Tichys Einblick
Besänftigen, ohne zurückzuweichen?

Frankreichs Regierung eingeklemmt zwischen dem Ruf nach Ordnung und anhaltendem Protest

Frankreich wird zerrissen vom Protest gegen eine Rentenreform, die viele – auch angesichts der Inflation – als ungerecht empfinden. In Paris und andernorts stehen Demonstranten der Polizei gegenüber. Doch es gibt auch Trittbrettfahrer. Macron will nicht weichen, doch wie will er die Franzosen besänftigen?

Proteste in Paris gegen Rentenreform

IMAGO / NurPhoto

Von einer Epidemie des Mundraubs berichtet Le Monde aus ganz Europa angesichts der galoppierenden Inflation. Dazu gibt es ein Bild aus einem deutschen Supermarkt: Ein Steak mit Sicherungschip. Der Figaro verfolgt die Geschichte der Müllentsorgung in Paris bis zur französischen Revolution zurück – eine moderne Errungenschaft, die durch den inzwischen wochenlangen Streik der Müllmänner verloren zu gehen droht. 7.500 Tonnen des feinsten Pariser Mülls bleiben derzeit uneingesammelt.

Die zehn Tage des Streiks, der Mobilisierungen und Proteste haben das Land getroffen und prägen fast jeden Diskurs. Die Hotelpreise in Paris sollen merklich gesunken sein. Das ist aber noch kein Reisetipp. Am Montagmorgen wurde der Louvre bestreikt. Auf der nationalen Tourismusseite Explore France wurde ein neuer Artikel von vor fünf Tagen schon wieder gelöscht, in dem „acht gute Gründe, im Frühling nach Frankreich zu reisen“ aufgelistet wurden, darunter die „großen Boulevards“ von Paris, die nun weniger idyllisch scheinen. „Die Preise“ würden „fast so mild wie die Temperaturen im April und Mai“, hieß es weiter.

Das Klima hat sich nun deutlich aufgeheizt. Die letzten Tage waren von teils gewaltsam ausartenden Protesten in Paris und anderen Städten geprägt. Der Beschluss über eine Rentenreform, die viele hierzulande als eher zaghaft wahrnehmen mögen, fliegt Emmanuel Macron gerade um die Ohren, mit denen er der Gegenpartei kaum zuhören will. Der Präsident will sich nicht bewegen, obwohl auch in seinem Lager die abwägenden Stimmen zunehmen.

Paris brennt, Bordeaux nicht minder

Die Bilder des brennenden Paris – noch waren es nur Mülltonnen, Barrikaden, hier und da ein Kiosk – gehen um die Welt. Der Besuch des britischen Königs wurde abgesagt, angeblich auf Initiative Macrons: keine Parade auf den Champs-Élysées, keine Tour nach Bordeaux, vor allem kein Dinner in Versailles! Denn das hätte nun wirklich revolutionäre Erinnerungen geweckt. Doch auch in Bordeaux brannte nicht irgendetwas, sondern das Portal des Rathauses. Die Polizei hat fünf Jugendliche, die maskiert und in Schwarz gekleidet waren, teils Drogen- und Kleinkriminelle, vorläufig festgenommen. Alle möglichen Elemente machen sich im Schatten des großen Protestes der Franzosen Luft.

In Paris zeigten sich am Donnerstag wahre Unruhen, als Demonstranten in engen Straßenschluchten auf Polizisten trafen und diese sich kaum noch gegen Knallkörper und Wurfgeschosse durchsetzen konnten. Es war der neunte Tag der Mobilisation gegen die Rentenreform, die Macrons Regierung ohne eigene Mehrheit per Vertrauensfrage durch die Nationalversammlung gepeitscht hatte – bei teils tumultartigen Zuständen schon in der Nationalversammlung, mit dem Absingen der Marseillaise, gegen die sich Premierministerin Borne kaum Gehör verschaffen konnte. In der Folge kam es zu Straßenprotesten in ganz Frankreich, die wiederum vor allem von den linken Parteien der NUPES-Fraktion und den Gewerkschaften getragen wurden. Ist es also der neue „urban chic“, einen Kaffee vor brennenden Barrikaden zu trinken?

