Es war der kürzeste Wahlkampf der Fünften Republik, die seit 1958 besteht. Und das Wahrscheinlichste ist, dass er zu keinem definitiven Ergebnis führen wird. 49,3 Millionen Franzosen werden erneut zu den Urnen gerufen. Um 12 Uhr wird erneut – wie schon am letzten Sonntag – von einer sehr hohen Beteiligung berichtet: 26,6 Prozent im Vergleich zu 19 Prozent vor zwei Jahren. Dem zweiten Wahlgang waren umfangreiche Umstellmanöver vor allem zwischen Macron-Bündnis und linken Parteien vorausgegangen. Die Befürchtungen von Macronie und Linksblock, es könne eine absolute Mehrheit für das Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen und Jordan Bardella geben, führte so zu einer massiven Ausdünnung des eigenen Kandidatenfelds – immer im Bestreben, die sogenannten Dreieckswahlen zwischen den drei Hauptpolen („Volksfront“–Macron–RN) zu vermeiden.
Nun sieht alles nach einem Patt aus. Allerdings wird es allem Anschein nach ein anderes Patt sein als das bisher in der Nationalversammlung gesehene. Bisher lag die Macronie mit 245 Sitzen noch nah an der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen und konnte also behaupten, dass eine Mehrheit für ihre Politiken zumindest denkbar war, wenn nur die sturen Republikaner zur Rechten oder die Grünen und Sozialisten zur Linken zustimmten. De facto regierten Macrons Premierminister zuletzt vor allem per Dekret. Nun werden die Mehrheitsverhältnisse wohl unübersichtlicher werden.
Darauf lassen die Stimmenzuwächse sowohl des Rassemblement national (RN) als auch der linken „Neuen Volksfront“ (NFP) im ersten Wahlgang schließen. Das neue Parlament wird vor allem zwischen diesen beiden Gruppen aufgeteilt sein, wobei das RN und seine konservativen Verbündeten den Prognosen zufolge noch immer vorne liegt. Allerdings hat der indirekte Zweite-Runde-Pakt zwischen Linksfront und Macronisten dazu geführt, dass die Zahl der erwarteten Sitze für das RN (plus Verbündete) gesunken ist, von früher bis zu 300 erst auf maximal 250, dann 230. Nun wird gar nur noch ein Wert um die 200 für realistisch gehalten.
Die Macronie scheute nicht vor einem Pakt mit linken Antisemiten zurück
Die linke „Neue Volksfront“ liegt nun knapp dahinter mit 145 bis 195 Sitzen. Diese Prognose für die Linken wurde immer optimistischer, je weiter die erste Runde weg war. Aber es bleiben natürlich Prognosen. Die zurückgezogenen Kandidaturen – per Abmachung zwischen den Fraktionen der macronistischen Koalition „Ensemble“ und den Linken – katapultierte nun auch die bisherige Regierungskoalition von um die 100 Sitze wieder auf bis zu 160 Sitze in der Prognose.
In dutzenden Fällen haben die Kandidaten der Macron-Partei Renaissance, von Modem und Horizons nicht einmal vor einem Pakt mit der linksradikalen, antisemitischen, gar hamas-freundlichen Partei „Aufsässiges Frankreich“ (La France insoumise, LFI) zurückgescheut. Bei den EU-Wahlen wurde mit Rima Hassan eine LFI-Kandidatin aufgestellt und gewählt, die die terroristischen Akte der Hamas gerechtfertigt in einem Online-Interview als „legitime Aktion“ bezeichnet hatte. Auf diese Kandidatin spielte Jordan Bardella (RN) in der Wahlnacht vom 30. Juni (auch) an, als er von Kandidaten auf den Listen der „Neuen Volksfront“ sprach, die „unsere Nation einer existenziellen Gefahr aussetzen“. Die Parteivorsitzende der Grünen, Marine Tondelier, bemerkte, dass der LFI-Kandidat Raphaël Arnault tatsächlich als Antifa in der staatlichen Gefährderdatei (fiche S) geführt sei – „so wie viele Franzosen und vor allem viele Ökologisten“ (Grüne).
Die alte „republikanische Front“ hätte demnach wieder gegriffen – zumindest was die Absichten der politischen Parteien und die Vorhersagen der Meinungsforschungsinstitute angeht. Die Wähler haben die neue Aufstellung noch nicht bewertet, und in der Rückschau zeigt sich, dass sie immer weniger von solchen taktischen Spielchen angezogen werden: 2017 gingen noch 92 von 100 Zweikämpfen für das Rassemblement verloren, 2022 waren es nur noch 54 von 108.
