Jedes Land hat die Brandmauer, die es verdient. In Großbritannien konnte Nigel Farages „Reform UK“ trotz beachtlichem Ergebnis – über 14 Prozent aus dem Stand – nur wenige Sitze erringen. Das „First past the post“-System ermöglicht aber zumindest rasche und direkte Erfolge ohne Umschweife bei kommenden Wahlen. In Deutschland wird die Brandmauer – bei Verhältniswahlrecht – in Bund und Ländern durch buntscheckige Koalitionen gebildet. In Frankreich sind es die angeblich „republikanischen Fronten“, die dem nationalen, patriotischen Lager immer wieder einmal den Weg versperrten. Aber wirklich republikanisch kann man solche Fronten eben nicht nennen. Sie sind heute weder im Sinne der Republik mit ihren hehren Werten – noch der Demokratie im engeren Sinne.
Ursprünglich war Macrons Parteienbündnis mit 21 Prozent auf dem dritten Platz gelandet, die Linksfront auf dem zweiten mit 28 Prozent. Doch nun sind beide an Marine Le Pens Rassemblement national (RN) vorbeigezogen. Das ist zunächst eine erstaunliche Manipulation des Endergebnisses, obwohl die Umfragen seit dem Winter genau in diese Richtung eines gestärkten RN wiesen. Die gab es nun übrigens auch, nur nicht im ursprünglich für möglich gehaltenen Maß.
Was es aber gab, war eine erhebliche Stärkung der Linken, und zwar vor allem durch die Hand Macrons. Vom eigentlich zweiten Platz in der Wählergunst sind sie zur größten Fraktion im Parlament geworden, mit letzten Endes 182 Abgeordneten. Dagegen erhalten Rassemblement und Verbündete trotz der Führung im ersten Gang nur 143 Sitze im zweiten. Sogar die schwach gestarteten Macronisten (Ensemble) errangen zuletzt 168 Sitze, also 25 mehr als die Nationalen. Das war die Wirkung des contraorthodoxen Bündnisses zwischen einem entschiedenen Befürworter von Markt und geringeren Staatsausgaben (zumindest pro forma, auf dem Papier der Wahlmanifeste) und einer erzlinken „Volksfront“. Nun liegen Linke und Macronisten gemeinsam über der absoluten Mehrheit, aber eine Regierung haben sie deshalb noch nicht gebildet.
Hollande: Demokratie besteht nicht nur im Verhindern
Der heute abend wieder zum Parlamentarier gewordene Ex-Präsident François Hollande sagte in seiner länglichen Ansprache den kuriosen Satz, dass die Demokratie nicht nur im Verhindern bestehe, man müsse auch Wege öffnen. Aber das war offenbar nur von zweitrangiger Bedeutung gewesen. Zuerst kam das Verhindern. Auch die deutsche SPD stimmt darin zu, in Person des außenpolitischen Sprechers der Bundestagsfraktion Nils Schmid. Der sagte den SPD-normalen Satz: „Das Schlimmste wurde vermieden.“ Gut, dass die SPD weiß, was das Schlimmste ist. Sonst würde sie vielleicht ihren Kompass verlieren. Auch die Grünen – allen voran Fraktionschefinnen Haßelmann und Dröge – schwenken voll auf die Linie der „Neuen Volksfront“ ein, die noch immer vom antisemitischen „Aufsässigen Frankreich“ dominiert wird, bei etwa 84 von 182 Sitzen.
Marine Le Pen habe „keine Aussicht auf eine Regierungsmehrheit“, Präsident Macron sei „politisch geschwächt“ – also alles paletti aus SPD-Sicht. Die Partei wünscht sich nun „Flexibilität und Kompromissfähigkeit der demokratischen Parteien“. Sie verfügt bekanntlich frei über diese Zuschreibung. Und so soll nun das Verhinderungswerk gegen die französischen Wähler erblühen. Aber nun wird eventuell auch das Programm der linken „Volksfront“ Realität. Die fordert unter anderem das Ende des Ukraine-Kriegs, den Macron eigentlich gerne mit eigenen Soldaten unterstützen wollte. Aber die „notwendigen Waffen“ will auch die französische Linke noch schicken, daneben aber UNO-Blauhelme entsenden.
Hollande, der dafür kritisiert wurde, dass er sich für so ein linkes Bündnis hergab, hat mit seinem Satz die Stimmung im linken Lager treffend charakterisiert. Man hatte eigentlich nur etwas verhindern wollen, den sich ankündigenden Wahlsieg des Rassemblement national und seiner neuen Verbündeten, darunter der Republikaner Éric Ciotti und der ehemalige EU-Funktionär, nun EU-Abgeordnete Fabrice Leggeri. Das Rassemblement hat mit diesen Zugesellungen eine erstaunliche Strahlkraft ins bürgerliche Lager bewiesen. Dieselbe zeigte sich auch an prominenten Stimmen aus dem französischen Judentum, um von Éric Zemmour und seiner Partei Reconquête zu schweigen, der seine Pariser Stimmenerfolge (etwa bei den EU-Wahlen) auch dem Judentum der Stadt verdankte. Hier hat das RN vielleicht eine Gelegenheit verpasst, das großstädtische Bürgertum stärker in seine Koalition aufzunehmen.
