Der französische Wahlkampf mag in einer ebenso unlösbaren Alternativlosigkeit gefangen sein wie Wahlkämpfe in Deutschland. Aber was es in Frankreich noch zu geben scheint, das ist der direkte Austausch zwischen den Kandidaten, die sich dort direkt um das höchste Staatsamt bewerben, und den Bürgern auf der Straße. Nun mag man viele der Videoclips, die zu diesem Thema im Netz zirkulieren, für schöne Ausschnitte halten, die eine Kampagne oder ein dem Kandidaten gewogener Sender in die Welt gesetzt haben. Aber die Worte und Widerworte dieser „Regierten“ sind ganz real, sie verwickeln die Kandidaten in einen Dialog, in dem die Sorgen und Interessen der Wähler zum Ausdruck kommen.
Es kommt also zu dem Ereignis, das auch ein Townhall-Meeting nach US-amerikanischem Vorbild kaum je herstellen kann. Einige Dinge sind in Erinnerung geblieben, etwa die Rentnerin, die Angela Merkel vorwarf, von der Politik vergessen und verraten zu sein. Oder der junge Krankenpfleger, der bald darauf selbst in der Politik aktiv wurde, dessen Worte aber wohl auch nicht viel an der Malaise im Gesundheitswesen geändert haben.
So, wenn ein in Bedrängnis geratener Emmanuel Macron nun von seinem Haus- und Hofsender BFM TV im Dialog mit einer Bürgerin gezeigt wird, die ihn offen und höflich auf seine McKinsey-Affäre ansprach und etwa kritisierte, dass man in den letzten Jahren ja auch Staatsbeamte abgebaut habe, womit man vielleicht den Bedarf für diese amerikanischen Beratungsfirmen erst geschaffen habe. Macron erwidert geschickt am Rande der Arroganz segelnd, indem er den Argumenten der Dame die Zahlenbasis wegzieht. Vor allem sagt er: Die Nachbarn geben vier- bis fünfmal so viel für Berater aus, eben weil man in Frankreich noch mehr Beamte habe. Im Übrigen weist Macron auf die Folgekosten einer größeren Beamtenschaft hin: Man zahle ein Leben lang für sie, während man bei den Beratern nach dem Prinzip „Heuern und Feuern“ vorgehen könne – immer nur für eine begrenzte „Mission“.
Der Kommentar der Wählerin mag nicht der kritischste gewesen sein, den man sich vorstellen kann. Aber es bleibt dabei, dass Macron sich verteidigen muss. Doch wenn solche Dialoge zu hunderten in einem Land stattfinden, verändern sie dessen Realität – zumindest für die Dauer des Wahlkampfs. Ob sie freilich darüber hinaus prägend wirken können, hängt an der Frage, wie wichtig die Politiker ihr Volk nehmen.
Dass er die Sorgen und Interessen der Bürger ernst nimmt, stand bei einem Kandidaten nicht in Frage. Als Éric Zemmour den Drogenhotspot La Villette im Pariser Gar-nicht-Speckgürtel besuchte, bestürmten ihn die Bürger mit Klagen über das Elend, das sie seit Jahren ertragen müssen, und Unterstützung für die von ihm vorgeschlagene Politik: Verstärkung der Polizei, Abschiebung der ausländischen Straftäter und Drogenhändler, die häufig ohne Papiere im Land sind. Zemmour stellt klar: „Wir sind in Frankreich und müssen uns vor allem um die Franzosen kümmern.“
Die Forderungen Zemmours für die Banlieues wurden an Ort und Stelle bestätigt, als er zum Ziel mehrerer Wurfgeschosse, darunter eine Flasche, wurde. Es folgte eine vorläufige Festnahme. Immerhin, das Polizeirevier befand sich ja auch direkt hinter dem Drogenkiez. Einige der Drogenhändler kommentierten den Besuch mit den Worten: Hier sei nicht der Ort Zemmours, sondern der seines Konkurrenten Mélenchon, der sich öffentlich für das Gesellschaftsmodell Kreolisierung ausgesprochen hatte.
Den Linkssozialisten Jean-Luc Mélenchon kann man dabei noch nicht ganz zu den Akten stecken. Derzeit erreicht er in Umfragen 15 Prozent und liegt damit an dritter Stelle hinter Marine Le Pen. Le Pen trennen derweil in den aktuellen Umfragen nur noch fünf Prozentpunkte von Macron, sollten die beiden es in den zweiten Wahlgang schaffen. Daher wird gemutmaßt, dass die „nationale“ Kandidatin Aussichten auf die Präsidentschaft haben könnte, wenn sie das Wählerpotenzial Mélenchons anzapfen kann. Und dafür hat sie durch soziale Vorschläge in ihrem Programm immerhin Anlass gegeben.
Die Unterstützer Zemmours wiederum glauben, dass sein Stimmenanteil in den Umfragen unterschätzt wird. Sie berufen sich dabei auf die „Bewegung“ hinter dem Kandidaten, die sich auch in den sozialen Medien zeige. Es war sicher ein Blitzstart Zemmours von der Null-Linie aus, doch ob er über zehn oder elf Prozent hinaus führt, wird sich am 10. April zeigen. Übrigens konnte er im Süden des Landes, etwa im Languedoc oder der Provence, höher punkten, nämlich mit bis zu 19 Prozent Stimmenanteil.
Zwischen Marine Le Pen und ihren Anhängern scheint in der Tat schon jene „Harmonie“ zu herrschen, die sie dem Oktagon auch als Präsidentin zurückbringen will. So sieht es jedenfalls auf ihrem Twitter-Konto aus, auf dem vor allem die Jungen Selfies mit der Kandidatin wollen. Daneben kommt sie mit einem Unterstützer überein, dass im französischen Schulwesen viel zu tun sei. Dem Bürger antwortet Le Pen mit einem zweimaligen „D’accord“, bevor sie ihr eigenes Programm anklingen lässt. Eine Politikerin hört Volkes Stimme und trägt sie in den Élysée – das soll die Botschaft dieses Videos sein.