„Nichts als die Wahrheit“ – so heißt das Buch von Georg Gänswein, das nächste Woche in Italien auf den Markt kommen soll (Nient’altro che la verità). Der Anspruch ist hoch, war Gänswein doch Privatsekretär eines Mannes, der über den Begriff der Wahrheit so häufig nachgedacht hat wie über das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Vorab hatte Gänswein, der Benedikt XVI. nach dessen Rücktritt näher stand wie sonst kein anderer, für Aufruhr in Italien gesorgt. Nach dem Tod des Papa emeritus sorgte er mit Interviews und Auszügen seines Buchs in den Tageszeitungen für so viel Trubel, dass ihn Papst Franziskus wohl auch deswegen zur Audienz zitierte. Danach wollte Gänswein sogar beim Buchverlag intervenieren – erfolglos.
Nicht nur der Repubblica gab Gänswein Interviews, sondern auch RAI3, dem dritten Kanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Titel: „So hat Ratzinger sich entscheiden, zurückzutreten“. Ein weiteres Interview gab es mit der deutschen Tagespost. Dort erklärte Gänswein, das apostolische Schreiben „Traditionis custodes“ von Papst Franziskus, das Benedikts Motu proprio „Summorum pontificum“ zurückdrehte – und damit die Rehabilitierung des traditionellen römischen Ritus –, habe Benedikt „das Herz gebrochen“. Das Zitat zirkulierte in internationalen Medien, nicht zuletzt, weil der zweideutige Satz in englischsprachigen Medien als Auslöser für Benedikts Dahinscheiden interpretiert werden konnte.
Kardinal Pell: Franziskus-Pontifikat „ein Desaster, eine Katastrophe“
Pikant stellten sich einige Äußerungen Gänsweins zum persönlichen Umgang heraus, den der aktuelle Pontifex pflegt. Der Kurienerzbischof berichtet von seiner Beurlaubung durch den Papst nach einer Querele um ein Buch von Kardinal Sarah zum Jahresanfang 2020, für das Benedikt ein Vorwort spendiert hatte. Franziskus zeigt dabei seinen gezielten Umgang mit fast einschüchternder Autorität. „Demütigungen tun gut“, sagte der Argentinier. Die Szene zeichnet eine Situation, das wenig von dem Bild des vermeintlichen Papstes der Barmherzigkeit übriglässt. Es sind womöglich Erzählungen wie diese, die einigen hohen Prälaten im Vatikan am wenigsten schmecken, weil sie den Alltag in der Kurie zeigen, und damit das Mediennarrativ konterkarieren.
Gänswein ist nicht das einzige Ärgernis. Am 10. Januar starb auch der australische Kardinal George Pell. Ihn überschattete jahrelang der Vorwurf des Kindesmissbrauchs – ein Vorwurf, der sich letztlich nicht erhärtete, aber Pell als wichtige Figur des Kardinalskollegiums jahrelang kaltstellte. Als Präfekt des Wirtschaftssekretariats hatte er einen Rang, der dem eines Finanzministers nahekommt. Bis heute existieren Spekulationen, dass die Kaltstellung Pells einigen Interessenten in der Kurie gelegen kam; sie sorgte jedenfalls für eine Handlungsunfähigkeit in den pikanten Finanzbelangen. Pell war einerseits damit tief in die vatikanische Politik verstrickt, stand aber Papst Franziskus in den letzten Jahren kritisch gegenüber.
Das wurde umso deutlicher, als nach der Trauerfeier für den verstorbenen Kardinal herauskam, dass ein bereits im Frühling kursierendes, anonymes Memo an das Kardinalskollegium von Pell stammte. Inhalt: die Demontage von Franziskus. Das aktuelle Pontifikat sei „in vielerlei Hinsicht ein Desaster, eine Katastrophe“. Konservative Katholiken würden verfolgt, Häresien nicht kommentiert und die zentrale Stellung Christi zugunsten der politischen Korrektheit geschwächt. Bei den jungen Seminaristen, die wieder traditionell tickten, besitze Franziskus keinen Rückhalt.
Kardinal Müller: Keine Institutionalisierung des Papstrücktritts
Um die Schwäche Bergoglios zu verdeutlichen, haben sich zusätzlich gleich mehrere Vertreter ganz unterschiedlicher Strömungen zu Wort gemeldet, die sich gegen einen erneuten Rücktritt eines Papstes wenden. Ein „Nebeneinander“ zweier Päpste will niemand mehr, ob sie dem konservativen oder liberalen Lager angehören. Der Franziskus nahestehende Kardinal Gianfranco Ghirlanda kritisierte, dass eine solche Situation von Gruppen „instrumentalisiert“ worden sei, um einen amtierenden Papst nicht zu akzeptieren. Kardinal Gerhard Ludwig Müller warnte vor einer Institutionalisierung eines Papstrücktritts. „Es kann immer nur einen einzigen Papst geben, der in seiner Person das sichtbare Prinzip sowie das Fundament der Einheit und der sakramentalen Gemeinschaft aller Ortskirchen ist“, so Müller.
Das sind sehr klare Vorstöße angesichts der durchaus auch von Franziskus selbst befeuerten Spekulationen, dieser wolle ähnlich wie sein Vorgänger nicht bis zum eigenen Tod auf dem Stuhle Petri verweilen. Es sind zugleich Ereignisse wie diese, die verdeutlichen, dass die Endphase des Pontifikats begonnen hat. Ratzinger und Pell mögen tot sein, aber die Gegenkräfte sind es noch lange nicht. Die Anmerkung, dass das Herz der jungen Priester weltweit wieder konservativer schlägt, ist keine reine Durchhalteparole.
