Tichys Einblick
Unruhen in ganz Frankreich

Nanterre: Nach dem Tod eines 17-Jährigen werden 40.000 Polizisten mobilisiert

Nach den tagelangen Krawallen in Folge eines Polizeieinsatzes in Nanterre bei Paris ist das Land auf der Suche nach Beruhigung. Die Parteistimmen machen deutlich, was passiert: Frankreich hat seinen George-Floyd-Moment vielleicht erreicht. Das Opfer der vermeintlichen Polizeigewalt wird heroisiert, der Polizist vorverurteilt.

IMAGO/ABACAPRESS

Der französische Innenminister hat 40.000 Beamte mobilisiert, um der Gewalt auf den Straßen, die nach dem Tod eines 17-Jährigen durch eine Polizeikugel ausbrachen, Herr zu werden. Nach zwei Nächten der öffentlichen Unruhe hielt der Staatsanwalt in Nanterre eine Pressekonferenz ab. Seiner Auffassung zufolge waren die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz der Waffe im Fall Nahel M. nicht gegeben. „Der beschuldigte Polizist wurde wegen vorsätzlicher Tötung an zwei Untersuchungsrichter verwiesen.“ Ist das schon eine Verurteilung? Nein. Aber vielleicht eine Vorverurteilung, die dem französischen Staat nun dabei helfen soll, die Ruhe im Lande wieder herzustellen.

Der Reporter des Staatssenders France 24 sagt es deutlich in die Kamera: „Das ist das, was die Menschen hier erwartet und erhofft haben.“ Schon beginnt auch die Heroisierung des Opfers, das trotz aller Unkorrektheiten stets eine „beispielhafte Haltung“ gezeigt habe, wie Le Parisien schon in der Überschrift erklärt. So habe er Rugby gespielt und an einem Integrationsprogramm mitgewirkt. Rugby als Ausweg, sagte einer, der ihn kannte – aber als Ausweg woraus eigentlich?

Der Polizist – in seiner zehnjährigen Dienstzeit durch mehrere Auszeichnungen geehrt – hatte den Einsatz der Waffe damit begründet, er habe „eine erneute Flucht“ des polizeibekannten Nahel verhindern wollen, vor allem wegen der „Gefährlichkeit seines Fahrstils“. Der 17-Jährige fuhr einen gelben Mercedes mit polnischem Nummernschild. Der Polizist befürchtete konkret, dass eine andere Person angefahren und verletzt werden könnte. Der Jugendliche war schon in vier früheren Fällen durch Nichtbefolgen von polizeilichen Anordnungen aufgefallen und hatte insgesamt 15 Mal mit der Polizei zu tun gehabt, unter anderem wegen Nutzung gefälschter Nummernschilder, Fahren ohne Versicherung, Hehlerei und Drogenhandel. Die Polizeigewerkschaft beklagt, dass sie kaum noch eine Handhabe in Fällen wie diesem besitze.

Polizei musste Stadtviertel teils aufgeben

Zuvor hatte der Staatsanwalt mitgeteilt, dass die Auswertung der Videoaufnahmen die Version der Geschehnisse, die die Polizisten mitgeteilt hatten, bestätigt habe. Die Autopsie des getöteten Jugendlichen habe einen einzelnen Schuss erwiesen, der erst den linken Arm, dann den Brustkorb von links nach rechts durchquert habe. Im Auto des Verstorbenen fanden sich keine Spuren von Alkohol oder anderen Rauschmitteln.

Die Folgen dieses nicht ganz isolierten Vorfalls betrafen nicht allein Nanterre (96.000 Einwohner) im Westen der französischen Hauptstadt, aber auch und zuvörderst. Noch in der zweiten Nacht nach dem Todesfall forderten junge Vermummte im Picasso-Viertel der Großvorstadt zum Straßenkampf auf. „Wir lassen nicht von euch ab! Keine Gerechtigkeit, kein Friede“, rief ein Vermummter mit Black-Lives-Matter-Attitüde. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag setzten sich folglich die Angriffe der Jugendlichen fort, ebenso der Einsatz von Tränengas durch die Polizei.

Laut der Reportage von Figaro mussten die Polizisten das Zentrum der Krawalle in der Pariser Banlieue teils sogar aufgeben. Auch die Feuerwehr kam nicht mehr durch, um Brände zu löschen. Im Gegenteil, Polizeibeamte und Feuerwehrleute wurden angegriffen – wie am vergangenen Silvester an vielen Orten in Deutschland. Das Viertel rund um die Avenue Pablo Picasso ist durch seine futuristischen „Wolkentürme“ auffällig, die hier in den Siebzigerjahren, unweit von La Défense, entstanden. Aus den Fenstern dieser Türme, so heißt es, wurden die Polizeibeamten während ihres Einsatzes mit Hohn und Spott bedacht.

