Der Schock hallte noch lange nach im Regierungszentrum in Den Haag, in den Medien, im ganzen Land. Am frühen Morgen des 21. März 2019 stellte sich heraus, dass bei den Regionalwahlen am Tag zuvor ein Debütant der große Gewinner war. Thierry Baudet und seine Partei Forum für Demokratie, die noch nie an den Wahlen der Provinzparlamente teilgenommen hatten, schien sogar größer zu sein als die VVD, die Partei des niederländischen Ministerpräsidenten, des Liberalen Mark Rutte.
Im ganzen Westen der Niederlande war Baudets Partei die größte, auch in Rotterdam, der zweiten Stadt des Landes. In dem kleinen Fischerort Volendam – Heimat der Kleidertracht von Frau Antje – gingen sogar 40 Prozent der Stimmen an den neuen Erfolgspolitiker. Wie konnte das geschehen? Was sind die Folgen? Und was hat Thierry Baudet, was die eher traditionellen Politiker nicht haben?
Die Nachricht des aufsehenerregenden Wahlergebnisses in den Niederlanden drang im Ausland nicht so richtig durch. Handelte es sich doch lediglich um Regionalwahlen, auch wenn man dabei leicht vergessen kann, dass die Provinzräte auch den niederländischen Bundesrat, die Erste Kammer, wählen. Bei diesen Wahlen verlor die Regierung von Mark Rutte auch die Mehrheit in der Ersten Kammer. Nun muss das nicht sofort ein Desaster sein, weil sich in der Regel durchaus Oppositionsparteien finden, die die Regierungsvorschläge unterstützen.
Die Aufmerksamkeit für die normalerweise so ruhigen Niederlande verlagerte sich außerdem durch ein anderes Ereignis. Es handelte sich um eine Nachricht aus den Niederlanden, die über die Grenzen hinweg Aufsehen erregte: Ein in der Türkei geborener Mann, der – zwei Tage vor den Wahlen – in der Stadt Utrecht in einer Straßenbahn anfing, um sich zu schießen, was drei Tote und fünf schwer Verletzte zur Folge hatte. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt ihn eines terroristischen Motivs.
Baudet unterschied sich damit zum wiederholten Mal innerhalb der niederländischen politischen Landschaft, in der die vier Regierungsparteien (Liberale, Christdemokraten, Linksliberale und eine kleine evangelische Partei) vor allem stolz sind auf ihre Fähigkeit, gemeinsam Kompromisse zu schließen. Unter der Leitung von Rutte holten sie ständig aus gegen die Opposition von Baudet, Geert Wilders und den radikalen Linken, die sie als „Schreihälse“ bezeichneten.
Die Kampagne der “Kompromissparteien” war am 20. März 2019 voll und ganz gescheitert. Bekamen die klassischen Regierungsparteien (Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale) vor dreißig Jahren in den Niederlanden noch 85 Prozent der Stimmen, sanken sie am 20. März auf ein historisches Tief von nur einem Drittel der Stimmen. Es ist in diesem Sinn das soundsovielste Ereignis in einer Reihe, die anscheinend auf eine totale Erosion des politischen Establishments zusteuert. Die Niederlande waren in dieser Hinsicht schon einmal Vorläufer. Es würde mich nicht wundern, wenn die Wahl von Baudet auch in den Nachbarländern Nachahmer bekommen würde.
Der erste moderne Aufstand der niederländischen Bürger fand 1994 statt. Damals gab es den Erfolg von neuen „Seniorenparteien“, die sich gegen Pläne, die staatliche Rente einzuschränken, wehrten. Die Christdemokraten der CDA, bis dahin die ewig größte Partei, erlitt die größte Niederlage und wurde in die Opposition geschickt.
2002 gab es dann den Aufstand der Bürger unter der Leitung des neuen politischen Entrepreneurs Pim Fortuyn, der innerhalb von kürzester Zeit eine neue Bewegung aus dem Boden stampfte und in Rotterdam lokal sofort die Wahlen gewann.
Fortuyns Partei ging mit ihrem Führer unter, aber 2004 trennte sich Geert Wilders von der VVD, der Partei des heutigen Ministerpräsidenten Rutte. Wilders fand, dass seine Partei zu farblos sei, zu links, zu multikulti und zu lax in Bezug auf EU und die Immigration. Wie schon früher Fortuyn wurde auch Wilders nacheinander ignoriert, höhnisch verlacht, angegriffen und als moralisch minderwertig abgetan.
Nachdem im November 2004 der Filmemacher Theo van Gogh von einem muslimischen Terroristen ermordet wurde, musste Wilders sich an geheimen Orten wie zum Beispiel in leer stehenden Kasernen verstecken. Er hat seitdem nicht mehr in Freiheit leben können. Aber 2006 kam Wilders’ Partei viel größer als erwartet ins Parlament, 2010 wurde sie sogar die zweitgrößte, wonach er als “toleranter Partner” bis 2012 die erste Regierung von Rutte unterstützte. Auch danach war Wilders zahlenmäßig noch ein großer Spieler in der niederländischen Politik, aber er richtete sich immer mehr auf internationale Kampagnen und provozierte Aktionen gegen den Islam. In den letzten Jahren scheint das heilige Feuer bei Wilders etwas erloschen zu sein. Von seiner Partei gehen wenige Initiativen aus und irgendwelche Chancen, als größte Partei die Macht zu ergreifen, werden vertan.
