Sie kennen Adrian Daub nicht? Bemühen Sie sich nicht, er ist nur einer der vielen Cancel Culture Leugner, die wohl nicht Professoren an einer woken Universität wie Stanford wären, wenn sie den Fakt akzeptieren würden, dass Cancel Culture existiert. Würde der Germanist die Geschichte der dekonstruktivistischen Methode der linken Ideologie kennen, so fände er sogar den Zeitpunkt, an dem die Geschichte der modernen Cancel Culture begann, nämlich im Juli 1993. An diesem Tag unterstützte Jacques Derrida den „Aufruf zur Wachsamkeit“.
War die Linke nicht fähig zur Auseinandersetzung? Zeigte sich Derridas Wachsamkeit nicht am Ende als Kulturstalinismus? Zumindest ging es um Diskursauschluss. Und Diskursausschluss ist die vorherrschende Methode, um alle Kritik und alles Denken, das nicht mit dem linksliberalen Establishment übereinstimmt, zu marginalisieren, schließlich auf den neuen Index der Bücher, Medienberichte und Lehrmeinungen zu setzen. Der landläufige Name für Diskursauschluss lautet Deplatforming, für damnatio historiae schlicht Cancel culture.
Wenn man heute nüchtern vom Niedergang der Geisteswissenschaften, allen voran der Literaturwissenschaften, die nahezu nicht mehr vorhanden sind, spricht, dann muss man über den großen Einfluss des Dekonstruktivismus sprechen, der grob gesagt, verkündet, dass alles nur eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die auf Macht beruht. Wollte man also diese Macht stürzen, musste man mithilfe von Macht diese gesellschaftliche Konstruktion, die in Wahrheit und konkret aber unser Leben ist, dekonstruieren, also zerstören, und sie durch eine Konstruktion ersetzen. Da diese neue Konstruktion jedoch Konstruktion und eben nicht aus der Geschichte hervorgegangen war, und wie im Falle der Geschlechter jeder biologischen Realität ermangelte, musste diese Konstruktion, diese Utopie, wie einst der Kommunismus mit Gewalt durchgesetzt werden. Die diskursive Gewalt zur Durchsetzung der woken Ideologie ist das, was man Cancel Culture nennt, das Mittel zur Bildung einer illiberalen Kastengesellschaft aus dem Ungeist der Utopie.
Als Kind habe ich noch gelernt, dass man als Junge durchaus sich „kloppen“ kann, aber zwei Regeln durften nicht verletzt werden, erstens, wenn der andere auf dem Boden liegt, ist Schluss mit der Rangelei, und zweitens niemals alle auf einen. Noch heute empfinde ich den starken Reflex, demjenigen, der allein gegen eine Überzahl steht – auch wenn ich seine Anschauungen nicht teile – beizustehen. Es geht um Fairness, um die Einhaltung der Grundregeln der Auseinandersetzung. Denjenigen, der sich zum Mob gesellte, und sei es um der besten Sache der Welt Willen, habe ich immer als Charakterlump verachtet.
Wenn Leute, die sich Philosophen oder Studierende nennen, einen Brief gegen eine Professorin schreiben, dann erübrigt sich in Ansehung des Zahlenverhältnisses 600 gegen 1 jede inhaltliche Diskussion. An dem Denunziationsbrief gegen Kathleen Stock haben sich auch Deutsche beteiligt.
Aus Mangel an Argumenten flüchtet Celikates in Diffamierungen: „Die Episode ist nur von Interesse, weil sie symptomatisch für den Backlash ist, an dem sich neben rechten Online-Trollen seit einiger Zeit auch die NZZ und die FAZ aktiv beteiligen.“ Celikates wissenschaftliche Meisterschaft scheint sich, im argumentum ad hominem zu erschöpfen: wer ihn kritisiert ist ein schlechter Mensch, ein rechter Troll, schlicht der Klassenfeind oder Geschlechterfeind. Wer einmal Lenin oder Stalin gelesen hat, kennt diese Muster zu Genüge.