Dutzende Autos wurden auch in dieser Nacht wieder an der Avenue Picasso, einem idyllischen Boulevard mit Bäumen, angezündet. Vermummte Zehnerbanden standen der Polizei mit Wurfgeschossen teils explosiver Natur gegenüber, zogen sich bald auch in den Häuserkampf zurück.

Gewalt gegen Symbole der Republik in den Pariser Banlieues

Die normalen Einwohner des Stadtteils sind angesichts der Vorfälle zwischen Angst und Ungläubigkeit gefangen. Eine junge Frau um die 30 traut sich nicht auf die Straße. Auch ein Automechaniker bekundet seinen „Schiss“, er habe an dem Tag schon zehn abgebrannte „Karren“ einsammeln müssen. Der jungen Frau ist aber auch aufgefallen, dass die Polizei in letzter Zeit härter im Viertel durchgreift. Sie habe Angst um ihren 15-jährigen Bruder, wenn er ausgeht. All das erinnert sie an 2005, als es schon einmal zu tagelangen Krawallen in mehreren französischen Städten gekommen war. Ursache auch damals: der Tod zweier Jugendlicher, die auf der Flucht vor der Polizei den Zaun eines Transformatorenhäuschens überrannten und tödliche Stromschläge erlitten.

Auch in vielen kleineren Orten im Pariser Becken entzündete sich der Funke des Aufstands. So gingen allein vier Busse an verschiedenen Orten in Flammen auf. Andernorts wurde ein Bus gestohlen und durch die Stadt gefahren.

In Évry, südöstlich von Paris (54.000 Einwohner), wurde zudem ein Verwaltungsgebäude angesteckt, und das ortsansässige Kommissariat wurde gegen zwei Uhr nachts von 50 Leuten angegriffen. Ähnlich sah es in Bagnolet im Nordosten der Hauptstadt aus.

Ungezählt sind die brennenden Abfalleimer. Ungefährlich sind die laut einer Quelle des Figaro nicht: Denn so wolle man auch Einsatzkräfte in Hinterhalte locken. Auch eine Polizeiwache in Brétigny-sur-Orge (27.000 Einwohner), weit im Süden, wurde von mehreren Personen angegriffen und geriet teils in Brand. In den benachbarten Ulis (25.000 Bewohner) wurde das Rathaus attackiert, ebenso in L’Île-Saint-Denis. Solche Angriffe werden natürlich sensibel vermerkt. Innenminister Gérald Darmanin sprach von „Gewalt (…) gegen die Symbole der Republik“.

In der Region Île-de-France wurde teils der öffentliche Nahverkehr unterbrochen, ob als Sicherheitsmaßnahme oder aufgrund von erfolgten Beschädigungen.

Praktisch alle Ballungsgebiete betroffen

Allein in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni gab es 27 Festnahmen in Polizeigewahrsam im Département Hauts-de-Seine mit dem Hauptort Nanterre, in der Nacht darauf folgten 39 weitere meist wegen mutwilliger Sachbeschädigung und Gewalttaten. Elf Personen wurden einem Richter vorgeführt.

Auch im 140 Kilometer entfernten Amiens brachen in der Nacht auf Donnerstag Unruhen aus. Eine neu erbaute, noch nicht einmal eingeweihte Mediathek brannte mit fast allem, was sie enthielt, aus. Ein Rathaus wurde vandalisiert, sagte die Bürgermeisterin Brigitte Fouré der Agentur AFP. Auch hier schlugen daneben vermummte Gruppen von einigen dutzend Personen in verschiedenen Vierteln zu. Im Ballungsraum Lille, ebenfalls in einiger Entfernung an der Grenze zu Belgien gelegen, gab es laut einem Bürgermeister erhebliche Beschädigungen. Man sieht in einem Video die Plünderung von Büros und hört höhnische Kommentare über das Rathaus in franko-arabischer Mundart.

Doch auch Städte im Westen und Süden des Landes – darunter Rennes, Toulouse, Lyon, Dijon, Bordeaux und Nizza – waren von Gewaltausbrüchen betroffen. Nun muss der Justizminister Dupond-Moretti mit seinen Besuchen in Institutionen nachkommen, die in diesen Nächten angegriffen wurden. Auf seiner Besuchsliste stehen ein angezündetes Gericht in Asnières und das von außen angegriffene Gefängnis von Fresnes, angeblich mit der Absicht, Gefangene zu befreien. Für den Chef der konservativen Républicains, Éric Ciotti, sind das unerträgliche Tötungsversuche bewaffneter Banden an französischen Polizisten.

