Tichys Einblick
Aufstand in den Vororten

Frankreichs gescheiterte Integrationspolitik

Der Aufstand der Banlieues ist vielschichtig: Ein Versagen der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik Frankreichs bedingt und verstärkt ein Integrationsversagen in jenen, die am Rande der Gesellschaft leben.

IMAGO / ABACAPRESS

Vor gut 20 Jahren erschien in Frankreich ein Sammelband mit dem bezeichnenden Titel „Die verlorenen Territorien der Republik“. Herausgeber war ein französischer Historiker, der aus Marokko stammt, Georges Bensoussan. Bensoussan zog es damals freilich vor, unter einem Decknamen aufzutreten. Es war schon vor 20 Jahren gefährlich, offen über bestimmte Probleme zu sprechen, die mit der Immigration zusammenhängen. Der Sammelband zog eine weitgehend negative Bilanz der massenhaften Armutsmigration aus Nordafrika, die Frankreich seit den 1970er Jahren tiefgreifend verändert hat.

In den Vorstädten der größeren Städte, die mehr oder weniger zu Ghetto-ähnlichen Stadtteilen geworden sind, so konstatierten die Autoren, herrschten hohe Kriminalität, Antisemitismus und eine Stimmung der Feindseligkeit gegenüber dem französischen Staat und der einheimischen Bevölkerung des Landes vor, ein Phänomen, das sich besonders auch an den Schulen manifestiere. Auch wenn linke Autoren diese Analyse wutentbrannt zurückwiesen, kann man an ihrem Realismus kaum zweifeln. Die Spannungen zwischen jüngeren Immigranten der zweiten oder dritten Generation und der Polizei, die in den vergangenen Tagen erneut eskaliert sind, sind durch diese Problemlage weitgehend mitbedingt. Junge Franzosen nordafrikanischer oder generell afrikanischer Herkunft aus den einkommensschwachen Vorstädten oder Hochhaussiedlungen sehen in der Polizei oft ihren Feind und die Polizei tendiert ihrerseits dahin, bestimmte ethnische Gruppen mit Argwohn zu betrachten. Sie reagiert dann schnell zu hart, wie es auch bei der Straßenkontrolle geschah, bei der jetzt ein 17-Jähriger in Nanterre erschossen wurde – aus eigentlich eher nichtigem Anlass.

Solche Vorfälle können dann leicht einen regelrechten Aufstand mit bürgerkriegsähnlichen Unruhen auslösen, wie es auch jetzt geschehen ist. Faktisch muss man konstatieren: Die Integration der Immigranten aus Nordafrika ist in großem Umfang gescheitert. Sicher, fairerweise muss man konzedieren, dass es mittlerweile immer mehr Rechtsanwälte, Krankenschwestern oder eben auch loyale Soldaten oder Finanzbeamte mit einem Migrationshintergrund gibt, das kann man als Erfolgsgeschichte sehen. Aber die Zahl derjenigen, die den sozialen Aufstieg nicht schaffen und am Rande der französischen Gesellschaft leben und sich im Konflikt mit ihr sehen, bleibt dennoch sehr groß.

Arbeits- und Bildungspolitik als Integrationshindernis

Warum das so ist, darüber sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Ein wichtiger Punkt ist sicherlich die französische Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitnehmern, die bereits eine Stelle haben, einen sehr hohen Kündigungsschutz gewährt, gerade deshalb aber Arbeitgeber zögern lässt, Bewerber einzustellen, deren Leistungsfähigkeit und Leistungswille schwer einzuschätzen sind. Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich ist daher recht hoch, sie liegt auch jetzt noch bei rund 17 Prozent (sehr viel höher als in Deutschland oder Großbritannien) und in den Immigrantenvierteln, die von diesem Problem besonders stark betroffen sind, dürften die Zahlen noch deutlich höher sein; 2019 lag sie in einigen Vororten bei bis zu 40 Prozent. Hier hat sich zwar die Lage auch dank diverser Reformen, die Macron angestoßen hat, etwas gebessert, aber offenbar nicht ausreichend, um die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte wirklich zu korrigieren.

