Tichys Einblick
Politischer Prozess gegen eine Partei

Breite Solidarität für Le Pen von ganz links bis rechts

„Vorläufige Vollstreckung“ eines Urteils: Le Pens politische Karriere soll zu Ende sein. Die Reaktionen auf das RN-Urteil zeugen vom schon erwarteten Schock. Der Kreml ätzt, mit der Demokratie in Frankreich sei es nicht mehr weit her. Über ihre Partei hinaus solidarisieren sich nun viele mit Le Pen – von ganz links bis zu engsten Konkurrenten.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Thibault Camus

Nun ist es klar. Das Gericht hat gesprochen: „Es erscheint notwendig, die Nichtwählbarkeitsstrafen mit der vorläufigen Vollstreckung zu verbinden.“ Das Urteil soll also unmittelbar angewandt werden, ungeachtet einer möglichen Berufung Le Pens. Marine Le Pen darf ab sofort und für fünf Jahre nicht mehr bei demokratischen Wahlen antreten. Sollte es dabei bleiben, wäre ihre Kandidatur für die nächste Präsidentschaftswahlen 2028 schon heute ausgeschlossen.

Über 30 Jahre lang hat dieser politische Kampf bisher gedauert. Bei drei Präsidentschaftswahlen trat Le Pen an und gelangte die letzten beiden Male sicher in die zweite Runde. Aktuell versammelt sie in Umfragen ein Drittel der Franzosen auf sich. Dieses Drittel wurde nun aus dem politischen Diskurs ausgesperrt. Erstaunlich auch: Bisher (etwa in Lyon oder im Überseegebiet Mayotte) wurden derlei Bestimmungen vor allem gegen Amtsinhaber eingesetzt, die sich im Amt etwas zuschulden kommen ließen. Es ging nicht um die Verhinderung einer Kandidatur.

Die Vorsitzende der RN-Fraktion in der Nationalversammlung wurde zudem zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, von denen sie zwei Jahre mit einer elektronischen Fußfessel zu Hause absitzen muss. Hinzu kommt eine Geldstrafe von 100.000 Euro. Hinzu kommen zwei Millionen Euro Strafe für den RN. Das sind drakonische Strafen, die eine bedeutende politische Figur betreffen. Und sie gehen zurück auf Vorwürfe aus der Zeit von 2004 bis 2016, also die Partei noch Front national hieß. Kann ein solches Urteil jemals unpolitisch sein? Die Richter reklamieren das für sich. Insbesondere der Reputationsschaden für Le Pen ist gravierend. Am Abend ist Le Pen im Fernsehsender TF1 zum Gespräch eingeladen.

Im EU-Parlament wäre viel an Korruption aufzuräumen

Selbst ausgesprochene politische Gegner wie der Premierminister François Bayrou und der Ex-EU-Kommissar Thierry Breton hatten vor einem Kandidierverbot gegen Le Pen gewarnt. Eine „sehr große Zahl unserer französischen Mitbürger“ würden damit ausgeschlossen. Bayrou erwartete einen „Schock in der öffentlichen Meinung“ als Reaktion auf ein solches Urteil. Auch der Erzlinke Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise) stellte nun fest, die „Entscheidung über die Absetzung eines gewählten Vertreters sollte dem Volk obliegen“. Das kündet von der Bedeutung, die demokratische Verfahren im französischen Volk besitzen.

Jener Schock wird wohl kommen, bereitet sich schon donnergrollend vor. Und die Einschätzungen der Konkurrenten zeigen, dass nicht klar ist, in welche Richtung er sich auswirkt. Eine größere Mobilisierung des RN und eine Solidarisierung weiterer Kräfte aus seinem Umfeld scheint denkbar. Marion Maréchal, politisch von ihrer Tante Marine geschiedene EU-Politikerin, stellt fest: Sie „führte unser Lager auf dem Weg zum Sieg (…) das ist ihre einzige Schuld“.

Aus diesem Grund haben Bayrou und Breton gewarnt. Und natürlich steht auch Bayrou noch ein Berufungsurteil in einer ähnlichen Angelegenheit bevor. In erster Instanz war er letztes Jahr noch straffrei ausgegangen. Dem Parteichef Bayrou (Modem) wurde zugestanden, dass er vielleicht nicht von den Praktiken seiner Fraktion im EU-Parlament wusste. Auch Sarkozys Premier, François Fillon, stand schon wegen ähnlicher Vorwürfe vor Gericht – und wurde freigesprochen.

