Am Dienstagmorgen wurde ein Umzugswagen vor dem Pariser Bildungsministerium gefilmt. Sehr verdächtig war das, zumal der dort sitzende Minister Gabriel Attal seit dem Vortag als Favorit für die Nachfolge von Élisabeth Borne galt. Am Montag hatte Macrons Premierministerin ihren Rücktritt eingereicht.
Nach knapp 20 Monaten im Amt, die von einer hochgradig umstrittenen Rentenreform und einem nicht minder kontroversen Einwanderungsgesetz geprägt waren, hatte Borne ihr politisches Kapital aufgebraucht. Die vergangenen Schlachten haben Spuren hinterlassen. Die Auswechselung wird so zum sicheren Zeichen, dass es hakt in Macrons Regierungskohorten, zumal nach dem mit den Stimmen von Konservativen und Nationalen beschlossenen Immigrationsgesetz.
Zuletzt wurde Borne als „Madame 49.3“ bezeichnet – nach einem Paragraphen, den sie insgesamt 23 Mal nutzte, um Gesetze per Dekret, also ohne Mehrheit im Parlament zu beschließen. Das verbarg aber nur die Schwäche der macronistischen Regierung, die nicht über eine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt. Es blieb also nur das Regieren per Dekret – oder eine tiefe Verbeugung vor den Konservativen und Nationalen, um ein Einwanderungsgesetz mit vielen Verschärfungen zu beschließen. Das spaltete aber wiederum die eigene Basis im Parlament so sehr, dass ein Minister seinen Hut nahm und dem Gesetz rund 40 Stimmen aus der Macronie fehlten. Als Spätfolge kann auch Bornes Rücktritt gelten.
Aus freien Stücken ging sie dabei nicht, das steht in ihrem Abschiedsschreiben. Sie ging auf Wunsch des Präsidenten, der einen neuen Premierminister ernennen wollte. Mit Bornes Rücktritt hängt auch das Kabinett derzeit in der Luft. Zusammen mit Borne verlieren alle Minister formal ihre Ämter. Vermutlich wird der neue Premier einige von ihnen wieder einstellen, vielleicht aber nicht alle. Letztlich dürfte auch das eine Entscheidung Emmanuel Macrons sein.
Innenminister Gérald Darmanin, der sich schon seit einiger Zeit ins Rampenlicht drängt, betonte umgehend, dass seine „Mission im Innenministerium“ noch nicht beendet sei. Erst am Montag hatte er Zahlen zu den Körperverletzungen im Jahre 2023 herausgegeben. Insgesamt zählt eine Statistikbehörde des Innenministeriums 362.000 Körperverletzungen, also fast tausend jeden Tag. Macron hatte jüngst von der Dezivilisierung gesprochen und Kritik von links für die angeblich rechte Wortwahl geerntet. Der Figaro schreibt nun von der „Verrohung“ der Gesellschaft.
Verbot der Abaya gilt als Politik mit nationalem Siegel
Ein neuer Premier soll nun den nötigen Schwung für die Wahlen zum EU-Parlament mitbringen. Das wusste schon am Montag eine regierungsnahe Quelle. Daneben gehe es um Werte wie „Jugend“ und „Ansehen in der Öffentlichkeit“, die Macron zur Auswahl Attals bewogen hätten. Aber wie weit beides tragen wird, ist noch unsicher. Attal, der erst seit Juli über die Schulen des Landes wachte, konnte sich zwar mit einigen Vorhaben profilieren, besuchte auch umgehend Schulen, an denen es in der einen oder anderen Weise „brannte“. Aber man darf vermuten, dass seine wirkliche Feuertaufe als Politiker der ersten Reihe ihm noch bevorsteht.
Der 34-jährige Gabriel Nissim Attal wird so zum jüngsten französischen Premier aller Zeiten, daneben zum ersten bekennenden Homosexuellen in diesem Amt. Nach der „Feministin“ Borne will Macron nun also die nächste Identitätsgruppe abgrasen, was stets ein Zeichen für eine inhaltlich schwache Politik ist. Erst im November hatte Attal erstmals über seine persönlichen Erfahrungen mit Mobbing während der Schulzeit berichtet, die ihn heute entschiedener gegen das Phänomen vorgehen lassen, das immer mehr um sich zu greifen scheint. Schulen sind in Frankreich zu einem umkämpften Raum geworden. Die Stichworte vom radikalen Islam bis zur Gewaltkriminalität sind bekannt. Zum Abschied von seinem alten Ministerium bekundete Attal den Schulleitern seinen „grenzenlosen Respekt“ und machte deutlich, dass an den Schulen Frankreichs inzwischen sehr dicke Bretter gebohrt werden.
Attals Entscheidungen wurden dabei teils sogar von Vertretern des Rassemblement national (RN) gelobt. So sagte der stellvertretende Parteivorsitzende Louis Aliot, als Bildungsminister habe Attal im Grunde Vorschläge des RN umgesetzt. Hier kann man an das Verbot der Abaya, eines langen Gewandes, das zur Verhüllung muslimischer Frauen dient, an den Schulen denken. Aliot, der zugleich Bürgermeister von Perpignan ist, hat angeblich „nichts gegen den Mann“, immerhin würde Attal auch „schwieriges Terrain“ nicht scheuen. Attals heutige Beliebtheit speise sich aus jenen Entscheidungen, die auch der RN befürwortet. Ob er auch als Premier dabei bleiben werde, ließ Aliot allerdings offen. Trotzdem zeigt sich auch an Attals Akzenten, dass die Zeit, in der man Themen wie Zuwanderung, Religion oder Kultur ignorierte, in Frankreich zu Ende geht.