Alle diese politischen Newcomer, Wahlen und Referenden waren die Wegbereiter für Thierry Baudet und seine Partei bei den niederländischen Regionalwahlen vom 20. März 2019. Eben diese Wahlen bilden vielleicht den Startpunkt für weitere Turbulenzen, Wahlen und – wer weiß – Referenden. Denn sie könnten Ausstrahlungseffekte außerhalb der Niederlande haben, angefangen bei den Parlamentswahlen der EU von Ende Mai 2019. Es ist durchaus möglich, dass Thierry Baudet dort mit seinem Forum für Demokratie in den Niederlanden auch eine der größten Parteien wird – und vielleicht wieder die größte.
Aber wer ist Thierry Baudet eigentlich – und wer glaubt er eigentlich zu sein?
Baudet ist ein junger (36) Jurist und Historiker. Aber er ist auch eine auffallende Erscheinung und weiß genau, wie man die Ausstrahlung eines Akademikers mit hedonistischen Zügen mit der Eigenschaft, Vertrauen bei breiten Bevölkerungsschichten zu gewinnen, kombiniert. Er spielt Schach, Klavier und hat den Ruf eines Frauenliebhabers, ist aber auch in Kreisen von Homosexuellen eine Stilikone. In einer Saure-Gurkenzeit-Phase im Sommer 2018 tauchte im Internet plötzlich ein – dezentes – Nacktfoto von Baudet auf, auf dem er am Rand eines Schwimmbads liegt. Dieses Foto muss mit seiner Einwilligung online gestellt worden sein. Baudet war zwar im Urlaub, aber trotzdem wieder wochenlang Gesprächsthema.
Schon als Student war Baudet gegen die Europäische Union, die er für einen aufgeblähten bürokratischen Moloch hält, der den Nationalstaat unterminiert – während der Nationalstaat für ihn der einzige Ort ist, wo die Demokratie gedeihen kann. Er widmete diesem Thema diverse Kolumnen, Bücher und auch seine Dissertation. Im weiteren Sinn ist er gegen einen seiner Ansicht nach westeuropäischen (westlichen) Schuldkult. Baudet vertritt hingegen die Ansicht, dass die Niederlande, Nordwesteuropa und der Westen im Allgemeinen der Welt in Sachen Demokratie, Technik, Wohlstand und Fortschritt gerade voraus gegangen sind. Er widersetzt sich gegen die seiner Ansicht nach fatale Neigung in Politik, den Medien, der Kunst und der Wissenschaft, Kulturrelativierung zu betreiben.
Baudet scheut dabei auch nicht vor einigem Bombast zurück, was boshafte Kritiker oft dazu bringt, ihn mit Ideen aus dem Lager von Nationalsozialisten, Faschisten und Rassisten in Beziehung zu bringen. Baudet findet es unfair, dass, was er als intellektuelle Exerzitien sieht – bis hin zu einem Treffen mit dem antisemitischen Gründer des Front National Jean-Marie le Pen – , ihn selbst beschmutzen könnte. Eine provokative Haltung ist ihm übrigens sicher nicht fremd.
Baudets kleine Bewegung wurde 2016 in einem Keller an der Amsterdamer Herengracht untergebracht, eine politische Partei, die im März 2017 doch ziemlich überraschend zwei Sitze im niederländischen Parlament (der Zweiten Kammer) gewinnen konnte. Baudet war bei dieser Kampagne die Galionsfigur, dabei stand ihm der bekannte Strafverteidiger Theo Hiddema (75) zur Seite. Im Hintergrund spielt der Geschäftsmann Henk Otten (52) eine zentrale Rolle. Otten widmet sich schon seit Pim Fortuyns Tagen mit Initiativen, um der niederländischen etablierten Ordnung die Hölle heiß zu machen.
In den zwei Jahren, in denen Baudet und Hiddema mit ihrer Mini-Fraktion im niederländischen Parlament aktiv waren, gelang es ihnen, immer auf eine andere Art und Weise die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wodurch ihre Partei in den Meinungsumfragen schnell aufstieg. Es waren auf der einen Seite etwas skurrile Auftritte – Baudet in der Montur eines Marinesoldaten im Parlament – aber andererseits waren Baudet und Hiddema gut darin, Themen auf die Tagesordnung zu setzen, die andere Parteien nicht beachteten.