Das Urteil der Wähler wird allerdings durch die veröffentlichten Prognosen vorweggenommen. Diese Prognosen erscheinen – gerade zwischen den beiden Wahlgängen – als äußerst fragwürdig und könnten sich auf das Ergebnis auswirken. Denn in ihnen scheint die Grundannahme zu stecken, dass sich bei einem Kandidatenrennen zwischen RN und einer beliebigen Partei aus dem weiten Spektrum von den mitte-konservativen Republikanern und der linksradikalen „France insoumise“ immer eher das breite, eigentlich unrepublikanische Bündnis durchsetzen wird.
Nun sind das Rassemblement und seine Verbündeten, vor allem die Republikaner aus dem rechtskonservativen Ciotti-Lager, zwar die stärkste Gruppe im Wählerland Frankreich, aber auch sie können von der Schweigespirale und der modern-politischen Cancel-Culture betroffen sein, die auch bei diesen Wahlen wieder aus dem Hut gezaubert wurden.
Weiter Unruhen befürchtet – Darmanin in der Kritik wegen Blédards-Zitat
Für den heutigen Abend befürchten die Behörden noch immer Ausschreitungen und „Ausbrüche“, wie es Gérald Darmanin sagte. Und das werden wohl eher Ausbrüche aus Frustration und Ärger sein, aber vielleicht sogar Freudenausbrüche wegen eines errungenen Siegs. 51 Mal gab es im zurückliegenden Wahlkampf teils schwere Gewalt gegen Kandidaten und ihre Helfer. In dieser Woche planten linke Antifa-Kräfte gar einen Marsch auf das Parlament.
Ein leitender Polizist sagte nun, die Sicherheitskräfte seien in der aktuellen Aufstellung (30.000 Polizisten und Gendarmen im ganzen Land, davon 5.000 im Großraum Paris) auf jede Situation vorbereitet. Vor allem in den sogenannten „sensiblen Vierteln“ glaubt man, dass auch Angriffe auf die Polizei im Fall eines Sieges des Rassemblement national „sehr wahrscheinlich“ seien. Sensibel, das kann offenbar verschiedenes bedeuten: vor allem linksradikal und migrantisch. Man erwartet dann auch eine innerstädtische Gewalteskalation und das Risiko von Spannungen zwischen „antagonistischen Gruppen“.
Derweil hat der Minister Darmanin, der auch als Kandidat zur Wahl steht, ein Zitat dementiert, das immerhin die angesehene Tageszeitung Le Monde verbreitet hat. Demnach hätte Darmanin am Abend der EU-Wahlen, kurz nach der Auflösung des Parlaments gesagt: „Am 7. Juli sind die Nordafrikaner (les blédards) verreist und werden nicht LFI wählen.“ Diese Worte, die er im kleinen Kreis gesagt hätte, sollen also nie gefallen sein, wendet Gérald Moussa Darmanin ein, der selbst einen algerischen Großvater hatte. Das seien Fake-News kurz vor Toresschluss. Das Zitat ist aber noch auf andere Weise trügerisch, zeigt es Darmanin doch als aufrechten Kämpfer gegen Links, wo seine Partei mit LFI auf breitester Front paktiert.
Die Märkte sorgen sich vor allem wegen der Linksfront
Die professionelle Angst der Kundigen vor dem Wirtschaftsprogramm der Partei, die man ja ins Kalkül ziehen kann, dürfte aber nicht zu einem sehr negativen Ergebnis für das RN führen. Denn es ist wahr: Einige Einbußen befürchtet das Stakeholder-Frankreich durch den national-populären Wirtschaftskurs von Le Pen und Bardella. Aber die ökonomischen Auswirkungen, die eine Regierungsbeteiligung der Linksfront hätte, werden als weitaus gravierender bewertet.