Die „Generation Benedikt“ steht in den Startlöchern
Die derzeit regierende Generation, die jener der Alt-68er in der säkularen Welt entspricht, klammert sich noch an ihre Wünsche aus der Vergangenheit. Doch an die Türe klopfen nicht die Erben von Hans Küng, sondern die Vertreter der Generation Benedikt an. In der politischen Welt steht dafür stellvertretend die neue italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Aussichten wie diesen könnten noch Verzweiflungstaten wie weitergehende Repressionen im Stile von „Traditionis custodes“ folgen, um das Unvermeidliche hinauszuzögern.
So zerschlagen sich auch nach dem Ableben des bayrischen Papstes sämtliche Hoffnungen, das lang ersehnte „Reformprogramm“ könnte nun endlich beginnen. Eine langsame Ernüchterung macht sich breit. Zwar hat Franziskus mit dem Motu proprio „Traditonis custodes“ die traditionelle Messe des Römischen Ritus geächtet. Auch der Umgang der Kirche mit der Todesstrafe ist ein nennenswertes Novum. Doch ansonsten sieht es bislang enttäuschend aus, will man aus dem Pontifikat, das im März sein 10. Jubiläum feiert, langfristige Weichenstellungen zugunsten eines „Reformkurses“ hineininterpretieren, der sich von dem unterscheidet, was man außerhalb der Vatikanmauern darunter versteht.
Ob Kurienreform oder die anberaumte Weltsynode: Eine abschließende Bewertung dieser Vorgänge steht noch aus. Das Reformlager kann sie kaum als Sieg der eigenen Agenda verbuchen. Bisher hat Franziskus sich tatsächlich als Papst der Gegenwart gezeigt, der eher in den Alltag regiert und aktuelle politische Geschehnisse den langfristigen theologischen vorzieht. Besser als sein Vorgänger weiß er, wie die Massenmedien ticken – und mit ihnen zu spielen.
Franziskus hat die in ihn gesetzten liberalen Hoffnungen enttäuscht
Zu solchen Gesten gehört etwa der Umzug aus den päpstlichen Gemächern in das Gästehaus Santa Marta (Domus Sanctae Marthae), das als Bescheidenheitsgeste gedeutet wird, aber in Wirklichkeit ausspart, dass die eigentliche päpstliche Arbeits- und Schlafstätte weiterhin instandgehalten werden muss. Ob Klimaschutz oder Flüchtlinge – der Pontifex setzte bewusste Akzente. Doch private Handlungen oder Äußerungen eines Papstes sind keine bindende Lehre für alle Katholiken. Sie können Vorbild sein, sind aber ansonsten genau das, was wenig kostet, aber nach den Medien lechzen: Symbolpolitik.
Die einzige „ideologische Linie“, welche die Kardinalsauswahl von Franziskus durchzieht, ist eine stetige Internationalisierung des Kollegiums, womit insbesondere die Kontinente Asien und Afrika gestärkt wurden. Deren Bischöfe gelten jedoch als deutlich konservativer als die europäischen Vertreter. Als kürzlich mit Giorgio Marengo der jüngste Kardinal des Kollegiums gekürt wurde – er ist 48 Jahre alt –, überschlugen sich die Medien mit Lob. Der gebürtige Italiener ist Missionar und Apostolischer Präfekt von Ulaanbaatar und damit ein mongolischer Kardinal.
Ein junger Kardinal verzückt die Medien – obwohl er konservativ ist
Der charismatische Marengo gilt einigen als Zeichen der Erneuerung und des Aufbruchs. Dass Marengo aber zugleich Exorzist ist und Christen wie Nichtchristen auf deren Bitten geholfen haben soll, Dämonen auszutreiben, hat zu Spekulationen geführt, ob der „junge Kardinal“ wirklich das liberale Idealbild sein könnte, für das ihn einige halten. Marengo missioniert in einem Land, das bis 1992 katholischen Würdenträgern den Zutritt verbot, und muss sich mit 1.500 Katholiken in einem nichtchristlichen Umfeld behaupten.
Die Una Sancta muss und wird in diesen Monaten daher mehr denn je auf die Zukunft, denn auf die Gegenwart sehen. In diesem Sinne hatte auch Kardinal Pell in seinem Memo vom Frühjahr 2022 agiert, als er eindringlich darauf hinwies, welche Anforderungen an einen zukünftigen Papst zu stellen seien:
„Der neue Papst muss verstehen, dass das Geheimnis der christlichen und katholischen Vitalität in der Treue zu den Lehren Christi und der katholischen Praxis liegt. Sie entsteht nicht durch Anpassung an die Welt oder durch Geld. […] Die ersten Aufgaben des neuen Papstes werden die Wiederherstellung der Normalität sein, die Wiederherstellung der lehrmäßigen Klarheit im Glauben und in der Moral, die Wiederherstellung der gebührenden Achtung vor dem Gesetz und die Versicherung, dass das erste Kriterium für die Ernennung von Bischöfen die Annahme der apostolischen Tradition ist. […] Eine unmittelbare Priorität für den nächsten Papst muss es sein, eine solche gefährliche Entwicklung zu beseitigen und zu verhindern, indem er die Einheit im Wesentlichen fordert und keine inakzeptablen Unterschiede in der Lehre zulässt. […] Trotz verbesserter Verfahren und größerer Transparenz stellen die anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten eine große Herausforderung dar, aber sie sind weit weniger wichtig als die geistlichen und lehrmäßigen Gefahren, denen die Kirche insbesondere in der Ersten Welt ausgesetzt ist.“