Der Tod des Samuel Paty war nur die Spitze des Eisbergs. Die Unterrichtsstunde, die dem Geschichtslehrer zum mörderischen Verhängnis wurde, stand unter dem Titel: „Dilemma-Situation: Ja oder nein zu Charlie“. Gemeint waren die Karikaturen von Charlie Hebdo, die man nicht schätzen muss und als Christ auch nicht schätzen kann, weil sie die Würde des Menschen antasten und besudeln. Aber das Dilemma ist nicht, ob diese Karikaturen gut oder schlecht, richtig oder falsch sind. Das Dilemma besteht darin, sie als Meinungsäußerung zu tolerieren oder den Geist, aus dem sie entstehen, zu vernichten – gewaltsam und barbarisch. Es ist ein religiöses, kein republikanisches Dilemma. Aber es wird zum existenziellen Problem der Republik, wenn es nicht gelingt, der Toleranz zum Sieg über die Radikalität zu verhelfen.
Es häufen sich Vorfälle und Klagen
Danach sieht es im Moment nicht aus. Es häufen sich Vorfälle und Klagen. Lehrer werden bedroht, wer an die Öffentlichkeit geht, riskiert Vereinsamung. Patys Kollege in Trappes tat es und warf schließlich das Handtuch. In Grenoble hat ein deutscher Professor gewagt, den Begriff der Islamophobie zu hinterfragen. Seitdem wird er im Netz gemobbt und von Kollegen gemieden. Die Zeitschrift Le Point macht aus dem Leidensalltag an Schulen und Unis eine Coverstory: „Was die Lehrer ertragen müssen“. Zuvor reichten zwölf Sekunden in einem 22-Minuten-Interview der Wissenschaftsministerin, um eine landesweite Debatte über den Islamo-Gauchisme, die Verbrüderung zwischen Islam und sozialistischen Strömungen, zu entfachen. Sie wollte prüfen lassen, ob in diesem Bereich nicht Steuergelder verschwendet werden. 600 Professoren und Dozenten schrieen auf, die Forschungsfreiheit sei in Gefahr. Fakt aber ist, dass unter dem Schutzschirm des Linksislamismus der radikale Islam an Schulen und Universitäten sich ausbreitet wie ein Ölteppich und die überwiegend linke Lehrerschaft an staatlichen Schulen und Bildungseinrichtungen insgesamt zu naiv oder zu feige ist, den radikalen Strömungen die Stirn zu bieten.
Viele Jugendliche sind tief verunsichert und eingeschüchtert. 52 Prozent erklären sich einverstanden, dass religiöse Kleidung (Schleier, Niquab, Kopftuch) an den Gymnasien erlaubt sein soll. Freie Forschung wird lebensgefährlich. Der Soziologe Bernard Rougier, der mit der Studie über „Die eroberten Gebiete des Islam“ in Frankreich vor gut einem Jahr bekannt wurde, wird seither bedroht und in den sozialen Netzwerken angegriffen. Dem Orientalist Gilles Kepel, der mit mehreren Büchern auf die Gefahren des Islam auch in Frankreich hinweist, geht es nicht besser, auch er braucht Polizeischutz. Bekannte Professoren wie Alain Finkielkraut werden niedergebrüllt, weil sie jüdischer Abstammung sind. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie zeigt: die Toleranz schwindet, Unsicherheit grassiert.
Ohne Sicherheit keine Freiheit
Die meisten klassischen und heutigen Staatstheoretiker sind sich einig, dass es ohne Sicherheit auch keine Freiheit gibt. Für Thomas Hobbes war die Sicherheit der Bürger sogar die einzige Aufgabe des Staates. Sie ist in der Tat das Fundament jedes freiheitlichen Rechtsstaates. Fehlt sie, macht sich Unbehagen breit. Genau das ist in Frankreich zu beobachten. Der Kulturkampf wird zum politischen Schlachtfeld. Die Folge: Immer mehr Franzosen sind bereit, eine Präsidentin Le Pen zu riskieren, weil sie energischer gegen die radikalen Wucherungen des Islam vorgehen und den wachsenden Wunsch nach Recht und Ordnung überall im Land, auch in den Vorstädten, erfüllen könnte. In zwei repräsentativen Umfragen kommt sie bei der Stichwahl gegen Macron auf 47 und 48 Prozent, Tendenz steigend. Wenn es Macron nicht gelingt, die Sicherheitsfrage, die eng mit der muslimischen Einwanderung und Radikalisierung verknüpft ist, überzeugend zu beantworten, droht seine Wiederwahl zu scheitern. Aber egal wer gewinnt das republikanische Dilemma muss gelöst werden. Sonst kippt die Toleranz in Gewalt um.
Dieser Artikel von Jürgen Liminski erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.