Vor einigen Wochen war ich zu Gast bei einem Stammtisch. Eine Frau, von ihren türkischen Eltern geprägt und der deutschen Urkultur daher fremd, fragte in die Runde, was jedem Weihnachten so bedeute. Alle einigten sich ziemlich schnell auf: Das sind halt zwei zusammenhängende Sonntage, mehr nicht. Es hat mich ziemlich bestürzt, wie bei gebildeten Schichten uralte Traditionen in kurzer Zeit einfach ins Nichts zerstauben.
Weihnachten, das Fest der zwei Sonntage? Selbst vielen „Altdeutschen“ bedeutet dies Fest heute nicht viel mehr. Die christliche Religion ist auf dem Rückzug und sagt vielen kaum mehr etwas. Aber Weihnachten hat heute nicht nur mit dem Christentum zu tun. Es ist zu einem allgemeingültigen Element deutscher Kultur geworden. So wie mir der große Philosoph Hans-Georg Gadamer einst bedeutete, dass das Christentum ihm nicht viel sagte, meinte er doch, dass ihn die Rituale der Kirche sehr berührten. Weihnachten ist Teil unserer kulturellen Heimat.
Einst hatte das Christentum germanische Feste christianisiert, heute kann das ursprünglich nur christliche Weihnachten der ganzen Kultur eine übergreifende Bedeutung geben. Gott sei Dank kann „Gott“ für jeden einfach nur ein Symbol, eine Chiffre für Heimat sein, an die er speziell glaubt.
So wie der Osterhase und das Ei, das ich heute an Ostern noch gerne suche, germanische Fruchtbarkeitssymbole sind, die das Christentum übernommen hat, kann die deutsche Weihnachtsfeier heute alle einen. Jeder feiert auf seine Weise, der Eine besinnlich, der Andere lässt es krachen. Aber die Gemeinsamkeit sollte sein, dass es mehr ist als zwei Sonntage bedeutet, das Einigende sollte sein, dass die weihnachtliche Symbolik alle berührt und dass sich alle von ihr berühren lassen. Und dazu gehören die ursprünglich christlichen Elemente.
Rituale und Symbole erzeugen Gefühle, erden, erzeugen Daheimsein. Deshalb sage ich „Grüß Gott“, ohne Christ zu sein. Deshalb singe ich Weihnachtslieder und lasse mich von ihnen ergreifen und stelle selbstverständlich einen Tannenbaum ins Wohnzimmer. Ich lese die Weihnachtsgeschichte und lasse all die Rituale aus der Kindheit fortleben. Warum sollte ich sie mir auch nehmen? Amputation ist nicht notwendig, tut weh und erzeugt womöglich noch einen Phantomschmerz. Das muss wahrlich nicht sein. Deshalb gibt es auch Geschenke und ich bedauere Leute, für die Weihnachten nur zwei aneinandergereihte Sonntage sind. Deshalb besuche ich die Weihnachtsmesse und lasse mich von Bach ergreifen, ohne dabei an die heilige Dreifaltigkeit zu denken. Und ich möchte wetten, dass ich da nicht der Einzige bin.
Viele der alten Traditionen, auf denen unsere Kultur fußt, sind am Aussterben. Mir kam vor kurzem die Idee einen Liederabend mit deutschen Volksliedern zu veranstalten. Sozusagen Volkslied-Entwicklungshilfe im ehemaligen Land der Volkslieder zu leisten. Denn wir haben es schon etwas schwer mit unseren alten Liedern – sie sind meist in der Romantik entstanden und es wimmelt in ihnen nur so von Mägdelein, die am Brünnelein warten. Und über allem thront der mehr oder weniger liebe Gott, von dem alle hoffen, dass er es richtet, und meinen kranken Nachbarn auch. Vieles wirkt heute etwas kitischig und die Zeit scheint daran vorbeigegangen zu sein.
