinrichtung geschah nicht mitten auf einer Straße von einem Unbekannten, sondern in einer Botschaft von einem Spezialkommando. Auch wurde er nicht still und heimlich vergiftet, sondern erstickt, zerstückelt, in Säure aufgelöst. Ob das „Opfertier“ eingetroffen sei, fragte zuvor einer der Killer – ein Mord wie in einem Kriminalroman, nur dass es wirklich geschah. Solch ein Skandal löst einen gesonderten öffentlichen Druck aus. Die Reaktion von Deutschland war, Saudi-Arabien mit Sanktionen zu belegen. Die gesamten Rüstungslieferungen wurden gestoppt und zusammen mit Frankreich und Großbritannien verhängte man gegen 18 saudische Staatsangehörige, die in Verbindung mit dem Mord standen, eine Einreisesperre „in den gesamten Schengen-Raum“. In Paris und London war man nicht Willens, wegen Khashoggi die Geschäfte mit den Saudis auszusetzen. Einreisesperren gegen Einzelpersonen sollten für die Öffentlichkeit genügen. Während in Khashoggis Exilstaat zunehmend Druck auf US-Präsident Donald Trump ausgeübt wurde, Sanktionen auszusprechen, entschied auch Trump sich dafür, eine Scheinmoral einzusetzen. Statt eines Stopps bestimmter Waffenverkäufe an Saudi-Arabien, wie es der US-Senat – sowohl seitens Demokraten als auch Republikaner – drängend forderte, blieb es bei Sanktionen für 16 Vertreter des Königreiches, die als Verdächtige gelten: Ihre Vermögenswerte wurden in den USA eingefroren, sie dürfen keine Geschäfte mehr mit US-Staatsbürgern machen und ihnen sowie ihren Familienmitgliedern wurde die Einreise untersagt.
Von Sanktionen, um ein Verhalten – hier eine brutale Hinrichtung eines Journalisten im Auftrag des Königshauses – zu bestrafen, kann in Fall Khashoggi keine Rede sein. Das saudische Königshaus mit dem faktischen Herrscher bin Salman bleibt unberührt; es existieren keine echten Konsequenzen, außer die selbstverschuldete, indem das internationale als auch nationale Image des Kronprinzen MbS seit Khashoggi leidet. Statt den Staat zu bestrafen, trifft es hauptsächlich Einzelpersonen. Und das, obwohl es sich nach der UN-Sonderberichterstatterin Agnés Callamard um einen „Staatsmord“ handelt, bei dem MbS entweder dazu angestiftet habe oder versäumt habe, Khashoggi zu schützen, so in einem Interview mit der ZEIT. Nur wenige Monate dauerte es, bis Deutschland im Frühjahr 2019 den Rüstungsexport wiederaufnahm. Die angeblich wiedergefundene Moral hielt lediglich kurzzeitig an. Aus Sanktionen wurden Scheinsanktionen gemacht, die bloß als Öffentlichkeitsarbeit fungieren: Es geht allein um das eigene Staatsimage. Dass die Scheinmoral der Alliierten längst verflogen ist, zeigt sich derzeit auch an der saudischen G20-Präsidentschaft.
Hemmschwelle des Westens
Die G20-Präsidentschaft Saudi-Arabien zu entziehen, wäre eine echte Sanktion gewesen. Russland schloss man 2014 infolge der Annexion der Krim aus dem G8-Ausschuss aus. Doch längst lässt sich beobachten, wie groß die Hemmschwelle des Westens geworden ist: Sei es die Türkei, von der sich Europa wegen des Flüchtlingsdeals erpressen lässt und zu sieht, wie viel Tote die Syrien-Offensive – gleich ob “Waffenruhe“ – mit sich bringt. Oder Hongkong, bei jener der Westen leise zuschaut, wie die Menschen in eine kommunistische Diktatur überführt werden, da man einen der größten Handelspartner der Welt nicht verärgern möchte. Auch mit Saudi-Arabien möchte man sich unter keinen Umständen überwerfen, nicht nur wegen der wirtschaftlichen Geschäfte oder dessen Status als weltgrößter Öl-Exporteuer, sondern auch weil der autoritäre Staat als Gegengewicht zu Iran gebraucht wird. Merkel verteidigte damals lautstark den Ausschluss von Russland mit dem Argument, dass die Annexion der Krim eine „Verletzung des Völkerrechtes“ gewesen sei. Dabei verstößt die von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition im Jemen-Konflikt ebenso gegen das Völkerrecht und internationale Menschenrechte – so hieß es bereits im Jahr 2016 in einer dem UN-Sicherheitsrat vorgelegten Untersuchung einer Expertengruppe.
