Tichys Einblick
Innere Sicherheit ruft zur Eile

Auch Frankreich will Zuwanderung begrenzen und Ausländerrecht drastisch verschärfen

"Man darf nicht Franzose werden ohne es zu bemerken." Frankreichs Innenminister Bruno Retailleau will die Zuwanderungsgesetze drastisch verschärfen - bis hin zur Einführung des "Abstammungsrechts", wie es in Deutschland bis zum Jahr 2000 galt: Franzose zu werden setzen französische Eltern voraus.

Frankreichs Innenminister Bruno Retailleau, Paris, 23. Oktober 2024

picture alliance / abaca | Lafargue Raphael/ABACA

Es ist ein symbolischer Akt: Frankreichs Innenminister Bruno Retailleau will die Zuwanderungsgesetze drastisch verschärfen – bis hin zur Einführung des „Abstammungsrechts“, wie es in Deutschland bis zum Jahr 2000 galt: Franzose zu werden setzen französische Eltern voraus. Bislang galt automatisch als Franzose, wer innerhalb der Staats-Grenzen geboren wurde. Zukünftig soll ethnische Herkunft die Vorstellung ersetzen, Zuwanderer aus aller Welt seien einfach zu integrieren und könnten so zu Franzosen gemacht werden.

Bevölkerung hat Vertrauen verloren

Beim konservativen Figaro glaubt man nicht mehr daran, dass die Franzosen ihren Regierenden noch viel Vertrauen schenken. Die Franzosen hören demnach gar nicht mehr hin, was da aus den Pariser Lautsprechern auf sie hernieder prasselt. Sie glauben einfach nicht mehr daran. Der Umgang Emmanuel Macrons mit den Verfassungsorganen Parlament und Regierung wird als fahrlässig, als „russisches Roulette“ gesehen – obwohl das eigentlich nicht ganz so schlimm war. Es gab ernstzunehmende Hinweise darauf, dass der Präsident die relative Mehrheit (also im strengen Sinne: Nicht-Mehrheit) im Parlament verlieren könnte. Und er tat recht daran, das Urteil der Franzosen (gefällt bei den EU-Wahlen) zu überprüfen. Er tat weniger recht daran, den Erfolg des Rassemblement national (RN) mit allen Mitteln zu hintertreiben und dabei mit beliebigen Partnern zu paktieren. Aber so ist die Politik. Macron hat weniger russisches Roulette gespielt als „Grand ohne vier“ (und mit viel Beton).

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Nun hat Frankreich eine Regierung rechts der Mitte, weil im Grunde auch der Wahlausgang bei den nationalen Wahlen noch immer so war, dass nicht die Linke zu einer absoluten Mehrheit gekommen war, sondern ein – ebenfalls inexistenter – Block aus Mitte-, Rechts- und patriotischen Parteien, die das Links-rechts-Schema für sich ablehnen. Die Regierung von Michel Barnier ist eine Minderheitsregierung, die sich „im Geiste“ auf die Unterstützung durch Marine Le Pen einstellt. Von daher rührt die Benennung Bruno Retailleaus als Innenminister, der als Siegelbewahrer des Rechtskonservatismus bei den Républicains gilt.

Emmanuel Macron hat „seinen“ Innenminister nun getroffen. Retailleau sei immer noch der Innenminister Macrons, vielleicht ja sogar für Macron der Innenminister „seiner Wahl“. Aber das weiß man nicht. Retailleau sprach seinerseits von einer „erworbenen Loyalität“, was eher nach Vernunftehe klingt. Das liegt auch nahe, denn der jetzige Innenminister war zuvor als Senator vom Präsidenten sehr enttäuscht worden, namentlich in Sachen der Immigration. Doch das ficht den Minister nicht an. Er will anscheinend für Ergebnisse sorgen, egal unter welchen Konstellationen und Voraussetzungen.

„Man darf nicht mehr Franzose werden, ohne es zu bemerken“

Für Bruno Retailleau hat Zuwanderung keine Vorteile, für Macron schon. Der Innenminister will das im Frühjahr von Macron – mit Hilfe des Verfassungsrats – entkernte und enthauptete Immigrationsgesetz neu einbringen. Zudem muss Retailleau auch die EU-Asylreform mit einem Gesetz umsetzen, so wie Faeser in Deutschland. Vielleicht schreibt er auch ein neues Gesetz für beide Zwecke und bringt noch einiges Neue darin unter. Dabei scheint er es auch auf einige Verschärfungen mehr anzulegen, behält aber noch einiges als Trumpf in der Hinterhand, etwa ein Referendum und eine Verfassungsreform, die sich viele Konservative aus pragmatischen Gründen wünschen.