Ein zweites Thema, das Baudet wie ein reifer Apfel in den Schoß fiel, war der Migrationspakt von Marrakesch. Dass sich dieser Pakt einmal als bindend erweisen könnte, wurde vom ganzen politischen Establishment abgestritten (oder mit Beifall begrüßt). Niederländische Bürger misstrauten diesem Pakt unter anderem durch das Zutun von Baudet gegen diesen Pakt und so wurde dieser infolgedessen politisch gesehen Besitzer dieses brandaktuellen Themas, das die Regierungsparteien gerne aus der parlamentarischen Debatte rausgehalten hätten.
So wurde 2018 die Basis für den Wahlsieg von Baudet 2019 gelegt, der sich so wie es aussieht, vorläufig nicht aufhalten lässt. Was Baudet auch enorm geholfen hat, war, dass die Regierung von Rutte Ende 2018 noch versichert hatte, die Stromrechnungen würden 2019 nicht oder kaum steigen. Das Jahr hatte jedoch kaum angefangen und die Rechnungen erwiesen sich als 20 Prozent höher, zur Hälfte verursacht durch die höheren Steuern auf Energie, insbesondere auf Gas.
Das Erdgas ist ein weiteres unbeabsichtigtes Geschenk der Regierung Rutte (und der Opposition von links) für Baudet und seine Partei. Zu Beginn 2018 beschlossen die Regierung und die Opposition von links nämlich, dass die Wohnungen “weg vom Gas” müssen. Das wäre im Interesse des Klimas, war aber vor allem entstanden durch die Emotionen um die Erdbeben in der nördlichen Provinz Groningen, die Jahrzehnte lang ganz Westeuropa mit Erdgas versorgt hatte.
Die Folgen von diesem, von Emotionen beherrschten, “Gasverbot“ sind jedoch gigantisch. Während der Rest der Welt das relativ saubere Erdgas als eine attraktive Alternative für Steinkohle, Braunkohle und Öl sieht, wenden sich ausgerechnet die Niederlande – das Land mit der intensivsten Gasinfrastruktur der Welt – ab vom Gas. Und der größte Teil der Kosten – Hunderte Milliarden Euro – wird von den Bürgern getragen werden müssen.
Der schnelle glorreiche Aufstieg von Thierry Baudet liegt also durchaus nicht ausschließlich an seinen eigenen Qualitäten. Die etablierten Parteien, stolz auf ihre eigenen Fähigkeiten, Kompromisse zu schließen, haben ihr eigenes politisches Profil verwahrlost und den Interessen der niederländische Bürger eine immer niedrigere Priorität gegeben. Das niederländische Ansehen im Ausland (Euro, Marrakesch, Klima) und das Lobbygewicht von niederländischen Multinationals (Shell, Unilever) waren immer wichtiger als die Belange der Bürger. Wenn Baudet das nicht verwandelt hätte, dann hätte ein anderer Politiker das problemlos tun können.
Und wie geht’s jetzt weiter?
Es gibt nicht unbedingt direkte Folgen für die niederländische Regierung, auch wenn das Ansehen des Ministerpräsidenten – und Merkel-Freundes – Mark Rutte im eigenen Lande stark lädiert ist. Rutte ist schon 8,5 Jahre Premier und behauptet, wenigstens bis 2021 weitermachen zu wollen, wobei es ziemlich unsicher ist, ob ihm das auch gegönnt sein wird. Rutte leugnet, nach Brüssel zu wollen – als Nachfolger von Jean-Claude Juncker oder von Donald Tusk – aber darüber könnte er jetzt anders denken. Von Thierry Baudet ist zu hören, er wolle selbst Ministerpräsident werden. Das wird ihm vermutlich nicht gegönnt sein. Gleichzeitig kann die niederländische etablierte Gesellschaft jedoch nicht weitermachen mit ihrer gescheiterten Politik, um nicht oder nur selektiv auf die Wähler zu hören, andere auszuschließen und selbst immer weniger Unterstützung in der Bevölkerung zu finden.
Es würde einen nicht erstaunen, wenn von Baudets Sieg eine gewisse Ausstrahlung auf andere europäische Länder ausginge. Nationalistisch gefärbte Parteien hatten 2017 – nach dem Brexit und Donald Trumps Sieg in den Vereinigten Staaten – weniger Erfolg als erwartet. Dem steht gegenüber, dass in Italien zum ersten Mal Parteien solcher Couleur (zusammen) regieren und – mit allen Unterschieden, die es auch gibt – in Osteuropa fest im Sattel sitzen.
So wie Baudet dem niederländischen Establishment einen Schock besorgte, so könnten in ganz Europa ähnliche Parteien – angefangen bei den EU-Wahlen im Mai – ebenfalls Wahlgewinne verbuchen. Auffallendes Detail: Baudet hat seine Partei im Parlament der EU schon im Voraus bei der ECR angeschlossen, die von der britischen konservativen Partei gegründete Fraktion, die jetzt dominiert wird von der PiS, der polnischen nationalistischen Regierungspartei: bien étonnés de se trouver ensemble, aber vielleicht auch wieder nicht.