Tichys Einblick
Kopftuch, Ehrenmord, Attentate

Gewalt an Frankreichs Schulen: Eine verlorene Generation im Kampf mit sich

Ein junges Mädchen, das sich europäisch kleidet, wird als Ungläubige und Hure angesehen und ins Koma geprügelt, ein Schüler von 15 Jahren zum Opfer eines Ehrenmords. Beides passierte in einer Woche im Umfeld französischer Schulen. Macron fragt, ob es etwas mit den Schulen zu tun hat. Das wohl eher nicht.

Schule in Viry-Châtillon in der südlichen Banlieue von Paris (Essonne), 05.04.2024

picture alliance/dpa/MAXPPP | Lp/Thomas Diquattro

Frankreichs Schulen finden keine Ruhe vor dem kampfbereiten Islam und vor extrem gewalttätigen Jugendlichen, die sich vor allem in den „schwierigen“ Vorstädten tummeln. Eine Serie von Vorfällen hat nun die große Politik erreicht und zwingt auch die Mächtigen zum Hinsehen für Sekunden. Kein halbes Jahr nach dem Mord an Dominique Bernard an einer Schule in Arras sieht man den nächsten Wellenkamm einer Entwicklung, die vermutlich noch lange nicht an ihrem Ende ist. Und auch wenn Emmanuel Macron sich derzeit für wenig anderes als Russland und die Olympischen Spiele interessiert, köchelt diese Suppe weiter auf dem Feuer.

Erst musste der Schulleiter des Schulzentrums Maurice Ravel (20., also letzter Bezirk von Paris) zurücktreten, nachdem er verlangt hatte, dass eine Schülerin ihr Kopftuch ablegt. An französischen Schulen gilt ein Kopftuchverbot, seit letztem Jahr auch ein Verbot des religiösen Gewandes Abaya. Das sind direkte Konsequenzen aus der französischen Republik und ihrer Religionsferne, der Laizität. Doch das Verbot religiöser Kleidung wird unterlaufen, an Schulen ebenso wie an Universitäten. Hier ging es um eine volljährige Berufsschülerin, die sich nicht daran gebunden fühlte.

Der Rektor erhielt laut dem Figaro „zahlreiche Morddrohungen“. In einer internen Mitteilung schrieb er, dass er um seine Sicherheit und um die seiner Schule besorgt sei, sollte er im Amt bleiben. Nach außen wurde sein Rücktritt als vorzeitiger Ruhestand präsentiert.

Michel Onfray: Die Unterwerfung passiert

Es folgten – unverbunden mit der Sache Maurice Ravel – Bombendrohungen, die um die 130 Schulen im ganzen Land betrafen. Die Drohungen kamen über das nationale Informatiksystem der Schulen, manchmal bekräftigt durch ein „Video von großer Gewalt“, ein Enthauptungsvideo, immer dasselbe, verschickt an mehrere Schulen. Der Vorgang erinnert entfernt an die Bombendrohungen gegen deutsche Schulen im vergangenen November – nur das Enthauptungsvideo, das fehlte da noch. Um neun Uhr morgens wurden tausende Schüler, die zum Unterricht erschienen waren, aus Sicherheitsgründen evakuiert. Erziehungsministerin Nicole Belloubet versicherte, dass es kein „massives Datenleck“ in den Computersystemen gebe. Immerhin, kein massives. Aber irgendjemand konnte offenbar mit den Systemen umgehen und mit ihnen spielen.

Der linke, atheistische Philosoph Michel Onfray äußerte die Diagnose: „Der Islam rückt seine Spielfiguren vor, ein bestimmter Typ Islam, und die Republik gibt auf.“ Was Houellebecq in seinem Roman „Soumission“ (deutsch „Unterwerfung“) genau geschildert habe, das vollziehe sich nun Stück für Stück, in kleinen Schritten, ein Weggucken hier, ein bisschen Vor-sich-hin-Pfeifen da. Das werde noch eine Weile so weitergehen, ist sich Onfray schon fast sicher. Von der politischen Führung nimmt er nur „Prahlereien“ und „Humbug“ wahr.