So ist es kein Wunder, dass nur „Die Gedanken sind frei“ als unverdächtig gilt. Alles Andere ist irgendwie frauenfeindlich, „rechts“ oder huldigt dem falschen Gott.
In Kein schöner Land heißt es:
Nun, Brüder, eine gute Nacht,
der Herr im hohen Himmel wacht!
In seiner Güten
uns zu behüten
ist er bedacht.
Politisch korrekt müsste es heute wohl lauten:
Nun, Schwestern, Brüder, Transgender und alle, die nicht wissen welches Geschlecht sie haben, eine gute Nacht,
der Herr, der auch Allah genannt wird, im hohen Himmel wacht!
In seiner Güten
uns zu behüten
ist er, sie oder es oder alles oder nichts bedacht.
Das ist zwar jetzt endlich ein toll politisch korrektern Text, lässt sich aber dummerweise nicht gut singen. Wie es heute so schön heißt: Der Original-Text ist wie fast alle Volksliedtexte nicht mehr zeitgemäß.
Vielleicht sollten wir ihn gerade deshalb singen, so dachte ich mir. Einen Versuch ist es wert. Also befragte ich befreundete Musiker. Lasst uns doch einen Volkslied-Mitsing-Abend machen. Wir bewerben die Veranstaltung. Vielleicht können wir in der Lokalpresse einen Artikel darüber schreiben. Nun sind, wie wir wissen, die Kulturschaffenden fast geschlossen links, politisch korrekt sowieso und sie nehmen gerne den Kampf gegen rechts auf. Und sie suchen und suchen mit der Lupe nach dem üblen Volk, irgendwo muss es ja versteckt sein, schließlich wird in den Medien ständig darüber berichtet. Entsprechend fielen auch die Antworten aus: Da kommen ja nur AfDler und Rechte. Ist das dein ernst, Kinderlieder singen? Nein, das ist sowas von gestern, da machen wir nicht mit. Also treffe ich auf keine Resonanz, schade, kann ich da nur sagen.
Fragt man die Menschen irgendeiner Nation der Welt nach ihren Volksliedern, in voller Pracht schmettern sie sie, mit stolzer Brust. Die Iren, die Franzosen. Dann wollen sie deutsche Lieder hören. Aber die Deutschen schweigen, sie schweigen peinlich berührt. Man muss sich klar machen, dass die deutsche VolksMusikKultur nach dem 3. Reich vollkommen zusammengebrochen ist. Weder in der Klassischen noch in der Populärmusik ist je wieder etwas Eigenes entstanden, das sich zu erwähnen lohnt. Imitationen angloamerikanischer Musik mit deutschen Texten, das ist alles. Nichts gegen Rock. Ich bin damit aufgewachsen, und es ist das letzte, das ich missen möchte. Aber dem Volk, dem eigene Lieder fehlen, dessen Kultur stirbt bald, sagen viele Völker.
Leider gilt es heute auch für Christen als Zeichen von Toleranz und Weltoffenheit, auf christliche Symbolik zu verzichten. Nicht nur dass erwogen wird, Weihnachtsmärkte in Wintermärkte umzubenennen, nein inzwischen halten sich sogar manche christliche Schulen aus Gründen der Toleranz gegenüber auch teilnehmenden Muslimen bei der „Weihnachtsfeier“ zurück, Weihnachtslieder mit christlichem Bezug zu singen, wie auch unlängst christliche Würdenträger beim Besuch muslimischer Länder auf das Tragen des Kreuzes verzichteten. Diese Selbstaufgabe der Tradition sogar bei Christen hat natürlich nichts mit Toleranz zu tun. Ein Adventskonzert ohne Weihnachtslieder ist ein trauriger Abgesang auf die eigene, einst vom Christentum mitgeprägte Kultur. Darüber hinaus vergibt man sich eine Chance der Integration, insbesondere, wenn man sich der eigenen Kultur schämt.
