Um 15.35 Uhr trat Michel Barnier an das Rednerpult in der Nationalversammlung, um den versammelten Abgeordneten zu verkünden, dass er zwar immer für den Dialog bereitgestanden habe, aber nun – da sich keine Mehrheit im Parlament finde – den Artikel 49.3 der Verfassung anwenden werde. Die Abgeordneten der Linken und der extremen Linken verließen umgehend den Saal. Mathilde Panot von der Mélenchon-Partei „Aufsässiges Frankreich“ (La France insoumise, LFI) beklagte die „x-te Verweigerung der Demokratie“ durch Macrons diverse Regierungen und kündigte an, einen Misstrauensantrag gegen die Regierung zu stellen. Dieselbe Absicht kommunizierte kurz darauf die Führung des Rassemblement national (RN). Das dürfte das frühe Ende der Regierung Barnier werden. Die nötigen Abstimmungen werden am Mittwoch erwartet.
Beim großen Nachbarn im Westen fand in den letzten Tagen und Wochen einmal mehr eine sehr französische Debatte statt: Die Mitte-rechts-Regierung will verhalten sparen, weiß aber nicht, wie und wo, die linke und die nationale Opposition opponieren fast schon aus Prinzip und wissen wohl auch nicht, wie man es wirklich besser machen kann.
An einem Punkt wollte auch Le Pen sparen
Es ging um den „sensiblen“ Haushalt der Sozialversicherung – der „sozialen Sicherheit“, wie es in Frankreich idealisierend heißt. Finanziert werden dadurch zum Beispiel die Gesundheitskosten, aber auch Rentenzahlungen, Zahlungen an Familien usw. Insgesamt sollen die Kosten im kommenden Jahr bei 662 Milliarden Euro liegen, was ein Zuwachs um 30 Prozent im Vergleich mit 2019 wäre. Finanziert wird all das vor allem durch Mitgliedsbeiträge, aber zunehmend auch durch Steuern. In diesem Jahr lag das Defizit der Sozialversicherung bei 18 Milliarden Euro, im nächsten Jahr soll es dank den Sparmaßnahmen bei 16 Milliarden Euro liegen. Das sieht nicht nach sehr mutigen Einschnitten aus.
Insgesamt wurde der Raum für Michel Barnier immer enger. Er konnte die Abstimmung über sein Haushaltsgesetz verlieren oder das Ende seiner Regierung heraufbeschwören. Er zog es nun vor, das Gesetz per Dekret (ohne Mehrheit im Parlament) durchzusetzen. Derweil glauben laut einer Ipsos-Umfrage nur noch 65 Prozent der Franzosen, dass die Demokratie „unersetzlich“ und „das beste denkbare System“ sei. Sogar 13 Prozent der Macron-Wähler geben hier kein Ja mehr an, beim RN sind es nur 50 Prozent, die zustimmen, wie Le Monde berichtet. Man kann es ein wenig verstehen, wenn ein System so unrund läuft.
Medien und Analysten warnen vor Sturz der Regierung
Für Jordan Bardella, den jungen RN-Parteichef, kann die Regierung Barnier „nicht überleben“, weil sie „die neue politische Lage nicht verinnerlicht“ habe. Die neue (alte) Lage besteht darin, dass diese Regierung von Macrons Gnaden keine eigene Mehrheit im Parlament und damit aus Bardellas Sicht „keine demokratische Legitimität“ besitzt. Verantwortlich dafür sei aber nur der Élysée-Palast, mithin Emmanuel Macron, nicht die parlamentarische Opposition – von der nun Mitarbeit erwartet wird. Das aber ist schwer zu vermitteln, nachdem das Rassemblement bei vielen früheren Gelegenheiten geschnitten wurde.