Kurz darauf fiel auch der Presse auf, dass „kein Tag mehr vergeht ohne neue Todesdrohungen“ gegenüber dem Lehrpersonal. In der neuesten Nachricht ging es um eine Lehrerin in Villeneuve-la-Garenne, einer Gemeinde von 25.000 Einwohnern in der nördlichen Pariser Banlieue. Hier wurde eine Lehrerin zum Drohungsziel einer Schülerin. Nach einer nicht weiter bestimmten Uneinigkeit beklagte sich die Schülerin „im Namen des erhabenen Allah“ über das „Ego“ der Lehrerin, die eine „große Schlampe“ (grosse chienne) sei, welche sie „im Namen Allahs“ erschießen werde. Einige wundern sich, dass der aktuelle Fastenmonat Ramadan die Gemüter mancher Muslime so wenig befriedet.

Das europäisch gekleidete Mädchen wird zur Hure gestempelt

Und dann kam allerdings der dritte Akt, der einen Gipfelpunkt, vielleicht eine Peripetie darstellte. Die 13-jährige Samara wurde von einer Gruppe von über 20 jungen Männern – alle minderjährig – geschlagen, zu Boden geworfen und getreten. All das geschah um 16 Uhr vor einem Collège in Montpellier. Vorausgegangen waren andere Belästigungen, über einen längeren Zeitraum. Samara liegt nun im Koma. Drei gefasste Jugendliche gaben zu, auf sie eingeschlagen zu haben. Das zum Opfer gewordene Mädchen trug gewöhnlich keinen Schleier, obwohl sie anscheinend von nordafrikanischen Einwanderern abstammt.

Die Staatsanwaltschaft spricht nicht von der religiösen Dimension der Aggression, wohl aber die Mutter des Mädchens, die in mehreren Medien erzählte: „Samara schminkt sich ein wenig. Und dieses junge Mädchen (das Samara angeblich angegriffen hat) verschleiert sich. Den ganzen Tag lang hat sie sie als kuffar beschimpft, was auf Arabisch ‚Ungläubige‘ bedeutet.“ Tatsächlich soll sich Samara die Haare sogar rot gefärbt haben. „Meine Tochter kleidet sich europäisch. Den ganzen Tag lang wurde sie beleidigt, man nannte sie kahba, was auf Arabisch ‚Hure‘ bedeutet. Es war physisch und psychisch nicht mehr zu ertragen.“ Die Großmutter stellt den Ablauf an Ort und Stelle dar und fragt anklagend, warum keiner der Lehrer etwas gesehen haben will. Aber die können (und wollen) ihre Augen sicher nicht überall haben.

Dritter Akt, zweites Bild: In Viry-Châtillon, einer Stadt von 30.000, in der südlichen Banlieue von Paris (Essonne), wurde ein 15-Jähriger namens Shemseddine in der Nähe seiner Schule krankenhausreif geschlagen. Seine Verletzungen waren lebensgefährlich, und er erlag ihnen am nächsten Tag. Schon vor Jahren gab sich das mediale Establishment ratlos angesichts der maßlosen Gewalt im Département Essonne, das laut Polizeiquellen „viele sensible Viertel“ aufweist.

Im aktuellen Verbrechen wird eine Art „Ehrenmord“ für möglich gehalten, bei dem wiederum eine junge Frau eine Rolle gespielt haben könnte. Vor zwei Jahren hatte Éric Zemmour die Stadt kurzerhand mit Afghanistan verglichen, ebenso die Vororte Roubaix, Trappes, Vitry u.a.m. Nun sagt derselbe Bürgermeister, der sich damals über Zemmours Worte beklagte: „Wir werden uns selbst wieder beibringen müssen, wirklich zu strafen.“ Er hat diese Worte eher geflüstert, als markig angesagt, unter Tränen zudem. Es ist das Eingeständnis eines Scheiterns.

