Nach geschehener Wahl gehen die Dinge in Frankreich schnell ihren Lauf. Am Mittwoch wird die Verkündung des offiziellen Ergebnisses durch den Verfassungsrat erwartet. Zwischen diesem Tag und dem 13. Mai soll der feierliche Amtsantritt Emmanuel Macrons stattfinden. Vielleicht schon davor wird die Benennung eines neuen Premierministers durch Macron erwartet, da Jean Castex sein Amt zur Verfügung stellte. Castex hatte seinen Rücktritt einem „republikanischen Brauch“ zugeschrieben, durch den er dem neuen Präsidenten freie Hand lassen will. Nur bei einem Le-Pen-Sieg wäre Castex angeblich noch länger im Amt geblieben, nämlich bis zur Amtseinführung der dann neuen Präsidentin – warum in diesem Fall der „republikanische Brauch“ nicht zählen sollte, bleibt unklar.
Im Gegensatz zu Lagarde, die Ministerin unter Sarkozy war, war Borne, bevor sie zu Macron stieß, eher mit einem sozialistischen Ticket durch die französische Staatswirtschaft gereist. Im Englischen könnte man sie als „safe pair of hands“ beschreiben, eine Technokratin, die ihre Dossiers kennt. Sie wäre außerdem die erste Linke im Amt des Premierministers unter Macron, der bisher ehemals Konservative für diesen Zweck bevorzugt hat. Daneben kursiert der Name des jungen Landwirtschaftsministers Julien Denormandie, ebenfalls mit sozialistischer Vorgeschichte. Weitere Ex-Sozialisten werden als eher unsichere Möglichkeiten genannt.
Der Zwischenwahlgang namens „Straßenprotest“
Bedeutsam ist die Neubesetzung deshalb, weil neben anderen auch der Erzlinke Jean-Luc Mélenchon schon sehr begierig auf die Parlamentswahlen schaut, die er in Anspielung auf die beiden Runden der Präsidentschaftswahlen den „dritten Wahlgang“ nennt. Mélenchon hofft, bei diesen Wahlen eine linke Mehrheit zu gewinnen, die ihn auch gegen den Willen Macrons zum Premierminister machen und eine neue Kohabitation einleiten würde. Am Wahlabend hatte die Sozialistin und Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal bereits von einer Neuordnung des linken Lagers um eine Zentralfigur Mélenchon herum gesprochen. An Macron gewandt sagte sie: „Es wäre ein schwerer Fehler seinerseits zu glauben, dass er nach dieser Wiederwahl mit derselben Politik weitermachen könne wie die letzten fünf Jahre.“ Sogar den Stimmenzuwachs Le Pens führte die Sozialistin an, um Macron auf seine neue Schwäche hinzuweisen.
Allerdings hängt die Schwäche oder Stärke des wiedergewählten Präsidenten wohl tatsächlich eher vom Ergebnis der Parlamentswahlen ab. Die Kandidaturen in den 577 Wahlkreisen müssen bis zum 20. Mai feststehen. In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter mit absoluter Mehrheit in die Nationalversammlung gewählt. Dazu sind wegen der allfälligen Stichwahlen wiederum zwei Runden nötig.
Neben dem „dritten Wahlgang“ Parlamentswahl wird aber auch ein Zwischenwahlgang namens „Straßenprotest“ erwartet, der schon in der Wahlnacht eingeläutet wurde. Es waren wohl vor allem Gruppen der radikalen Linken, die in Paris und andernorts ihrer Frustration über den erneuten Sieg Macrons freies Spiel ließen. In Lyon stießen Vertreter der überparteilichen Gelbwesten und linke Gruppen mit der Polizei zusammen, wie der Nachrichtensender BFM TV berichtete. Die Nationalpolizei schritt ein, um die Ausschreitungen zu beenden. Auf der Place de la République waren mehr Menschen als gewöhnlich versammelt. Am Châtelet setzte die Polizei Tränengas gegen die Menge ein, die sich dort nach der Verkündung des Macron-Siegs versammelt hatte.
In der Nacht zum Montag eskalierte eine Autokontrolle am Pont Neuf in der Nähe des Eiffelturms, wo Macron seinen Wahlsieg mit Getreuen und Anhängern feierte. Da der zu kontrollierende Wagen nicht anhielt, sondern auf die Polizisten zufuhr, waren diese gezwungen zu schießen. Zwei Insassen wurden so erschossen, ein dritter wurde verletzt. Der Vorfall ist nicht viel weniger erratisch als das Attentat vom Morgen des Wahltags in Nizza, wo ein junger Mann jüdischen Glaubens einen Priester beim Gottesdienst attackiert hatte.
Auch das andere Lager muss sich neu aufstellen
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums will Éric Zemmour mit seiner Partei Reconquête (R!) eine neue Einheit der Rechten bei den kommenden Parlamentswahlen ermöglichen. Er wirbt deshalb nachhaltig um Wahlallianzen mit dem Rassemblement national (RN) und gewogenen Vertretern der konservativen Républicains (LR). Zemmour hatte schon 2017, damals noch als Journalist, die Niederlage Le Pens in der Stichwahl analysiert. Damals stellte er fest, dass die Linkswähler sich entweder enthalten oder den Ex-Investmentbänker gewählt hatten, während die konservativen Wähler von François Fillon nur zu 20 Prozent für Le Pen abgestimmt hätten. Man könne eben nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, lautete Zemmours Fazit.
Aus dieser Überlegung heraus kann man vermutlich auch seine eigene Kandidatur fünf Jahre später verstehen. Zemmours Gedanken, über die auch über Frankreich hinaus zu diskutieren lohnt, lassen sich so zusammenfassen: Die politischen Hemisphären der Linken und der Rechten sieht er als Grundgegebenheiten an, die man vielleicht hier und da auflösen, aber letztlich nicht hintergehen kann. Folglich muss sich jeder Kandidat fragen, welche Hälfte er mobilisieren will. Die Spaltung der französischen Rechten (wie auch der Linken) wird damit zum zentralen Hindernis für ihre Durchsetzung bei den Wahlen.
Das politische Vorhaben Marine Le Pens ordnet Zemmour – an sich wenig überraschend – auf der Rechten ein. Durch ihr Linksblinken verschärfte Marine Le Pen nach ihm die Spaltung der französischen Rechten. Zugleich konnte sie mit dieser Querfront nun zum zweiten Mal keinen Erfolg erzielen. Vielleicht hat der Gedanke Zemmours, es brauche zunächst einmal eine größere Einigkeit rechts der Mitte, doch etwas für sich.
In einigen Départements hat der Lagerwechsel allerdings geklappt: In den Überseeterritorien in der Karibik, an der Spitze Guadeloupe, errang Mélenchon in der ersten Runde seine besten Werte. In der zweiten Runde stimmten seine und Le Pens Wähler aus dem ersten Wahlgang meist geschlossen für die Kandidatin des Rassemblement national. Die Demographie der überseeischen Départements ist dabei durchaus kreolisiert, mit einem hohen Anteil an Afrikanischstämmigen. Vielleicht ist Le Pen also doch nicht die große Rassistin, als die sie hingestellt wird.