Tichys Einblick
Verfassungsrat kassiert Großteil des Gesetzes

Frankreich: Wie Macron trickreich zu einem neuen Immigrationsgesetz kam

Gerade beschlossen, wurde das neue Migrationsgesetz in Frankreich vom Verfassungsrat um ein Drittel gekürzt. Das Vorgehen gleicht einer Verschwörung gegen das Parlament. Tricksen und Täuschen sind auch in Frankreich an die Stelle legitimer Entscheidungen getreten. Die Opposition spricht vom „Staatsstreich gegen das Recht“.

IMAGO

Wo man hinblickt, ist es dasselbe: Die Länder Europas ächzen inzwischen sehr merklich unter der chronischen und akuten Belastung durch neu ankommende und seit Generationen ansässige Migranten. Die öffentliche Meinung dreht gerade in mehr als einem Land. Manchmal reichen die parlamentarischen Mehrheiten des „alten Blocks“ schon nicht mehr aus – wie in Frankreich. So kam ein Kompromissgebilde wie das dortige Immigrationsgesetz auf die Welt. Doch nun wurde das Gebilde vom Verfassungsrat um 35 von 86 Artikeln gekürzt. Mehr als ein Drittel des vom Parlament beschlossenen Textes fiel so weg.

Dem fielen zahlreiche Regelungen zum Opfer, die – so der Verfassungsrat – nichts mit dem ursprünglichen Vorhaben zu tun gehabt hätten. Das scheint als Begründung für die Streichung auszureichen, es gleicht einer Willkürherrschaft privilegierter „Eliten“. Unter den gestrichenen Maßnahmen sind etwa der erschwerte Zugang zu Sozialleistungen für Ausländer und die Erschwerung des Familiennachzugs. Auch die Kaution, die ausländische Studenten für ihre Rückkehr hinterlegen sollten und die laut Emmanuel Macron ohnehin „keine gute Idee“ war, fiel nun durch den von ihm erwirkten Ratsbeschluss weg.

Der Verfassungsrat ist in seiner Funktion als Prüfer von nationalen Gesetzen mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht vergleichbar. Macron hatte ihn unmittelbar nach dem Beschluss des neuen Immigrationsgesetzes angerufen. Die Striche wurden dabei rein formal begründet, verfassungsrechtlich spräche nichts gegen die Artikel, sie stehen laut Verfassungsrat nur im falschen Gesetz! Man kann geradezu von einer Falle Macrons sprechen, in die er die rechts-nationale Opposition gelockt hat, aber auch von einem Taschenspielertrick, mit dem sich der Präsident – ohne eigene Mehrheit im Parlament – über Wasser hält.

Le Pen: Dilettantismus und Täuschung von der Regierung

Die Umgebung des Innenministers erinnerte nun via Le Monde daran, dass Innenminister Darmanin „während der Debatten einundzwanzig Mal gesagt hat, dass diese Bestimmungen unzulässig“ seien und dass sie von der Exekutive nur aus „Kompromissgründen“ akzeptiert worden seien, also nur um sich die Stimmen vor allem der konservativen Abgeordneten und die Enthaltung des RN zu sichern. Im Innenministerium beschwert man sich darüber hinaus auch noch, die Republikaner hätten die „ernsthafte legislative Arbeit“ gescheut, die „es ermöglicht hätte, diese Maßnahmen abzusichern“: „Sie wollten einen Coup landen.“ Und die Regierung offenbar genauso. Die Folgen hat das Land zu tragen.