Macron: Schule muss Zufluchtsort vor Gewalt bleiben

Emmanuel Macron ließ sich bei alldem Aufruhr Zeit, reagierte aber schließlich mit den Worten, dass „die Schule“ (im Singular) ein Zufluchtsort vor „einer enthemmten Form der Gewalt unter unseren Jugendlichen“ bleiben müsse. Diese Aussage ist in verschiedener Hinsicht erstaunlich. Für die, die in einer der Banlieues leben oder sie kennen, wird sie surreal anmuten.

Zum einen scheint keineswegs sicher, dass die Schulen Frankreichs heute noch als Schutzort vor der Gewalt Jugendlicher dienen können. Daneben benutzt Macron jenen Begriff „sanctuaire“ (Heiligtum), der aus den USA als Benennung von Städten als „sicherer Hafen“ für Einwanderer (sanctuary) bekannt ist. Zum dritten spricht er von „der Schule“. Es geht aber um viele Schulen, was schon ins Gewicht fällt, wenn man die Institution nicht nur als erhabenes Monument aus der republikanischen Vergangenheit sieht, sondern als etwas Lebendiges, das jeden Tag von neuem bewahrt und verteidigt werden muss.

Zu allem Überfluss stellte Macron die merkwürdige Frage, ob der Mord in der Banlieue mit der Schule zu tun habe. Für ihn als Staatspräsidenten müsste es eigentlich unwesentlich sein, ob die mindestens fahrlässige Tötung nun mit der Schule zu tun hat oder nicht. Es handelt sich um Gewalt, die aus der Gesellschaft kommt, nicht aus der Schule, das sollte auch dem ehemaligen „Mozart der Finanzen“ klar sein. Doch der Präsident dreht die Logik um und versucht so, die Lage technokratisch verwaltbar zu machen: Es könnte „die Schule“ (jener Singular) sein, die dabei versagt hat, aus jugendlichen Schlägern Bürger Frankreichs zu machen. Oder es könnte die Gesellschaft der Eltern sein. Könnten es auch die Politiker sein, die diese Gesellschaft einst importierten?

Bardella und die verlorene Generation

Der selbst noch relativ junge Vorsitzende des Rassemblement, Jordan Bardella, der sich aber noch gut an die Unruhen von 2005 erinnern kann, die sich praktisch „unter seinem Fenster“ in Saint-Denis abspielten, sprach im Interview mit dem Wochenmagazin Causeur nun von einer „verlorenen Generation“, aus denen man vermutlich keine guten Staatsbürger mehr machen könne: „Leute von 17 Jahren, die mit Mörsern auf Polizisten schießen und mit der Radikalisierung oder dem Drogenhandel (oder beidem) flirten, werden morgen nicht beispielhafte französische Bürger werden.“ Bardellas Remedur dagegen besteht aus den Elementen: Grenzschutz, Sozialleistungen nur noch für französische Bürger, eine Geburtenpolitik entlang der „nationalen Priorität“, Asylverfahren nur noch im Herkunftsland, Abschaffung des Geburtsortprinzips (Ius soli).

Für Marine Le Pen ist die Regierung „unfähig zum Schutz unserer Schulen“: Nach den Morden an den Lehrern Samuel Paty und Dominique Bernard durch Islamisten trete ein Schulleiter zurück, der „mit dem Tod bedroht wurde, weil er für die Einhaltung des Laizismus sorgen wollte“.

Inzwischen hat die Mutter Samaras frappierenderweise im Fernsehen bekundet, dass ihre Tochter eine praktizierende Muslimin sei, die fünfmal am Tag bete und den Ramadan befolge. Entweder war also alles noch anders, oder es wird immer unverständlicher, warum sich die muslimischen Jugendlichen untereinander prügeln und umbringen. Für den Medienkommentator Jean Messiha bleiben die Täter im Fall Samara „islamisierter Abschaum“. Vermutlich korrekt deutet Messiha das öffentliche Statement der Mutter als Verbeugung vor der Identitätspolitik und vor der Parallelgesellschaft, der sie letztlich doch angehört, beziehungsweise vor dem Links-Islamismus, der sich in den tonangebenden Medien und der Politik ausbreitet.