Die beste Bewertung aus Sicht der Kapitalmärkte gab es in einer einzelnen Studie für zwei Wahlausgänge: zum einen für die Fortsetzung der derzeitigen Finanzpolitik, wie sehr dieselbe auch auf tönernen Füßen stehen mag (++). Gleich gut schnitt aber ein totaler Stillstand, eine Sackgasse bei der Regierungsbildung ab, die ja immerhin neue Maßnahmen (im Sinne der Franzosen) vermeiden würde (auch ++). Als zweitbeste Möglichkeit gilt eine technokratische Regierung (+), gegen die sich aber 74 Prozent der Franzosen in einer Umfrage aussprachen. Die drittbeste Möglichkeit (=, also gleichbleibend) sind fragile Mehrheiten von Ensemble oder Rassemblement national, danach folgt bereits die Alleinregierung des RN mit einem kleinen Minus. Eine – immer relativ unwahrscheinlich gewesene – Alleinregierung der Linken bekam vier Minuszeichen.
Was nun aber, wenn es zur für Frankreich untypischen „großen Koalition“ kommt, zu der man bisher die Rest-Republikaner zur Rechten und die Sozialisten und Grünen, vielleicht Kommunisten, aber bisher nicht LFI zählen mag? Diese sehr, sehr bunte Koalition erscheint wie ein vergrößerter „Ensemble“-Bund. Aber zuallererst hätte diese Koalition wohl auch keine absolute Mehrheit ohne die Truppen von Jean-Luc Mélenchon. Und dann bestünden doch große Zweifel an ihrer Handlungsfähigkeit gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Mbappé gegen das RN, die Juden (teils) dafür
Natürlich konnten in dieser letzten Wahlkampfwoche die Ermahnungen von Sportgrößen wie Kylian Mbappé und anderen nicht fehlen, man müsse am Sonntag „die Richtigen wählen“. Marine Le Pen meinte dazu: „Die Franzosen haben es satt, belehrt zu werden und sich Wahlanweisungen geben zu lassen.“ Überhaupt werde „diese Tendenz von Schauspielern, Fußballspielern und Sängern, den Franzosen zu sagen, was sie wählen sollen“, im Land immer schlechter aufgenommen.
Und während sich die aktuellen Anführer des Crif, des Zentralrats der französischen Juden, gegen die Wahl sowohl von LFI wie RN ausgesprochen haben, sagte der ehemalige Präsident des Crif (Conseil représentatif des institutions juives de France), Richard Prasquier, dass er sich beim zweiten Wahlgang gegen einen LFI-Kandidaten und für den RN-Kandidaten entscheiden würde, wenn es um die Wahl zwischen den beiden geht. Zuvor hatten schon der Nazi-Jäger Serge Klarsfeld und sein Sohn Arno seine Vorliebe für das Rassemblement bekundet.
Macron: Habe nicht den Verstand verloren
Was werden die Folgen einer weiteren Niederlage Macrons sein, wie immer er selbst dieselbe auch definiert? Der Londoner Telegraph hat von einem früheren engen Berater Macrons gehört, dass sogar ein Rücktritt des Präsidenten denkbar sei. Er würde mit Macrons unstetem, doppelzüngigen Charakter, bestätigt von einem langjährigen Minister unter Macron, zusammenpassen. Auch die Entscheidung für Neuwahlen am Abend der EU-Wahlen sei von niemandem vorausgesehen worden. Und am letzten Sonntag ließ Macron nach einer krachenden Niederlage die Champagnerkorken knallen, aber nur um den Geburtstag eines Freundes zu feiern. Trotzdem sieht man dies fast als Charaktermangel an.
Gegenüber dem Figaro behauptete Macron noch kürzlich, keineswegs den Verstand verloren zu haben. Er denke „nur an Frankreich“. Auffällig war aber sein unkonventioneller Look nach dem jüngsten Wahlgang: In Baseball-Cap und Fliegerjacke am Strand von Le Touquet. Macrons Rücktritt nach einer eventuellen Wahlniederlage hat als erste Marine Le Pen gefordert. Das heißt freilich noch nicht, dass Macron dem nachkommen wird. Eher wird er wohl versuchen, eine Regierung aufzustellen, die dann wiederum vor allem ohne Mehrheit regieren müssen wird.
Nicht verstummen wollen auch die Erklärungen, nun von Macrons Vater Jean-Michel, dass es bei diesen Neuwahlen vor allem um die Einhegung des Rassemblement gegangen sei. „Für Frankreich ist es besser, das RN für zwei als für fünf Jahre zu erleben.“ Doch alle diese Gedankengänge gehen davon aus, dass das Rassemblement heute gewinnen muss, um Frankreich zu regieren. Marine Le Pen und ihr Team dürften auch diese von ihnen geforderten Neuwahlen nur als Etappe auf dem Weg zur Regierungsmacht ansehen.