Marine Le Pen, Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion im Parlament, schreibt in einer Pressemitteilung: https://rassemblementnational.fr/communiques/loi-immigration-la-censure-du-conseil-constitutionnel-donne-raison-au-rassemblement-national „Die sehr weitgehende Zensur von mehr als einem Drittel der Artikel [aus formalen Gründen] widerspricht einerseits dem Geist der Fünften Republik, da der Verfassungsrat das Änderungsrecht äußerst restriktiv auslegt, und ist andererseits ein Beispiel für den Dilettantismus und die Täuschungsabsicht der Regierung.“

Le Pen sieht sich durch das Urteil des Verfassungsrats letztlich sogar bestätigt: Das Misstrauen ihrer Fraktion gegen das macronistische Lager, dem zu allen Zeiten keine striktere Migrationspolitik zuzutrauen sei, sei berechtigt gewesen: „Die Franzosen werden weiterhin den Wahnsinn der Migration erleiden, der Frankreich so sehr schadet.“

Frankreich droht ein Wut-Frühling – auch wegen der Migration

Der Urteilsspruch des Rates fällt so letztlich auf den Präsidenten zurück. Er hat die Änderungsanträge von Republikanern und Nationalen nur deshalb in den Gesetzentwurf aufnehmen lassen, weil er die Unterdrückung durch den Verfassungsrat erwartete. In Frankreich wird also auch weiterhin und bis auf weiteres nur und genau die Immigrationspolitik durchgesetzt, die das macronistische Regierungsbündnis nun auf trickreichen Wegen beschlossen hat.

Schon jetzt haben sich die französischen Bauern – inspiriert von ihren deutschen Kollegen – zu neuen Protesten aufgeschwungen, zum Abladen von Heuballen, Mist und alten Autoreifen vor Ministerien und Präfekturen. Auch Gülle wird bei diesen Gelegenheiten gerne versprüht. Zwei Autobahnen (die A7 und die A9) und die Nationalstraße 118 nach Paris wurden blockiert, daneben viele andere Straßen und Brücken.

Ganz konkret beklagen die französischen Bauern, dass in Spanien Afrikaner die Melonen zu einem Stundenlohn von drei Euro ernten. Das sei unfairer Wettbewerb. Auch die Einfuhr von Zucker und Hähnchen aus der Ukraine wird kritisiert, da dort nicht dieselben Normen gelten wie in der EU. Den Bauern könnten bald andere Berufsgruppen folgen, wie der eher konservativ tickende Figaro https://www.lefigaro.fr/conjoncture/pecheurs-taxis-routiers-la-colere-des-agriculteurs-va-t-elle-s-etendre-a-d-autres-professions-20240125 in Aussicht stellt. Schon haben sich Fischer in Rennes dem Protest angeschlossen, Lastwagenfahrer haben sich an Straßenblockaden beteiligt. Und die große Gewerkschaft CGT hat einen Aufruf an ihre Mitglieder herausgegeben. 89 Prozent der Franzosen unterstützen den Bauernprotest, ebenso wichtige Einzelhandelsverbände, etwa die der Metzger, auch der große Hotellerie-Verband Umih. Den Regierenden in Frankreich könnte ein Wut-Frühling blühen, wegen falscher Entscheidungen in der Wirtschafts-, aber auch der fortgesetzten Immigrationspolitik.

Abgleiten des Rechtsstaats

Doch die Diskussion um das Immigrationsgesetz könnte in Frankreich Folgen über den Tag hinaus haben – etwa für die Verfassung des Landes. Politiker der Republikaner wie des Rassemblement national sehen in der Entscheidung des Verfassungsrates gleichermaßen einen „Putsch der Richter“ gegen das Parlament, so etwa RN-Chef Jordan Bardella, aber auch konservative Politiker – und ehemalige Mitglieder des hohen Gremiums selbst. So fragte der ehemalige Generalsekretär des Verfassungsrats Jean-Éric Schoettl in einem Gastbeitrag für den Figaro: „Kann das Parlament noch Gesetze zur Zuwanderung erlassen?“

Auch Laurent Wauquiez (LR), ehemals Minister unter Sarkozy, nun Präsident der Verwaltungsregion Auvergne-Rhône-Alpes rund um die Metropole Lyon, konstatiert einen „Streich gegen den Rechtsstaat“, einen „coup d’état de droit“ – man könnte auch sagen: einen Staatsstreich mit den Mitteln des formalen Rechts gegen das Recht, wie es eine Mehrheit der Bürger und Parlamentarier sieht. Damit wendet sich Wauquiez gegen eine „dauerhafte und schwerwiegende Blockade unseres Landes“. Er meint damit: Das Parlament hat entschieden, sogar mit Zweidrittelmehrheit, und doch soll sein Beschluss nicht gelten. Im Urteil des Verfassungsrates über das geplante Immigrationsgesetz sieht Wauquiez ein „Abgleiten“, ein Vom-Wege-Abkommen oder gar eine böswillige Irreführung „unserer Demokratie“.