G20-Präsidentschaft: Image-Bühne für Saudi-Arabien
Anstatt mit einem Aussetzten der G20-Präsidentschaft ein Zeichen zu setzten, wird mit jener Saudi-Arabien eine Bühne überlassen. In erster Linie: eine internationale Bühne, um das Image des autoritären Staates und des Kronprinzen MbS angesichts des Khashoggi-Falls und Jemen-Krieges wieder zu restaurieren. Mit Bedacht sind die Themen ausgewählt worden: Frauen, Klimaschutz und technischer Fortschritt. Die saudische G20-Präsidentschaft solle Bedingungen schaffen, „in denen alle Menschen – vor allem Frauen und junge Leute – leben, arbeiten und Erfolg haben können“, erklärte das Königreich. Auch wolle Riad Klimaschutzmaßnahmen vorantreiben und sich für Innovationen und technischen Fortschritt einsetzen. Abgesehen davon, dass Riad das Nummer eins Thema namens Klima bewusst aufnimmt, ist das Thema Frauen deutlich auffälliger. Im weltweiten Vergleich sind die Frauenrechte in wenigen Ländern so stark eingeschränkt wie in Saudi-Arabien.
Bin Salman rief 2016 seinen Reformplan „Vision 2030“ aus, der scheinbar einen modernen Kurs für sein Land verfolgt. Die „Vision 2030“ und die G20-Präsidentschaft verfolgen jedoch prinzipiell denselben Zweck: Es soll der Schein einer Liberalisierung der absoluten Monarchie mit Wahhabitische Staatsreligion gewahrt werden – Und dies nicht nur international für das Ansehen, die Geschäftswelt oder den Tourismus, sondern auch national für die eigene Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Saudi-Arabien befindet sich innenpolitisch seit mehreren Jahren auf einem Pulverfass. Knapp 70% der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt und es herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, welche laut Weltbank aktuell bei 25,5 % liegt. Seit dem Arabischen Frühling 2011 wächst in der Bevölkerung zunehmend die Kritik an der Symbiose von Königshaus und Wahhabismus. Immer mehr Frauen kämpfen für ihre Rechte und werden dafür eingesperrt, gefoltert, gar enthauptet. Während gleichzeitig ein Widerstand wächst, versucht das Regime diesen radikal zu unterdrücken. Neben der radikalen ist eine andere Maßname, dass das Königshaus der Bevölkerung die Forderungen aus der Hand nimmt und in Scheinreformen umsetzt. So geschah es auch bei der Aufhebung des Fahrverbots: Ab 2011 kämpften Frauen dafür mittels Kampagnen, wo sie demonstrativ Autofahrten in Innenstädten organisierten, sich dabei filmten und es im Internet hoch luden. Diese Frauen wurden immer wieder verhaftet und sitzen bis heute größtenteils stets im Gefängnis. Reformbewegung darf einzig und allein vom Königshaus ausgehen. Statt Gleichstellung oder Liberalisierung, fungierte die Aufhebung des Fahrverbots bloß symbolisch mit dem Ziel einer Ruhigstellung.
Interessant ist, dass MbS seine Reformvorhaben der „Vision 2030“ nach und nach zu gewissen Zeitpunkten ausspielt. Nach dem Mord an Khashoggi spielte MbS gleich mehrere Karten aus: Frauen ab 21 Jahren dürfen ohne Männer-Erlaubnis reisen und Frauen dürfen nun eine Hochzeit, Scheidung und eine Geburt eines Kindes eintragen. Wieder sind es Reformen, die Frauen betreffen und den Wüstenstaat in einem Licht der Modernisierung schimmern lassen. Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit kommt das Thema Frauen dem Königshaus innenpolitisch und wirtschaftlich zugute. Die „Vision 2030“ ist kein reines politisches Projekt, sondern stellt eine Umgestaltung der Wirtschaft zu mehr Unabhängigkeit vom Erdöl dar. Laut „Forbes“ tragen die Gewinne des Ölgeschäfts 42% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Nach der Berechnung des Internationalen Währungsfonds (IWF) bräuchte das Land für einen ausgeglichenen Staatshaushalt einen Ölpreis von ca. 85 US-Dollar. Doch seit Monaten liegt dieser bei ca. 60 US-Dollar. Der Wüstenstaat steht folglich unter hohem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Druck; er muss reagieren. Einen Verzicht auf die Arbeitskraft der Frauen kann man sich längst nicht mehr leisten. Dass Frauen Autofahren dürfen, fördert bloß die Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt, nicht die Gleichstellung.
