Am 30. April fielen erneut Schüsse am Evros, dieses Mal von türkischen Booten aus, die auf dem Grenzfluss patrouillierten. Ob es sich um Soldaten oder Gendarmen handelte, ist unklar. Im übrigen ist auch die türkische Gendarmerie, die in ländlichen Regionen häufig polizeiliche Aufgaben wahrnimmt, ein paramilitärischer Verband. Die türkischen Militärs oder Paramilitärs feuerten also bei zwei nächtlichen Vorfällen (gegen 22.20 Uhr und kurz nach Mitternacht) insgesamt 50 Schüsse ab, vermutlich in die Luft, doch auch das lässt sich nicht sicher sagen. All das geschah wiederum, wie schon der erste Zwischenfall vom Dienstag, in der Nähe des Dorfes Tychero. Auch in den folgenden Tagen gab es türkische Patrouillen und Warnschüsse am Evros.
Griechische Offiziere führen das Verhalten der Türken auf den Willen zurück, die Spannungen in der Region aufrechtzuerhalten oder neu zu befeuern. Wesentlich an den Vorfällen scheint aber, dass die Türken den Grenzfluss damit nicht nur symbolisch »in Besitz« nehmen. Sie könnten es ganz gezielt darauf anlegen, gewisse Flussübergänge langfristig zu kontrollieren, sind sie doch bereits auf im Fluss gelegenen Inseln gelandet, um dort die türkische Flagge zu hissen. So werden auch die ›Fährdienste‹ vorbereitet, die sie ohne Zweifel anbieten wollen, wenn sich wieder willige Grenzübertreter am Evros eingefunden haben.
Ein Frontex-Bericht vom 5. Mai stellt nun laut Welt fest, dass eine neue Einwanderungswelle am Evros droht, sobald die Türkei ihre Vorsichtsmaßnahmen gegen das Coronavirus in entscheidenden Regionen des Landes aufhebt, so wie es schon in den meisten ländlichen Provinzen geschehen ist. Der Bericht des Frontex Situation Centre im Wortlaut:
»Die Einschränkungen wegen Covid-19 wurden in den meisten ägäischen Provinzen schrittweise aufgehoben, aber noch nicht in den Provinzen Canakkale, Istanbul und Izmir. Wenn die Bewegungsfreiheit in diesen Gebieten wiederhergestellt ist, können massive Bewegungen von Migranten in Richtung der griechisch-türkischen Grenze erwartet werden.«
Innertürkische Migrationsströme in Richtung EU könnten sich intensivieren
Noch gelten also die allgemeinen Bewegungsbeschränkungen in den Provinzen um Istanbul und Izmir sowie in der Dardanellen-Provinz Canakkale. Doch sobald die Ausgangssperren auch dort fallen, ist ein erneuter Ansturm auf die Evros-Grenze zumindest denkbar. Auch die innertürkischen Migrationsströme in Richtung EU könnten sich dann intensivieren, zumal auch sie von der Regierung in Wort und Tat ermutigt wurden.
Vorbeugend hat Griechenland die Evros-Grenze bereits mit 262 zusätzlichen Polizisten verstärkt. Schon seit Jahresbeginn hatte Athen – in Erwartung einer Eskalation an der Grenze – damit begonnen, 400 neue Polizeianwärter auszubilden. Ihre Entsendung, so die griechische Regierung, sei nur wegen der Pandemie aufgeschoben worden und könne bald folgen. Griechenland, das im Vergleich mit vielen europäischen Ländern kaum Infektionen und noch weniger Todesfälle zu verzeichnen hat, lockert seine eigenen Ausgangsbeschränkungen seit dem 4. Mai schrittweise gemäß einem abgestuften Plan, den Premier Kyriakos Mitsotakis in mehreren Fernsehansprachen vorstellte.
In den vergangenen Wochen gab es Berichte von Migrantenbooten, die von den Griechen zurückgewiesen wurden. In der Ferne konnten die griechischen Grenzschützer noch beobachten, wie die Migranten von türkischen Beamten in Schutzkleidung wieder in Empfang genommen wurden. Die griechischen Behörden leiteten daraus ab, dass die Gesundheit der Grenzübertreter keinesfalls garantiert war, dass die Türken dem griechischen Gesundheitssystem mittels der Migrantenboote – im schlimmsten anzunehmenden Fall – vielmehr eine Belastung zuführten. Auszuschließen ist das auch heute und am Evros nicht. Griechenland, das sich bei der Eindämmung der Virus-Pandemie so sehr hervorgetan und bisher keine übermäßige Sterblichkeit zu verzeichnen hat, wird seinen Status nicht so einfach gefährden.