Befürchtet wird eine Situation parallel jener im Jahre 2010, als vor allem der hoch verschuldete griechische Staat – auch durch eigene Fehler – zum Sündenbock gestempelt wurde, während andere Euro-Länder den Griechen schon damals auf dem Fuße nacheilten. Der Umgang mit Griechenland war nur das Gleichnis auf den gewünschten Umgang der Eurozone mit den Schulden aller problematischen Mitglieder. Seitdem wurden alle Staatsschulden in Euro durch die großzügige Ankaufpolitik der EZB gestützt. Die Euro-Schulden wurden damit zum großen Teil sozialisiert. Die resultierende Inflation belastet auch die deutsche Wirtschaft, ebenso alle anderen in der Eurozone.
Auch Deutschland sägt seit Merkels Zeiten an der Schuldenbremse
Aber das kann nicht ganz überdecken, dass sich auch die Deutschen seit der wiederholten Bestätigung Angela Merkels und ihrer Linksdrall-Koalitionen im Amt und dann durch die Wahl von Olaf Scholz, Robert Habeck und Annalena Baerbock ziemlich bedenkenlos für staatliche Planwirtschaft entschieden haben. Diese Planwirtschaft fraß sich in all den Jahren, ausgehend von der „Energiewende“ über den Automobilmarkt, der angeblich ein E- davor brauchte, zwischendrin auch durch die staatliche Corona-Wirtschaftsstrangulierung, bis hin zum heutigen Energienotstand und der resultierenden massiven Teuerung aller Produkte in die Gesellschaft und namentlich in den deutschen Mittelstand. Die „Energiewende“ nach Fukushima brachte so die meistenteils unfreiwillige „Zeitenwende“ hervor, vor der zahllose deutsche Unternehmen in Gestalt von Pleiten, Pannen und Entlassungswellen stehen.
Dem Hexagon an Atlantik und Mittelmeer ist das staatliche Sparen seit jeher wesensfremd. Wie auch, der Staat ist ja die französische Gesellschaft und inkorporiert sehr wesentlich auch ihre Wirtschaftskraft. Lange sah es so aus, als könne das französische Staatswirtschafts-Modell dem deutschen Mittelstandskonzept ebenbürtig sein, ihm sozusagen auch von den Ergebnissen her das Wasser reichen. Die französische Wirtschaftskraft liegt weiterhin im G7- und G20-Sektor, belegt auch bei den Exporten weltweit den siebten Rang (laut WTO). Allerdings übertrifft auch das Pro-Kopf-Vermögen der Franzosen mit 250.000 Euro jenes der Deutschen, die darin wohl nur bei 230.000 Euro liegen. Sollten die Franzosen mit ihren Töpfen und Schlegeln (gegen Macrons Rentenreform) sich also für den richtigen Weg entschieden haben, die Deutschen aber mit Sparsamkeit und Berechenbarkeit für den falschen Weg?
Deutschland und Frankreich: Vereint im Misstrauen
In jedem Fall naht nicht nur für Michel Barnier der Abgrund der Misstrauensfrage – dasselbe gilt für Olaf Scholz und seine SPD. Zugleich droht auch den EU-Ländern insgesamt der wirtschaftliche Abstieg, wenn sie nicht endlich auf einen Wachstumskurs setzen, anstatt sich auf den eigenen Lorbeeren auszuruhen und weiter zu regulieren. Denn Innovation ist nicht, was man mit der EU-Wirtschaft noch assoziiert. Die neuen „großen Lösungen“ stammen sämtlich aus den USA, aus China oder anderen Staaten. Und die europäischen Wirtschaftsplaner bauen dann mühsam Konkurrenten auf, etwa Airbus, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber im Bereich von „Big Tech“ ist hier – außer Zensurplänen – noch nichts gelungen.
Ein Misstrauensvotum gegen die aktuelle Regierung „würde eine neue Periode der Instabilität und einen weiteren Stillstand der Wirtschaft bedeuten, die schon jetzt auf Sparflamme läuft“, schrieb der Verband der kleinen und mittelgroßen Unternehmen Frankreichs in einer Pressemitteilung – kurz bevor es passierte. „Ein Frankreich ohne Haushalt“ wäre aber laut dem Verband noch schlimmer, würde es doch „die Tür zu einer Schuldenkrise öffnen, deren Folgen die Wirtschaftsakteure mit voller Wucht treffen würden“.