Ein Preis ist zu zahlen

Insbesondere in Paris haben die brennenden Mülltonnen, aber auch Attacken auf Kioske und sogar Plünderungen von Geschäften gezeigt, dass ein Preis für den Verlust der öffentlichen Ordnung zu zahlen ist. Auch die Presse ist bemüht, legitime Demonstranten und gewalttätige Randalierer voneinander zu trennen. So gab es laut Parisien am Donnerstag „ungefähr 1.000“ Randalierer in den Reihen der Demonstranten. Innenminister Darmanin sprach von 1.500 Krawallmachern. Auch ein Uhrengeschäft wurde vor den Augen einer Kamera geplündert – während Macron im Fernsehen seine 2.000-Euro-Uhr diskret vom Handgelenk zog, als er sie während eines Interviews zur Rentenreform bemerkte. Der Preis aus dem Tweet dürfte übertrieben sein. In Berlin könnten Olaf Scholz und Christian Lindner derweil auf den Anbau zum Kanzleramt verzichten.

Insgesamt waren laut dem Gewerkschaftsbund CGT allein in Paris 800.000 Menschen auf den Straßen. Die Polizei geht demgegenüber von 119.000 Demonstranten aus.

Von Protesten in ähnlicher Größenordnung wurde aus Marseille berichtet.

Schockierend ist das Bild eines durch ein Wurfgeschoss zu Boden gehenden Polizisten, der bewusstlos fortgeschleppt werden muss. 140 Feuer sollen in Paris entzündet worden sein, insgesamt 149 Polizisten wurden verletzt. Doch sind die Polizisten Ordnungshüter, wie Ex-Premier Jean-Pierre Raffarin sagte, oder Partei im aktuellen Vorstadium eines Bürgerkriegs? Da wird man sich schon weniger einig.

An den Abenden versuchte die Pariser Polizei mit großem Personaleinsatz, die brisante Lage abzumildern, zum Teil auch wieder mit vorläufigen Festnahmen und Geldbußen, gegen die wiederum protestiert wurde. Angeblich werden auch Journalisten an der Berichterstattung gehindert, ob durch blendende Lichter oder eingehende Befragung und Platzverweis.

Der Protest reicht bis tief in die Provinz hinein

Aber der Protest ist mit Sicherheit größer als die urbanen Milieus von Paris. Die Demonstrationen in Marseille und Brandstiftungen in Bordeaux sind nur die Spitze. Auch am Mittelmeer und in den Pyrenäen gibt es Proteste und Blockaden, etwa von Anlagen der Ölwirtschaft in Pau und anderswo.

In einem kleinen Städtchen in den östlichen Pyrenäen wurde Tränengas gegen einen friedlichen Demonstrationszug eingesetzt, an dem auch Kinder teilnahmen. Die Menschen bemerken es, waschen den Kindern die Gesichter mit Wasser aus: „Welche Schande, welche Schande.“ Teilnehmer hatten Angst vor einer Massenpanik, weil sich die Straße verengte.

Als Grund für ihr Vorgehen gibt die Polizei den Angriff von 20 Demonstranten gegen einige Gendarmen an. Nur gegen sie sei das Tränengas eingesetzt worden. Augenzeugen widersprechen: Es seien nicht 20, sondern 200 Personen gewesen, die die Gendarmen aufhalten wollten. Ebenso hätten sie einen Krankenwagen blockiert, so ein Demonstrant namens Brice. Man sieht, auch in der französischen Provinz können die Umstände schnell unübersichtlich werden. Die Wut über die Pariser Entscheidung bewegt die Menschen in ganz Frankreich.