600 Leute, die sich viel auf ihre Wissenschaftlichkeit einbilden, reihen sich in eine Front ein, ohne ein einziges konsistentes Argument vorzubringen und zwingen eine Wissenschaftlerin zum Rücktritt, in dem sie objektiv einen Mob anfeuern, und stellen sich dann auch noch als Opfer dar? Haltet den Dieb eben. Oder ist Robin Celikates wie Kathleen Stock jetzt seinen Job los? Die Methode, derer sich Celikates bedient, ist literaturhistorisch notorisch, es ist die Methode Tartuffe.
Doch werfen wir einen kurzen Blick auf das, was Celikates unter Wissenschaft versteht, bspw. auf die Definition des Zivilen Ungehorsams. Ziviler Ungehorsam sei nach Celikates „Teil eines Sets von Protest-Praktiken, die von legalen Formen wie Demonstrationen bis zu revolutionär-militanten Formen reicht“. Legitim sei ziviler Ungehorsam, „weil demokratischer Fortschritt in den seltensten Fällen aus dem politischen System selbst heraus geschieht.“ Damit stellt Celikates grundsätzlich die Demokratie in Frage, denn aus dem System, also aus demokratischen Verfahren geht seiner Meinung nach selten Fortschritt hervor, wobei Fortschritt natürlich eine Definitionsfrage ist, denn man kann mit guten Gründe auch das, was Celikates will, stockreaktionär oder stalinistisch finden. Benötigt der Fortschritt des Herrn Professor statt der Wahlurne die Grünen Garden? Kommt der Fortschritt des Herrn Professors in „revolutionär-militanten Formen?“ Wenn ziviler Ungehorsam, wie der Professor meint, ein „absichtlicher, Prinzipien-basierter Rechtsbruch“ mit dem Ziel einer politischen Veränderung sei, wie kann er dann die Anwendung der Methoden des revolutionären Klassenkampfes auf den Diskurs, auf die Öffentlichkeit in seiner spezifischen Form des ideologischen Klassenkampfes leugnen, wo er doch in anderen Bereichen den Klassenkampf oder Zivilen Ungehorsam oder von „Protest-Praktiken, die von legalen Formen wie Demonstrationen bis zu revolutionär-militanten Formen“ reichen, gutheißt?
Aufschlussreich hierfür ist folgende Darstellung der taz: „Um damit bei der Mehrheitsgesellschaft zu punkten, betonen die meisten Gruppen ihren gewaltlosen Charakter. Denn in den westlichen Demokratien ist es weitgehend Konsens, dass ZU gewaltfrei zu sein hat. Celikates sieht dies anders: Warum, fragt er, sollten Proteste gegen massives Unrecht, die Sachbeschädigung, minimale Gewalt zur Selbstverteidigung oder gegen die eigene Person umfassen, per se unvereinbar sein mit zivilem Ungehorsam?“ Celikates sollte wissen, dass „massives Unrecht“ keine statische, sondern eine definitive Größe ist, mit anderen Worten, was als „massives Unrecht“ gesehen wird, unterscheidet sich. Wieso also sollten Proteste gegen „massives Unrecht“, wie beispielswiese die Behauptung der Existenz von zwei Geschlechtern, sich nicht der Methoden der Cancel culture bedienen, wenn es denn „weiterhin politischen Protest und Aktivismus“ braucht zur Umsetzung höherer Ziele?
Mit Blick auf Professoren wie Celikates und Daub wird deutlich, dass die Woken, dass die neuen Ideologen mit inquisitorischen Eifer in den USA und in England die Herrschaft übernommen haben und sie an den deutschen Universitäten es in diesem Momente tun. Es lohnt nicht, Zeit mit ihnen zu vergeuden. Intellektuell sind die Retro-Marxisten langweilig. Die Zeit, als diese inzwischen reaktionäre Ideologie originäre und inspirierende Geister hervorbrachte, ist längst vorbei. Was aber lohnt, ist, die Kultur zu verteidigen, und unter Kultur wird in diesem Zusammenhang die Kultur der Freiheit und der Gerechtigkeit verstanden, die Kultur der Aufklärung, die Liebe zur Herkunft als einzige Möglichkeit, Zukunft zu haben.