Politischer und wirtschaftlicher Selbstzweck
Dass nun Bedingungen geschaffen werden sollen, „in denen alle Menschen – vor allem Frauen und junge Leute – leben, arbeiten und Erfolg haben können“ bedeutet nichts anderes als Innenpolitik und Werbung für die Scheinliberalisierung. Die G20-Staaten lassen damit eine öffentliche Symbolpolitik zu, die der Diktatur dazu dient, ihre eigene Bevölkerung ruhig zustellen. Die G20-Präsidentschaft wird dadurch zu einem politischen Selbstzweck instrumentalisiert. Auch International muss die saudische Bühne für wirtschaftliche Zwecke herhalten. Denn auch das Thema Klima scheint nicht ohne Hintergedanken zu existieren. Für 2020 rechnet der Staat mit einem Haushaltsdefizit von etwa 45 Milliarden Euro. Durch die Einnahmen aus dem Börsengang des staatlichen Ölkonzerns Saudi Aramco kann der Staatskasse mehr als 100 Milliarden Dollar zuwinken. Nur lief es nicht wie primär geplant: MbS, der zuvor mit 5% der Aramco-Aktien an die Börse gehen wollte, tat dies mit nur 1,5%. Plötzlich sprach er nicht mehr von einem internationalen Börsengang. Saudi Aramco wurde nicht in New York oder London notiert, nur an der heimischen Börse in Riad. Der Grund: Einige ausländische Investoren haben angeblich Bedenken wegen der Klimawandel-Debatte, MbS’s Rufs und eines „politischen Risikos“, wobei der Khashoggi-Fall nur die Rolle eines Komparsen spielt. Der Konzern Aramco ist aufgrund seiner fossilen Energieträger für mehr als 4% aller weltweiten CO2-Emissionen seit 1965 verantwortlich, laut einer Analyse vom Climate Accountability Institute. Als Aktionär für das Klima zu sündigen wiegt scheinbar schwerer als für ein Killer-Königshaus. Saudi-Arabien, das zuvor auf Klimakonferenzen die Rolle als Bremser einnahm, muss folglich international sein Klima-Image verbessern. Der Börsengewinn wird für den wirtschaftlichen Wandel dringend benötigt. Für den nötigen Erfolg wurden Berichten zufolge reiche saudische Familien unter Druck gesetzt, die Aktien zu kaufen und befreundete Staaten wurden gebeten, sich unbedingt zu beteiligen. Sogar die saudische Regierung selbst kaufte Aktien im Wert von 2 Milliarden Dollar. Mit einem Gesamtvolumen des Börsengangs von knapp 24 Milliarden Euro, zählte dieser noch zum „größten Börsengang der Geschichte“ und überholte damit die chinesische Handelsplattform Alibaba. Bereits innerhalb der ersten Stunden nahm die Aktie an der Riader Börse um 10% zu und lag damit kurzfristig auf einem Börsenwert von 2 Billionen Dollar und stellte so auch Apple, das bislang teuerstes börsennotiertes Unternehmen, in den Schatten.
Nach Khashoggi ist vor Khashoggi
Während die einen Investoren vorerst noch zögern, freuen sich die anderen auf den größten Ölkonzern zu setzen. Mit einem Börsenwert von 1,88 Billionen Dollar ist Saudi Aramco aktuell der wertvollste Konzern der Welt, der Einzug in die Schwellenländer-Indizes von TASI, MSCI Inc., FTSE Russel und S&P Dow Jones erhielt. Den Kauf von Index-Tracking-Fonds könnte den Marktwert um 2 Billionen Dollar festigen. Der saudische Börsengang und alle Investoren profitieren von einem Vergessen des Khashoggi-Skandals. Aktionäre investieren damit in die Zukunft des mit blutbefleckten Königshauses: jede Investition ist ein wirtschaftlicher Gewinn und sichert innenpolitische Stabilität der absoluten Monarchie. Doch auch für die G20 Staaten stellt die Bühne der saudischen Image-Kampagne in gewissermaßen ein Vorteil dar: Wird das saudische Image international aufpoliert, so wird der öffentliche Druck bezüglich Sanktionen gegen Saudi-Arabien kleiner und die Geschäfte können weiter laufen. Ergo profitieren letztlich alle. Es gilt: Nach Khashoggi ist vor Khashoggi. Das lässt sich auch an der Konsequenz der fehlenden Sanktionen feststellen: Saudi-Arabien fährt fort mit gezielten Verhaftungen von Journalisten. Nach einer neuen Verhaftungswelle im November sind aktuell 37 Personen wegen ihrer journalistischen Tätigkeit inhaftiert. Inmitten der Scheinliberalisierung werden Liberale verhaftet. Auch die Hinrichtungen haben einen neuen Rekord seit Jahrzehnten, im Jahr 2019 sind es bisher ca. über 107 Fälle. Die saudischen Behörden greifen in den Gefängnissen brutaler durch: Folter, sexuelle Belästigung und andere Arten von Missbräuchen werden verstärkt eingesetzt, laut der Menschenrechtsorganisation ALQST. Bin Salman festigt damit Verhaftung für Verhaftung, Hinrichtung für Hinrichtung, Scheinreform für Scheinreform, seine Macht. Durch die hohe Hemmschwelle der G20 Staaten machen sie sich selbst zu einem Teil seines Machtspiels. Dadurch dass Saudi-Arabien keine Konsequenzen auferlegt werden, vermittelt dies das falsche außenpolitische Zeichen und fördert dadurch noch gezielte Verhaftungen und Tötungen von Journalisten und Aktivisten. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ein zweiter Khashoggi-Fall eintritt, wann wieder solch ein Staatsmord durch eine Image-Kampagne überspielt wird.