Vor allem scheint es im selben EU-Parlament noch mehr und andere Praktiken zu geben, die einer Aufklärung harren. Da wäre zum einen der Qatargate-Skandal der Sozialdemokraten, bei dem es um Stimmenkauf für Despotien in Nahost und Nordwestafrika, etwa Marokko und Mauretanien, ging (TE berichtete wiederholt). Aber auch die aktuelle Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (Partit Nazzjonalista, EVP) gibt nicht alle Geschenke an, die sie erhält. Der ehemalige EP-Vizepräsident Rainer Wieland (CDU) ließ sich sein Büro für 490.000 Euro mit neuem Mobiliar und neuester Technik einrichten. Gerade kommt der Verdacht ans Licht, dass auch der chinesische Technologiekonzern Huawei EU-Parlamentarier mutmaßlich bestochen hat.

Reaktionen: „Es ist nicht Sache der Richter, zu entscheiden“

Die russische Regierung reagierte als einer der ersten Akteure, und das mit einem fast schon spöttischen Kommentar. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach von einer „inneren Angelegenheit Frankreichs“, die er dennoch kommentierte: „Immer mehr europäische Hauptstädte“ beschreiten demnach „den Weg der Verletzung demokratischer Normen“. Natürlich ging diesen Bemerkungen die Aufhebung einer Wahl und die Behinderung einer zweiten im EU-Land Rumänien voraus.

Viktor Orbán postete auf X: „Je suis Marine!“ Das ist bemerkenswert, denn Le Pen gehörte bisher nicht zu Orbáns engsten Verbündeten im Parteienbündnis „Patrioten für Europa“.

Jordan Bardella, Chef des Rassemblement national, schreibt auf X: „Heute wurde nicht nur Marine Le Pen zu Unrecht verurteilt: Es ist die französische Demokratie, die hingerichtet wird.“ Der konservative Verbündete von Le Pens Partei, Éric Ciotti, schrieb: „Ist Frankreich noch eine Demokratie?“

Der politische Konkurrent Le Pens, Éric Zemmour (Reconquête), schrieb auf X: „Es ist nicht Sache der Richter, zu entscheiden, für wen das Volk stimmen soll.“ Marine Le Pen sei dazu „legitimiert, sich dem Wahlvolk zu stellen“. Die Politiker hätten der Justiz ohne Not eine derart „exorbitante Macht“ gegeben: „Wir werden alles ändern müssen.“

https://x.com/ZemmourEric/status/1906660372318179353

Verfassungsrat vertrat andere Meinung

Übrigens könnte der Teufel wie so oft im Detail liegen. Erst am Freitag hatte der Verfassungsrat (das stark politisch verflochtene Verfassungsgericht) die Frage der „vorläufigen Vollstreckung“ diskutiert und festgestellt, dass diese Maßnahme keineswegs ergriffen werden muss: Ein Richter kann demnach „in bestimmten Fällen das Strafgesetz außer Kraft setzen, wenn dessen sofortige Anwendung die Freiheit des Wählers beeinträchtigt“ (so der Anwalt und RN-Kandidat Pierre Gentillet vor dem heutigen Urteil in einem Interview mit Valeurs actuelles.

In einem solchen Fall könnte diese Strafe – wie alle anderen auch – ausgesetzt werden. Es gibt also keinen Zwang zur Bestrafung, wie er vom Gericht (ganz oben) als „notwendig“ hingestellt wird. Die Voraussetzungen waren erfüllt, aber die Schlussfolgerung ignoriert die Pariser Tribunals-Kammer. Eines ist klar: Le Pen wird nun um ihrer politische Karriere nicht weniger kämpfen müssen als um ihren Ruf. Auch der Kampf der Nationalen um eine normale Beteiligung an demokratischen Wahlen geht in die nächste Runde.

Marine Le Pen schweigt noch. Ihr ehemaliger Vize Bruno Gollnisch hat bereits angekündigt, in Berufung zu gehen. Das Urteil habe „die extravagante Anklageschrift der Staatsanwälte praktisch kopiert“ und sei aus seiner Sicht inakzeptabel.

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