Wenig hilfreich ist auch das französische Bildungssystem, das noch mehr als anderswo in Europa fast ausschließlich den Wert der akademischen Bildung betont. Wer es nicht an eine Universität schafft, der wird daher schnell als Versager angesehen, auch wenn er oder sie andere Fähigkeiten besitzen, und auch davon sind sicher Jugendliche mit Migrationshintergrund überproportional betroffen. Viele Jugendliche aus diesem Milieu reagieren auf diese Erfahrung des relativen Scheiterns, indem sie ihre eigene, eben nicht-französische Identität (obwohl sie meist gut Französisch sprechen und auch die Staatsbürgerschaft besitzen) betonen – in einer Mischung aus Minderwertigkeitsgefühl und Überlegenheitsanspruch gegenüber der vermeintlich dekadenten französischen Gesellschaft, von der sie sich ausgeschlossen fühlen.

Hinzu kommen sicher andere Faktoren, wie ein kulturell zementiertes Ideal aggressiver Männlichkeit, für das die Idee der Ehre zentral ist. Überdies, so hat es vor kurzem noch einmal Bensoussan formuliert, trifft in den Vororten eine „Gesellschaft der Cousins“ für die Verwandtschaftsbindungen von überragender Bedeutung sind, auf eine stark individualisierte Gesellschaft der Bürger, der citoyens; Kulturkonflikte sind bei dieser Konfrontation fast unvermeidlich; ein Punkt, den Advokaten einer unbegrenzten Masseneinwanderung wie Frau Monika Schnitzer, die bekannte Wirtschaftsweise hier in Deutschland, gern übersehen.

Die umstrittene Rolle des Islam

Für die Jugendlichen, die sich von der französischen Gesellschaft, abgrenzen wollen, um so ihren Stolz auf ihr Anderssein auszudrücken, bietet überdies oft ein anti-westlich ausgerichteter Islam ein attraktives Identifikationsangebot, vertieft dann aber seinerseits die Gräben zwischen der Mehrheitsgesellschaft der „Ungläubigen“ und dem Milieu der Immigranten. Wenige der Jugendlichen in den Immigrantenvierteln dürften dabei wirklich das Leben eines frommen muslimischem Gläubigen führen, und die zahlreichen Kleinkriminellen und Drogendealer natürlich zuallerletzt. Aber der Islam bietet eben die Chance der kulturellen Abgrenzung, die allerdings in vielen Fällen mit einer gewissen Schizophrenie verbunden ist, weil man in Wirklichkeit eben doch schon halb assimiliert ist, eine Schizophrenie, die sich zum Teil auch in den nordafrikanischen Heimatländern der Immigranten findet, wo zumindest die Eliten bis heute stark durch die französische Kultur geprägt sind.

In jedem Fall bringen die Immigranten auch noch in späteren Generationen die Probleme ihrer Heimatländer mit nach Frankreich, und hier macht es sich bemerkbar, dass in Nordafrika in den letzten Jahrzehnten besonders aggressive und fundamentalistische Varianten des Islam an Einfluss gewonnen haben. Besonders gilt das für Algerien, wo es in den 1990er Jahren zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der Regierung und den Islamisten kam. Zwar hat sich die Lage in Nordafrika für den Moment stabilisiert, aber unter der Oberfläche glimmt das Feuer des religiösen Fanatismus weiter. Das Problem dabei ist, dass auch der Mainstream-Islam, der Gewalt ablehnt und moderater auftritt, oft kein kritisches Verhältnis zu seiner eigenen Geschichte entwickelt hat. Sicher, auch bei den christlichen Kirchen hat es lange gedauert, bis man sich ernsthaft mit der eigenen Gewaltgeschichte auseinandersetzte. Erst eine Verbindung aus protestantischem Spiritualismus, Aufklärung und Säkularisierung haben diesen Prozess vorangebracht.

Aber eine ähnliche Selbstkritik ist im Islam bis heute selten. Die großen Eroberungszüge der Frühzeit und später die gewaltsame Expansion des Osmanischen Reiches, sowie die Politik der islamischen Großreiche, die Juden und Christen zwar oft duldeten, aber als zweitklassige Untertanen behandelten, werden bis heute meist undifferenziert als große Erfolge gefeiert. Muslimische Aufklärer, die sich mit Themen wie der Diskriminierung der Juden im Islam beschäftigen, wie es jüngst der Freiburger Theologe und Religionswissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi getan hat (Die Juden im Koran, 2023), sind einstweilen die große Ausnahme. Das gilt im Prinzip auch für den Islam in Frankreich, auch wenn es durchaus muslimische Intellektuelle gibt, die sich auch hier um einen liberalen, modernen Islam bemühen. Aber sie erreichen mit ihrer Botschaft am ehesten die Gebildeten, nicht die Bevölkerung der Vorstädte.