Für Grüne sind Rüstung und Verwaltung auch „Investitionen“
Frankreich ohne (vernünftigen) Haushalt, das ist nur ein Schritt voran im Vergleich zu Deutschland ohne Schuldenbremse. Es liegt noch ein kleiner Unterschied zwischen den beiden Ländern, aber auch der ist relativ und kann mit der Zeit schwinden. Laut Eurostat lag Frankreich im zweiten Quartal 2024 bei einer Verschuldungsquote von 112 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, Deutschland bei 62 Prozent – auch dank vergangener Sparbemühungen. Beide Zahlen sind in den letzten Jahren immer weiter auseinandergegangen. Die deutsche Quote ist seit Jahren im Sinken begriffen, lag 2010 noch bei 82 Prozent. Die französische setzt gerade erst zum Steigflug an, gegenüber den früher geradezu vorbildlichen 85 Prozent (2010) hat man zwischenzeitlich gut 15 Prozentpunkte hinzugewonnen.
Deutschland müsste seine Schulden also verdoppeln, um in französische Gefilde vorzustoßen. Die Auflösung der Schuldenbremse wäre allerdings der erste Schritt dahin. Denn was dann jeweils als „Investitionen“ bezeichnet würde und also von der Regel ausgenommen wäre, unterliegt hochgradig politischen Vorlieben. Annalena Baerbock nennt ja auch Rüstungsausgaben neuerdings „Investitionen in die europäische Sicherheit“.
Schon zuvor hatten die Bundes-Grünen – in Antizipation eines Bundestagswahlkampfs – neben dem Ausbau des Bahnnetzes und dem Aufbau eines „neuen Wasserstoffnetzes“ auch die „Digitalisierung der Verwaltung“ großzügig als „Investition“ definiert. Mit solchen Definitionen und Begriffsgirlanden kann man jede Investitions-Schuldenbremse löchrig schießen.
Darf man Frankreich seine Schulden erlauben?
Aber auch die deutsche ‚Erlaubnis‘ an Frankreich, nichts gegen seinen Schuldenberg von 3,2 Billionen Euro zu tun, kommt einer haushaltsschädigenden Maßnahme für das eigene Land gleich. Die EU liegt im Durchschnitt bei etwa 83 Prozent Schuldenquote, der Euroraum aber bei rund 90 Prozent. Daran zeigt sich schon, dass haushaltspolitisch ernstzunehmende Länder wie Dänemark (24 Prozent) und Schweden (30 Prozent) eben nicht in den Euro eintraten, wohl wissend, warum. Schulden der Euro-Partner kommen via EZB-Politik und Inflation letztlich auch im eigenen Haushalt an.
In Frankreich wird die nächste Prämie wohl am ehesten ein neuer Premier sein, vermutlich wieder ohne eigene Mehrheit. Eine Rettung scheint nicht in Sicht, solange Macron im Élysée sitzt. Und der will noch knapp drei Jahre dort bleiben. Jetzt beginnt nicht etwa eine Diskussion über den Rücktritt des Präsidenten, sondern über gewisse „Vollmachten“, die ihm laut Artikel 16 der Verfassung zustehen. Zuletzt hatte General de Gaulle diesen Artikel während des Putsches seiner Generäle eingesetzt.
Laut Verfassung dürfte der Artikel 16 nur dann zum Einsatz kommen, wenn das Land eine beispiellose Krise durchlebt, etwa aufgrund einer „ernsten und unmittelbaren Bedrohung durch einen Aufstand, der die Unversehrtheit des Staatsgebiets, die Unabhängigkeit der Nation oder die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen Frankreichs in Frage stellen könnte“. Während aber ein Aufstand oder eine Abspaltung vom Staatsgebiet derzeit nicht zu drohen scheinen, könnte Macron die „Unterbrechung der ordnungsgemäßen Funktionsweise der öffentlichen Gewalten“ ins Feld führen. Denn ohne Moos (ohne Haushalt) wäre offenbar auch an dieser Stelle nichts los.