Steht eine Abkehr vom Macronismus bevor?
Die offiziellen Reaktionen der Parteien auf den neuen Premier fielen aber fast durchgehend harsch aus. Jordan Bardella, Chef des RN, glaubt, dass Macron sich an der Popularität des Ex-Bildungsministers festhalten will, aber eher laufe Attal seinerseits Gefahr, in den Abwärtsstrudel Macrons hineingerissen zu werden. Marine Le Pen, Fraktionschefin der Partei in der Nationalversammlung, schrieb auf der Plattform X: „Was können die Franzosen von diesem vierten Premierminister und der fünften Regierung in sieben Jahren erwarten? Nichts. Sie sind dieses kindischen Balletts der Ambitionen und Egos überdrüssig und erwarten ein Projekt, das sie wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Prioritäten rückt. Dieser Weg zum Wechsel beginnt am 9. Juni.“ Damit spielt Le Pen auf die kommenden Wahlen zum EU-Parlament an, die gemeinhin als Stimmungstest auch für nationale Wahlen in der EU gelten.
Für Éric Zemmour ist klar: „Eine Macronistin wird durch einen Macronisten ersetzt.“ Der Präsident gleiche einem Kreisel, der nie aufhören darf, sich im Kreise zu drehen, sonst würde er fallen. Sogar die konservativen Républicains versprechen zwar eine verantwortungsvolle Oppositionsarbeit in der Sache (Parteichef Éric Ciotti), fordern aber zugleich eine Abkehr vom Macronismus von Attal, die dieser kaum leisten wird. Vor allem fordert Retailleau eine Korrektur bei der Haushaltsführung, eine „Rückkehr der Autorität“ (vermutlich innenpolitisch gemeint) und einen „Wiederaufbau unserer zusammengebrochenen öffentlichen Dienste“, so der Mehrheitsführer im Senat Bruno Retailleau.
Für Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise, LFI) verschwindet mit Attals Berufung die Funktion des Premierministers. Er sieht den jungen Politiker als reinen Sprecher Macrons. Der „präsidentielle Monarch“ könne so allein mit seinem Hofstaat regieren. „Unglücklich das Volk, dessen Fürsten Kinder sind.“ Das Verbot der Abaya wird von Mélenchons Partei übrigens scharf angegriffen.
Daneben fordert Mélenchon eine Vertrauensabstimmung im Parlament, sobald der neue Premierminister benannt ist. Daran werde sich erweisen, ob Frankreich noch eine parlamentarische Demokratie ist. Damit hat der Ultralinke nicht ganz unrecht. Klassischerweise hatten auch in der semipräsidentiellen Republik Frankreich die Regierungen eigene Mehrheiten im Parlament. Nur Macron hat keine solche Mehrheit organisieren können, auch keine Koalition. So richten sich nun auch wieder alle Augen auf den Präsidenten, der weiterhin „das Heft des Handelns“ in der Hand hält. Angeblich will sich Attal nun besonders den „mittleren Klassen“ Frankreichs zuwenden, die das „schlagende Herz“ des Landes seien. Aber das wird nicht allein auf seinem Mist gewachsen sein.
Rechnungshofbericht zur illegalen Zuwanderung zurückgehalten
Einiges Aufsehen erregt derweil auch ein Bericht des nationalen Rechnungshofes zu den Kosten der inneren Sicherheit und der illegalen Migration. Der ehemalige sozialistische Finanzminister Pierre Moscovici, der dem jahrhundertealten Kontrollgremium aktuell vorsitzt, hat die eigentlich für den Dezember geplante Veröffentlichung des Berichts verzögert, um die Abstimmungen über das neue Einwanderungsgesetz nicht zu „beeinträchtigen“. Das pervertiert die Aufgabe des Rechnungshofes, der eigentlich das Parlament bei der Kontrolle der Regierung kontrollieren und die Bürger informieren soll, wie Le Causeur ausführt.
Verspätet rüttelt der Bericht jetzt erst recht seine Leser auf: Ein Hafttag in Frankreich kostet 602 Euro, eine Abschiebung im Durchschnitt 4.414 Euro. Im Kampf gegen die illegale Einwanderung mobilisiert Frankreich ständig 16.000 Polizisten und Soldaten. Daneben schaffen es auch in Frankreich 88 Prozent der ausreisepflichtigen Ausländer, sich dieser Verpflichtung zu entziehen. Die Zahl der illegalen Ausländer auf französischem Territorium ist der Verwaltung ohnehin unbekannt. 40 Prozent der Streitsachen vor Verwaltungsgerichten sind Streitigkeiten mit illegalen Ausländern.
All diese unbequemen Tatsachen sollen ihren Platz weit weg von der Öffentlichkeit finden, so wollte es der Sozialist Moscovici. Und auch in der zukünftigen Arbeit der neuen Regierung sollen sie möglichst keine Rolle spielen. Das scheint schon absehbar. Auch in Frankreich wird man sich auf die Bekämpfung der Symptome beschränken, anstatt die Ursachen der wachsenden sozialen und kriminologischen Probleme anzugehen.