In den USA ist man nun zu der Ansicht gekommen, dass die Wissenschaftsfreiheit an den US-Universitäten eine verlorene Sache sei und man aktiv werden müsse, anstatt nur immer zu reagieren. Deshalb schrieb der ehemalige Präsident des St. John’s College in Annapolis, Maryland, Pano Kanelos, auf der Website der amerikanischen Journalistin Bari Weiss: „Ich habe meinen Posten als Präsident des St. John´s College in Annapolis aufgegeben, um in Austin eine Universität aufzubauen, die sich dem furchtlosen Streben nach Wahrheit widmet. Wir können nicht warten, bis die Universitäten sich selbst reparieren…Daher starten wir eine neue.“ Der Antrag auf Akkreditierung sei beim „Texas Higher Education Board“ gestellt. Kanelos wird von prominenten Wissenschaftlern, Publizisten, Journalisten und Künstlern unterstützt.
Er schreibt in der Begründung des Projektes: „In Amerika ist so viel zerbrochen. Aber die Hochschulbildung könnte die am stärksten zerbrochene Institution von allen sein. Zwischen dem Versprechen und der Realität der Hochschulbildung klafft eine Lücke. Yales Motto lautet Lux et Veritas , Licht und Wahrheit. Harvard verkündet: Veritas. Den jungen Männern und Frauen von Stanford wird gesagt: Die Luft der Freiheit weht…Das sind hochtrabende Worte. Aber können wir in diesen Top-Universitäten und in so vielen anderen tatsächlich behaupten, dass das Streben nach Wahrheit – einst der zentrale Zweck einer Universität – die höchste Tugend bleibt? Glauben wir ehrlich, dass die entscheidenden Mittel zu diesem Zweck – die Freiheit der Forschung und des Diskurses – sich durchsetzen, wenn der Illiberalismus zu einem allgegenwärtigen Merkmal des Campuslebens geworden ist?“
Adrian Daub hat die Luft der Freiheit in Stanford anscheinend nicht genießen können, sonst würde er nicht über „Anekdoten“, Einzelfälle, „Ungenauigkeiten“ schwadronieren. Leuten wie Daub hält Kanelos Daten entgegen: „Die Zahlen erzählen die Geschichte sowie alle Anekdoten, die Sie in den Schlagzeilen gelesen oder in Ihren eigenen Kreisen gehört haben. Nahezu ein Viertel der amerikanischen Akademiker in den Sozial- oder Geisteswissenschaften befürwortet die Absetzung eines Kollegen, wenn er eine falsche Meinung zu heiklen Themen wie Einwanderung oder Geschlechterunterschieden hat. Über ein Drittel der konservativen Akademiker und Doktoranden gibt an, ihnen seien wegen ihrer Ansichten Disziplinarmaßnahmen angedroht worden. Laut einem Bericht des Center for the Study of Partisanship and Ideology sind vier von fünf amerikanischen Doktoranden bereit, rechtsgerichtete Wissenschaftler zu diskriminieren.
Pano Kanelos berichtete, dass die Initiative mit einem Treffen von Niall Ferguson, Bari Weiss, Heather Heying, Joe Lonsdale, Arthur Brooks und ihm begann. Zu ihnen stießen „viele andere…, darunter die oben erwähnten mutigen Professoren Kathleen Stock, Dorian Abbot und Peter Boghossian.“ Zu den Unterstützern zählen Universitätspräsidenten wie Robert Zimmer, Larry Summers, John Nunes und Gordon Gee sowie führende Akademiker wie Steven Pinker, Deirdre McCloskey, Leon Kass, Jonathan Haidt, Glenn Loury, Joshua Katz, Vickie Sullivan, Georey Stone, Bill McClay und Tyler Cowen, aber auch „Journalisten, Künstler, Philanthropen, Forscher und öffentlichen Intellektuelle“ wie „Lex Fridman, Andrew Sullivan, Rob Henderson, Caitlin Flanagan, David Mamet, Ayaan Hirsi Ali, Sohrab Ahmari, Stacy Hock, Jonathan Rauch und Nadine Strossen.“
Im Jahr 2022 wird die Universität mit einer Summer School eröffnet, im Jahr 2024 hoffen die Initiatoren, Bachelor-Programme anbieten zu können
Es sieht so aus, als ob wir uns – auch in Deutschland – an den Gedanken gewöhnen müssen, Institutionen der Freiheit zu schaffen. Eine Kultur, der Freiheit zu etablieren. Denn die Freiheit ist nicht mehr selbstverständlich. Es ist die Freiheit, die gecancelt werden soll. Wieder einmal.