Regierung in der Klemme

Der Regierung Borne blieb bislang kaum etwas anderes übrig als zu dem umstrittenen Mittel des Artikels 49.3 zu greifen, kann sie doch bis heute nicht auf eine sichere eigene Mehrheit zurückgreifen. Von jetzt an will Borne angeblich auf die ausgeleierte Vertrauensfrage verzichten, das heißt, zumindest abseits der Haushaltsfragen. Doch das ist nur eine Reaktion auf den breiten Unmut und der vermutlich vorerst hilflose Versuch, ihn zu mildern, zu beruhigen. Gegenüber den Gewerkschaften, die den Protest auf den Straßen organisieren, hat die einstige Sozialistin sich gesprächsbereit gezeigt. Die Gewerkschaften haben der Regierung einen Brief geschickt, in dem sie begründen, warum sie das Rentenreformgesetz für verfassungswidrig halten. Neben den Streiks und Protesten will man auch juristische Mittel gegen das Gesetz prüfen.

Nun will Macron gemäß dem Parisien zurück „in die Arena“ steigen, um der gesellschaftlichen und der Sicherheitskrise zu begegnen. Es ist der Vortag des zehnten Mobilisierungstages zahlreicher Gewerkschaften gegen die Rentenreform der Regierung, die diese ohne eigene Mehrheit, durch eine Vertrauensfrage durch die Nationalversammlung boxte.

Man muss und kann also sagen, dass Macron die kleine Multi-Krise selbst heraufbeschwor durch sein Regieren ohne funktionierende Kohabitation. Denn auch die Républicains, von denen auch nur etwa zwei Drittel für die Regierung stimmten, konnten bisher zu keinem Koalitions- oder Duldungsvertrag mit Macron bewegt werden.

Zemmour protestiert gegen den Protest

Eine überraschende, wenn auch etwas verklausulierte Unterstützung erhielt Macron nun vom ehemaligen Journalisten Éric Zemmour (nun Vorsitzender der rechtskonservativen Partei Reconquête). Er forderte den Präsidenten auf, die Ordnung wiederherzustellen, nachdem sich vor allem linke Randalierer mit Gewalt gegen die Polizei hervortaten. Man mag das als kleine Minderheit ansehen angesichts hunderttausender Demonstranten allein in Paris.

Doch die Stimmung im konservativen Frankreich scheint sich zu drehen. Zemmour, dem man zumindest ein waches Auge und Ohr unterstellen darf, beklagt die „Straflosigkeit“ der Gewalt, nicht nur durch die Justiz, auch durch die Medien. Ein Phänomen, vergleichbar mit den Black-Lives- Matter-Unruhen könnte sich so wiederholen, weil die linke Presse den Protest gegen die Rentenreform Macrons goutiert, ohne dass sie freilich die Zweitplazierte Marine Le Pen in den Élysée-Palast wünscht. Das ist der innere Zwiespalt in einem Teil des französischen Journalismus.

Zemmour sieht Jean-Luc Mélenchon als Spiritus rector hinter den Protesten, den „verborgenen Imam“ der NUPES, der kein herausgehobenes Amt in der linken Fraktion innehat. Auch das Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen sei zutiefst fasziniert durch die Positionen von NUPES, denen man sich dort „ideologisch unterwirft“. Sogar im Herzen der Républicains gebe es mit Aurélien Pradié den Vertreter eines kämpferischen Sozialismus à la Che Guevara. Zemmour nimmt in diesem Streit also erstaunlicherweise an Macrons Seite Platz: Der Präsident habe nur eine Chance, wenn er standhält. Sonst gebe er sich der Lächerlichkeit preis. Auch bei Neuwahlen könne Macron nichts gewinnen, nur verlieren.

Auch Innenminister Gérald Darmanin führte die Gewalt bei den Protesten vornehmlich auf Ultralinke und Linksextreme zurück, die nicht den Sieg über die Republik davontragen werde. Auch gegen künstliche Wasserbecken, die im Département Deux-Sèvres für die Landwirtschaft errichtet werden sollen, protestierten Umweltaktivisten in gewaltsamer Art. Am Montag wurden mehrere Pariser Universitätsgebäude blockiert. Natürlich sind auch die Studenten Spezialisten in Sachen Dauerprotest. So gibt es allerhand Trittbrettfahrer. Auch Marine Le Pen warnte die Regierung erneut vor den linksextreme Milizen, die sich in Sainte-Soline (Deux-Sévres) Schlachten mit der Polizei liefern.

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