Mobilisierung und Vereinigung der Gegensätze gelang
Jene Stärkung einer Politik für die Bürger, also gegen eine überbordende Immigration, gegen die ökologistische Knechtung durch Brüssel, in vielem auch gegen eine staatsdirigistische Politik, wie sie für Macron durchaus typisch bleibt, sollte, durfte sich nicht im Parlament widerspiegeln. Durch die Mobilisierung von zuvor trägen, relativ unpolitischen Nichtwählern mithilfe emotional steuernder Botschaften hatte man das Ergebnis des RN schon im ersten Wahlgang um wenige Prozentpunkte unter die Erwartungen gedrückt. Ganz knapp verpassten Marine Le Pen und Jordan Bardella die symbolische 30-Prozent-Marke, übersprangen sie aber gemeinsam mit Éric Ciotti.
In der einen Woche zwischen erstem und zweitem Wahlgang hat dann eine Flut von über 200 zurückgezogenen Kandidaturen den Erfolg der Linksfront- und Macron-Kandidaten begünstigt und jenen der nationalen RN- und Ciotti-Kandidaten gebremst. Heraus kam ein gegenüber dem ersten Wahlgang umgekehrtes Ergebnis, mit dem vielleicht auch die jetzigen Gewinner nicht gerechnet haben. So waren nicht nur Bardella und seine Parteifreunde gedrückt und verdutzt, auch der wie immer keck-präpotente Jean-Luc Mélenchon konnte sein Glück kaum fassen. Und die Macronie war froh, noch einmal dem Henker entkommen zu sein. Der junge Premierminister Gabriel Attal wollte dennoch zurücktreten, was Macron nur zunächst nicht will – und wird dann vermutlich einem linkeren Kandidaten Platz machen.
Vielleicht, und das wäre wirklich eine große Ironie, wird ja sogar ein François Hollande an seine Stelle treten, der als Mentor Macrons in Erinnerung blieb und nun als sein Adlatus wiederkehren könnte. Aber das ist eine weniger harmonische Fabel, als man meinen könnte. Denn Macron und Hollande, das wäre vielleicht ein irgendwie gebremstes Traumpaar. Aber die Realität um sie herum ist eine ganz andere, mit radikal verschiedenen Positionen auf der Linken und der Rechten des einstigen „Mittelblocks“. Die Regierungsbildung wird nicht einfach. So viel ist klar. Attal hatte kurz vor der zweiten Runde von einem Nationalversammlung „im Plural“ gesprochen – wohl mit losen, wechselnden Mehrheiten. Auch das ist nicht sehr französisch.
Die bitter-süße Niederlage des RN
Éric Ciotti, den man einen wahren Patrioten nennen könnte, da er das eigene Parteiinteresse hinter sein Interesse an einer Regierung für das Land gestellt hat, sah gar einen „Putsch“ in diesem Wahlausgang. Macron habe die Macht an die extreme Linke übergeben. Ciotti macht sich derweil „Sorgen um das Frankreich, das ich liebe“, auch das der Kinder.
Für das RN war es eine halbe Niederlage und ein halber Sieg. Nun bleibt es Jordan Bardella erspart, die Kärrnerarbeit des Premierministers für einen Präsidenten Macron zu tun, der am Ende noch davon profitiert hätte. Marine Le Pen sagte, sie sei zu erfahren, um enttäuscht zu sein angesichts einer deutlichen Steigerung ihrer Sitzzahl (um 55 Sitze). Sie glaubt an einen nur „aufgeschobenen Sieg“, der angesichts vieler Wahlkreise mit wachsender RN-Mehrheit eben später kommen werde.
Es kündigt sich an: Auch in Frankreich wird das Rassemblement national mit seinen neuen Verbündeten einen Sieg auf nationaler Ebene hart erkämpfen müssen. Le Point spricht von der „bitter-süßen Niederlage“ des RN. Aber es gibt auch positive Nachrichten für die Nationalen. So wurde der letzte kommunistische Abgeordnete der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur durch einen RN-Mann ersetzt. Auch in der Picardie klagte ein Linker, dass immer mehr Arbeiter das Rassemblement bevorzugen.
Egal ob Sieg oder Niederlage: Frankreich brennt
Am Sonntagabend gab es in allen größeren Städten Frankreich Versammlungen „gegen die extreme Rechte“, und zwar in jedem Fall – egal, ob das RN gewinnt oder verliert. Am Nachmittag verbarrikadierten sich die Ladengeschäfte auf den Champs-Élysées von neuem mit maßgefertigten Sperrholzbrettern. Denn in jedem Fall, egal ob die Linke siegte oder verlor, war eines klar: Frankreich musste brennen.
Auf der Place de la République fanden noch in der Nacht laut Figaro „sehr gewaltsame Zusammenstöße“ zwischen gewalttätigen Demonstranten und Polizei statt. Wie man sieht, brannte das Stadtmobiliar, Projektile seien auf die Sondereinsatzkräfte geworfen worden. Nutzer kommentieren das durchaus treffend: „Wenn die Linke gewinnt, zerschlägt sie alles. Wenn die Linke verliert, zerschlägt sie alles. Die Linke ist das Chaos. Das sind die wahren Faschos!“
Auch in Lyon ähnliche Bilder: Geschäfte und Vitrinen wurden zum Ziel der Antifa. Unvermeidlich muss etwas brennen in diesen Straßenbildern.
Mit Raphaël Arnault aus Avignon ist ein als Gefährder eingestufter Antifa, der im Tweet auch mit Rima Hassan posiert, in die Nationalversammlung gewählt worden, und zwar an Stelle einer Abgeordneten des RN.