Nach der romantischen, aber die Welt verkennenden „Eine Welt“-Kampagne mit ihren Eine-Welt-Läden, kommt nun die Ein-Gott-Kampagne. Alles ist eins. Alles ist egal. Dummerweise sieht dies nur die internationalistische Eine-Welt-Ein-Gott-Fraktion in Deutschland so. Die Völker der Welt sehen das ganz anders und sind verblüfft von westlicher Naivität.
Dazu eine Anekdote. Ich war letzte Woche in Bangkok, saß mit ein paar Thais beim Dinner und mein Freund Anucha fragt mich: Wenn du wiedergeboren wirst und du dürftest dir deine Nationalität aussuchen. Welche würdest du wählen? Ich komme doch etwas ins Grübeln. Überlege mir, ob die Italiener oder Franzosen nicht leichter leben, ob nicht die Australier oder Neuseeländer ein leichteres Erbe haben. Also grübele ich laut vor mich hin, und die Augen der Thais werden größer und größer. Am Ende entscheide ich mich dann natürlich doch für Deutschland, erleichtert nehmen die Thais das zur Kenntnis. Wenn ich nicht von mir und damit auch von meiner Nationalität überzeugt bin, wen will ich denn dann überzeugen. Niemanden, nicht einmal mich selbst. Dann frage ich reihum die Thais. Spontan und mit größter Freude antworten sie mir alle: Natürlich wollen wir wieder Thais werden.
Jetzt will ich es wissen. Am nächsten Tag befrage ich junge Deutsche auf der Straße. Seltsam berührt blicken mich viele an. Ein Zagen und Zögern, das ich ja kenne, wurde es mir wohl selbst eingetrichtert. Mit frohem Herzen und ohne ein latent negatives Gefühl zu haben, will keiner wieder Deutscher werden. Man meint fast, am Ende wollen sie gar nicht wiedergeboren werden, alle Nationen sind ihnen irgendwie peinlich. Am liebsten sind es noch Indianer, ganz wie bei Karl May. Und einigen ganz Schlauen kommt der rettende Fluchtgedanke: Weltbürger, wir wollen als Multikulti-Eine-Welt-Bürger wiedergeboren werden. Dass es das nicht gibt, schert wenige. Seit wann ist im postfaktischen Zeitalter die Realität entscheidend? Da ist doch etwas faul, nicht nur im Staate Dänemark.
Jetzt bin ich gerade im fernen Burma zu Gast bei den Shan, einem buddhistischen Stamm, der sich gerade auf den Kampf mit drei gegnerischen Stämmen vorbereitet, die sich gegen die Shan verbündet haben und einen Teil ihres Stammesgebietes erobern wollen. Keiner ist ängstlich oder verzagt. Alle glaube an ihre Sache, wie die Gegenseite wahrscheinlich auch.
Die Welt ist nicht friedlich und sie will es letztlich auch nicht sein. Aber das hält mich doch nicht davon ab, auch bei den Shan ein bisschen Weihnachten zu feiern. Ich werde die Familie, bei der ich zu Gast bin, zu einem Essen einladen, werde Kerzen anzünden und werde Weihnachtslieder vorsingen. Dann werde ich sie bitten, mir ein paar Lieder zu singen. Und dann wünsche ich allen Frohe Weihnacht, ganz so wie ich es gelernt habe.
Ich möchte Sie liebe Leser ermuntern, doch in den Kommentaren zu erzählen, wie Sie Weihnachten feiern. Die Christen, die Atheisten, die Agnostiker, die Muslime, die Buddhisten und was sonst noch kreucht und fleucht.
Erzählen Sie auch, was Sie davon halten, das christliche Weihnachten mit ihrer Symbolik für alle zugänglich zu machen und sich von ihr berühren zu lassen?
Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart
wie uns die Alten sungen: Aus Jesse kam die Art.
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht.
O du fröhliche, o du selige – gnadenbringende Weihnachtszeit!
Frohe Weihnacht. Lassen Sie es ruhig angehen und genießen das Weihnachtliche an der Weihnachtszeit.