Der genannte „Rechtsstaats-Streich“ habe sich dabei schon „in den letzten Jahrzehnten“ Schritt für Schritt in Frankreich vollzogen. Wauquiez sieht „den Rechtsstaat nicht mehr am Werk“, stattdessen „eine Ideologie, die darin besteht, alle Formen der Autorität, in erster Linie die des Staates, niederzureißen“. Damit zieht er auch die jüngsten Debattenbeiträge des Präsidenten in Zweifel, der sich in blumigen Worten für eine Rückkehr der Autorität ausgesprochen hatte. Der Rechtsstaat sei, so Wauquiez, „vor allem das Recht des Volks darauf, von seinem Staat beschützt zu werden“.

Eine ähnliche Kritik an den Kassationsgerichten der V. Republik hatte schon Éric Zemmour (Gründer der Partei Reconquête!) in seinem Buch „Der Staatsstreich der Richter“ (1997) geübt. Heute, so Zemmour in einem Interview, würden noch immer sozialistische Politiker die großen „Räte“ der Republik führen.

Zwei Gesellschaften in einem Land

Noch einmal mag man ausrufen: Wie sich die Bilder gleichen! In Großbritannien ist eine Woche zuvor das gleiche mit anders verteilten Rollen geschehen. In London teilten sich allerdings Richter des (erst 2005 von Labour eingerichteten) Supreme Court und einige Lords die Rolle derer, die dem Parlament in die Suppe spuckten. In Frankreich ist es der Verfassungsrat, der wie die linke Hand von Präsident Macron erscheint und unter dem Schleier der Rechtsstaatlichkeit parlamentarische Entscheidungen aushebelt und der Lächerlichkeit preisgibt.

Die Regierung gibt sich derweil unerschüttert. Macron ruft dazu auf, das neue Gesetz so schnell wie möglich anwenden lassen. Er will so tun, als sei nichts gewesen und als könnte er mit seinen höheren Lausbubenstreichen durchkommen und langfristig ein Land regieren, es am Ende noch bruchlos an den erwählten Nachfolger Attal übergeben. Doch damit steht es nicht allzu gut, auch wenn das Patt zwischen den drei „Polen“ der französischen Politik noch nicht aufgelöst ist.

In aktuellen Umfragen zu den anstehenden EU-Wahlen sieht es schlecht für die Macron-Partei Renaissance aus: Nur noch 19 Prozent würde ihre Liste laut einer aktuellen Umfrage gewinnen, gegenüber 31 Prozent für die Liste des RN-Chefs Jordan Bardella. Auch im breiteren Feld der Umfragen und bei der nationalen Wahlabsicht sieht es sehr ähnlich aus: Immer liegt der RN (übrigens schon seit dem vergangenen Sommer) deutlich an die Spitze mit um die 30 Prozent, während die Macron-Partei schon fast abgeschlagen bei um die 20 Prozentpunkten liegt – mit sinkender Tendenz. Das Bild könnte nicht eindeutiger sein, und diese Schere öffnet sich weiter. Und ohne die Sozialisten, die sich nach dem Hamas-Angriff auf Israel aus dem Linksbündnis NUPES zurückgezogen haben, ist die Linke gespalten und kann ihre knapp 24 Prozent nicht mehr gemeinsam in die Waagschale werfen. Der Einfluss des RN auf die französische Politik wird damit immer größer. Daneben vermitteln auch die französischen Bauernproteste den Eindruck, dass es in Frankreich zwei Gesellschaften in einem Land gibt.

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