Le Pen ordnet ein – Zemmour und Ciotti für Notstand

Marine Le Pen, Fraktionschefin des Rassemblement national (RN) in der Nationalversammlung, zeigte in ihrem Kommentar Weitblick und Erfahrung. Sie beklagte, dass der Tod eines 17-Jährigen natürlich niemanden kalt lassen könne. Zugleich war sie aber auch erstaunt über die Vorverurteilung durch den Präsidenten Emmanuel Macron, der die Justiz nicht ihre Arbeit tun lasse. Die Ermittlungen müssten ergeben, ob es eine Erklärung für das schockierende Geschehen gebe, ob der Polizist vielleicht legitimerweise eine Gefahr habe abwenden müssen. Im Hintergrund erkennt Le Pen das Problem der schwindenden Autorität der Polizei. Die Beamten würden weder respektiert noch ihre Anweisungen befolgt. Die daraus folgenden Undiszipliniertheiten können aber, so die Fraktionsvorsitzende, ernste Konsequenzen haben.

Unterdessen hat der ultrakonservative Parteiführer Éric Zemmour (Reconquête) die Ausrufung des Notstandes, beginnend mit Donnerstagabend, gefordert. Er beklagt – ähnlich wie Le Pen – eine „Unterwerfung“ der Regierung sowie der Linken, die die Kriminellen weiter aufstachelt. „Heute Nacht haben die ausländischen Enklaven wieder einmal gezeigt, wozu sie fähig sind: Unruhen, Angriffe, Brände, Plünderungen, Verwüstung öffentlicher Einrichtungen, die wir seit so vielen Jahren mit Milliarden finanzieren.“

Zemmour hebt auch einen Unterschied im Hintergrund hervor: „Wenn ein Franzose von einem Migranten erstochen wird, heißt es: ‚Keine Videos, das ist illegal und respektlos gegenüber der Familie‘. Wenn der junge Naël von der Polizei erschossen wird, ist es die Pflicht eines jeden, die Bilder zu teilen, damit die Franzosen verstehen.“ Auch würden Beobachter wie er kritisiert, sobald sie auf die Opfer der Migrantengewalt hinweisen. Doch die Krawalle und Angriffe in den Banlieues würden von einflussreichen Medien – teils sicher unbedacht – als „Nacht der Emotion und der Empörung“ präsentiert. Die Polizisten sieht Zemmour als die „großen Opfer“ unserer Einwanderungspolitik.

Der Forderung nach dem Notstand schloss sich auch Éric Ciotti an. Marion Maréchal (Reconquête) forderte überdies eine Ausgangssperre und beklagte die Aufrufe zum Aufstand, die von der radikalen Linken und einigen Berühmtheiten ausgegangen seien. So hatte der Grüne Yannick Jadot (EELV) davon gesprochen, dass es wie 2005 auch heute um ein „tiefes Gefühl von Ungerechtigkeit und Wut“ gehe.

Mélenchon ruft nicht zur Ruhe auf

Auch der Fraktionschef der Partei „Aufsässiges Frankreich“ (LFI), Jean-Luc Mélenchon, verweigerte sich einer republikanischen Front gegen die Unruhestifter: „Die Wachhunde befehlen uns, zur Ruhe aufzurufen. Wir rufen zur Gerechtigkeit auf.“ Mélenchon forderte die Rücknahme der Vorwürfe gegen Nahel und die Suspension des beteiligten Polizisten sowie seines „Komplizen“, der ihm zu schießen befohlen habe.

Der junge Vorsitzende des Rassemblement national (RN) Jordan Bardella warf Mélenchon daraufhin das Entschuldigen von Todesdrohungen gegenüber Polizisten vor sowie einen Aufruf zum Volksaufstand und zur Gewalt auf den Straßen „von seinem Wohnzimmer“ aus.

Macron: Bitte um Einkehr, Respekt und einen Gedenkmarsch

Staatspräsident Emmanuel Macron dankte „allen, die während der Nacht (…) daran gearbeitet haben, die Institutionen der Republik zu schützen und die Ruhe wiederherzustellen“. Er hoffte auf „Einkehr“, Respekt und den Gedenkmarsch. Von nun an sollen „alle Institutionen“ geschützt werden und das Geschehene hinreichend „charakterisiert“ werden.

Damit ist dann wohl ein weiterer Verwaltungsakt des Élysée beendet. Es ist eine Stellungnahme von bemerkenswerter geistiger Ermüdung oder Denkfaulheit. Die naivste von all diesen Aussagen dürfte aber die sein, die an eine dauerhafte Beruhigung der Beteiligten durch einen Gedenkmarsch glaubt. Das Einführen solcher – in der Tat – Unterwerfungsgesten wird die Gewalt in allen kommenden Fällen wohl noch steigern und ermutigen.

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