Im kleinen Saint-Georges-sur-Baulche (3.200 Einwohner, Département Yonne) wollte ein Schulleiter nun drei verschleierten Frauen den Zutritt zu seiner Schule verweigern. Ihm wurden deshalb Rassismus und Islamophobie vorgeworfen, das allerdings von der radikal-linken Partei La France Insoumise (LFI). Das Rassemblement beklagte, dass auch die vorgesetzte akademische Inspektion die „Autorität des Schulleiters“ nicht gestärkt habe, er wurde dazu gezwungen, sich zu entschuldigen. Man erkennt daran, wie tief der Riss gerade durch das ländliche Frankreich in diesen Fragen sein mag.

Der jüngste Lehrermord und die inoffizielle Sittenpolizei

Vor einem halben Jahr wurde der Lehrer Dominique Bernard (†57) in einer Schule in Arras liegt noch kein halbes Jahr zurück. Bernards Eintreten für die laizistische Republik hatte dem Angreifer, einem Tschetschenen oder Inguschen namens Mohammed Mogouchkov nicht gefallen, der in den Medien als „Nachrücker“ für seinen älteren Bruder präsentiert wird. Der Bruder war wegen der Planung eines Attentats verurteilt worden: Er hatte nichts weniger geplant, als den Élysée-Palast mit Kalaschnikows anzugreifen und sitzt dafür ein. Auch Mohammed Mogouchkov stand in der Terrordatei des Staatsschutzes und wurde observiert.

An jenem Tag im Oktober 2023 kehrte Mogouchkov an seine alte Schule zurück, wollte eventuell seinen Geschichtslehrer oder den Prinzipal ermorden. Sein alter Französischlehrer war ihm ebenso recht. „Dominique Bernard war Lehrer für Französisch, eines der Fächer, in denen man die Leidenschaft, die Liebe und die Verbundenheit mit dem allgemeinen System der Republik, der Demokratie und den Menschenrechten vermittelt“, erklärte Mogouchkov mit erstaunlicher Offenheit in einem Verhör. Diese Werte seien etwas für Ungläubige.

Eine persönliche Fehde mit Bernard gab es nicht. Der verlor sein Leben wegen der Werte, für die er als Lehrer einstand. Die Tat hatte, so Mogouchkov, einen „allgemeinen Anlass“ und war „ein bis drei Wochen im Voraus“ geplant worden. Das Zusammentreffen mit dem Hamas-Angriff war demnach Zufall. Auch ohne den Krieg in Israel wäre ein weiterer Lehrer durch einen islamischen Attentäter gestorben. Drei weitere Personen wurden verletzt. Mogouchkov schonte sie angeblich, um ihren Seelen nicht zu schaden, sie könnten ja noch umkehren oder so in der Art.

Laut Mogouchkov war alles geplant: die zu verwendende Waffe, der Wochentag (Freitag), Ort und Angriffsziel. Das Messerattentat am heiligen Tag des Islams gegen einen Repräsentanten des „Systems der Republik“ sollte eine klare und eindeutige Botschaft aussenden. Es gibt seltsame Erzählungen von Mogouchkovs jüngerem Bruder, der kurz vor dem Attentat bemerkte, dass sein Bruder etwas vorhatte. Angeblich wollte er das Problem dem Vater melden, doch der war nach Russland abgeschoben worden und dann nach Armenien weitergereist.

Neben dieser extremen Figur aus dem zentralasiatischen Islam gibt es laut Beobachtern eine zur Normalität gewordene „Sittenpolizei“ durch die Masse der nordafrikanischen Jugendlichen in den Vorstädten. Sie seien es, die die soziale Kontrolle auch über Online-Plattformen wie TikTok organisieren. 92 Prozent der Franzosen glauben laut einer neuen Umfrage, dass die innere Sicherheit auf dem Rückzug ist. Jeder zweite war schon Opfer eines Angriffs oder eines Diebstahls. 83 Prozent sehen die „sensiblen Viertel“ als primären Ort der Unsicherheit, 65 Prozent den öffentlichen Verkehr, 61 Prozent die großen Städte.

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