Erschwerend kommt hinzu, dass die in Frankreich unter ihrem Anführer Mélenchon durchaus einflussreiche radikale Linke im anti-westlichen Islam einen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung sieht. Von daher überrascht es auch nicht, dass diese Linke die Unruhen in den Vororten in den vergangenen Tagen noch versuchte anzufachen, und generell die Schuld an allen Konflikten immer nur und ausschließlich beim französischen Staat und dessen Repräsentanten respektive bei den „ rassistischen Weißen“ sucht; eine einseitige Sicht der Dinge, die mutatis mutandis freilich auch in Deutschland im gegenwärtigen Regierungslager und sogar in Teilen der CDU viele Anhänger gewonnen hat.

Wie sieht die Zukunft aus?

Mittlerweile sind die Unruhen abgeflaut, aber die Probleme der gescheiterten Integration bleiben natürlich. Was wäre zu tun? Zum einen müsste die EU versuchen, die massive Armutszuwanderung, die weiter auf Europa zurollt, einzuschränken, da sonst die Lage immer weiter eskalieren wird, wie man an Städten wie Marseille, das zunehmend in säuberlich getrennte gated communities einerseits und No-Go-Areas in den Vorstädten und manchen Bezirken des Zentrums andererseits, zerfällt, sehen kann. Allerdings zeichnet sich hier trotz vieler Ankündigungen keine grundsätzliche Wende zum Besseren ab. Die Uneinigkeit unter den Mitgliedsstaaten, eine Rechtsprechung nach dem Muster fiat iustitia pereat mundus, aber auch die technischen Probleme, die sich etwa aus dem Versuch ergeben, die enorm langen Seegrenzen der EU zu kontrollieren, lassen wenig Hoffnung auf eine Wende zum Besseren.

Zum zweiten wäre es für ein Land wie Frankreich, das durch eine so starke unkontrollierte Immigration geprägt ist, wichtig, einen großen und offenen Niedriglohnsektor für Arbeitssuchende mit eher geringer Qualifikation bereitzuhalten, wie das in Großbritannien etwa der Fall ist. Das löst keineswegs alle Probleme, macht es aber leichter, sie zu kanalisieren und würde vermutlich auch die Kriminalität senken. Ein gelockerter Kündigungsschutz und eine Senkung des Mindestlohns können hier hilfreich sein, und Macron denkt wohl in diese Richtung und hat einige Reformen auf den Weg gebracht. Durchsetzbar ist das angesichts der Macht der Gewerkschaften aber allenfalls in homöopathischen Dosen.

Schließlich müsste man sich viel stärker mit der „fünften Kolonne“ in den eigenen Reihen beschäftigen. Wenn die Probleme in Europa sich immer weiter zuspitzen, dann liegt das auch an jener „hesperophoben“ (den Westen verachtenden) Linken, die mit Hilfe einer ungebremsten Immigration und gestützt auf einen aggressiven Islam, das kulturelle Erbe der europäischen Geschichte bei Seite drängen und einen revolutionären Wandel der Gesellschaft herbeiführen will. Diese Linke ist in Frankreich stark und manifestiert sich dort in einem spezifischen „islamo-gauchisme“ (eine Verbindung pro-islamischer und linker Einstellungen), der keineswegs ungefährlich ist, zumal er sich auch gegen liberale Muslime oder eher säkular denkende Immigranten richtet, in denen man die schlimmsten Feinde der vermeintlichen Emanzipation der Unterdrückten und einer revolutionären Erneuerung sieht.

In Frankreich kommt oft noch ein gewisser Antisemitismus hinzu, weil man in französischen Juden wie Alain Finkielkraut oder eben auch Bensoussan die entschlossensten Verteidiger der westlichen Kultur, des Laizismus und des verhassten Erbes der Aufklärung zu erkennen glaubt (vom instinktiven Antisemitismus, der ein bestimmtes migrantisches Milieu oft ohnehin prägt, einmal abgesehen), während Israel aus dieser Perspektive vor allem eine westliche Kolonialmacht ist. Der Einfluss dieser linken anti-westlichen Kräfte im kulturellen Leben und an den Universitäten muss in einer offenen intellektuellen Auseinandersetzung zurückgedrängt werden, wenn man ein Minimum gesellschaftlicher Stabilität bewahren will. Aber optimistisch kann man auch an dieser Front nicht sein, und so werden die Unruhen der letzten Tage wohl nur der Auftakt für weitere Eskalationen sein.

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