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Retailleau gibt sich bescheiden: „Ich schlage nichts anderes vor als das, was bereits von der Mehrheit von Gabriel Attal vor einigen Monaten verabschiedet wurde.“ So soll der Gewahrsam für ausreisepflichtige Ausländer ausgedehnt werden, der Familiennachzug und das Territorialprinzip bei der Staatsbürgerschaft (Jus soli) eingeschränkt werden. Das Gegenteil ist das Jus sanguinis, das die Staatsbürgerschaft entsprechend der Abstammung vergibt und in Deutschland lange vorherrschte.

„Man darf nicht mehr Franzose werden, ohne es zu bemerken“, fordert der Minister. Und das hieße, dass kein Kind von Ausländern die französische Staatsbürgerschaft automatisch durch Geburt auf französischem Boden bekäme. Das wäre ein radikaler Schritt für die Republik, die bisher glaubte, Menschen aus allen Erdteilen auf ein und dieselbe französische Identität einschwören zu können. Eine Verfassungsreform, die Teile der Rechten fordern, will Retailleau aber vorerst nicht vorschlagen.

Retailleau hält fest, dass die parlamentarische Mehrheit, die damals für den Gesetzentwurf gestimmt hatte, diesen offensichtlich für „nützlich“ hielt. Außerdem wollen laut einer Umfrage 71 Prozent der Franzosen den Inhalt des Gesetzes. Im Frühjahr hatte der Verfassungsrat große Teile des Gesetzes einfach nur deshalb kassiert, weil die Absicht des Gesetzes nicht die gewesen sei, für die sie Republikaner und Lepenisten gehalten und zu der sie es umgeschrieben hätten. Und so wurden gewisse, an und für sich mögliche Regelungen wieder gestrichen. Man musste und muss das noch immer nicht verstehen.

Gratis-Medizin für Klandestine: Nicht mit Retailleau

Daneben soll die medizinische Versorgung für klandestine, also illegal in Frankreich lebende Migranten gestrichen und das Delikt des illegalen („irregulären“) Aufenthalts wieder eingeführt werden. Frankreich sei dadurch hochgradig attraktiv für Migranten ohne Qualifikation. Das sei sogar einzigartig in der gesamten Welt, sagt Retailleau. „Bestbieter“ nennt Retailleau das. Der Am-besten-Bieter müsste dann allerdings Deutschland sein. Die Abschaffung dieses Gratis-Instituts ist überfällig.

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In der Hinterhand behält der Minister vorerst seine Forderung nach einem Referendum zur illegalen Migration, das er für eines jener Phänomene hält, die „die französische Gesellschaft in den letzten 50 Jahren am meisten erschüttert“ haben, ohne dass die Franzosen jemals dazu befragt worden seien. Diese Aussage stammt erst von Ende September. Laut Retailleau ist die „Immigration keine Chance“. Macron verwies – in Erwiderung auf Retailleau – auf die Polin Marie Curie und die armenischen Vorfahren von Charles Aznavour. Es gebe Millionen Doppelstaatler in Frankreich und mindestens ebenso viele Franzosen mit Migrationshintergrund. Diese Zahlen besagen aber nichts.

Der Trick ist daneben, dass die beiden Politiker von unterschiedlichen Immigrationen sprechen. Die Vorfahren Marie Curies und Aznavours gehörten demselben Kulturkreis wie die Franzosen an. Etwas ganz anderes ist die muslimische Zuwanderung der heutigen Tage, die wegen der Zahlen, aber auch wegen der Eigenheiten der Kultur nicht zur Integration führt.

Abschüssige Bahn bei der Sicherheit hält an

Indes meldet das Magazin Valeurs actuelles, dass ein knappes Drittel der Franzosen heute gegen neue Sozialbauten in der Nähe ihres Viertels sind. Noch nie war dieser Prozentsatz so hoch. Noch 2005 waren es nur elf Prozent, die sich so äußerten. Der Wert hat sich in zwanzig Jahren verdreifacht. Die Jugend stimmt dabei noch kritischer ab: 53 Prozent der 25- bis 34-Jährigen wünschen sich keine neuen Sozialwohnungen in ihrer Nähe.

Weiter geht auch das Prasselfeuer der „vermischten Meldungen“, in denen Schüler ihre Lehrerinnen gängeln, die Polizei in Marseille zunehmend in einen „Blues“ abgleitet, von erwürgten Rentnerinnen und gewaltsam, etwa mit Eisenstangen und Schusswaffen ausgetragenen „Meinungsverschiedenheiten“. Man könnte diese Aufzählung fortsetzen: Eine 17-Jährige aus einem „sensiblen Viertel“ wurde von ihren Eltern „rasiert, verbrüht und geschlagen“, weil sie Kontakt zu Jungen hatte. Die Justiz wird derweil träger und verfolgt weniger Delikte, weil sie sonst nicht hinterherkommt. Noch ist die abschüssige Bahn nicht verlassen. Innenminister Retailleau, der vor allem die „Wiederherstellung der Ordnung“ versprochen hat, wird allein mit diesem Ziel noch länger zu tun haben.

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